Читать книгу Ein Traum von Freiheit - Thomas Flanagan - Страница 18
Killala, 8. August
Оглавление»Du hast das schon alles richtig verstanden, Ferdy«, sagte MacCarthy. »Aber wir haben es hier mit einem großen Gedicht zu tun und nicht mit einem Pacht- oder Kaufvertrag. Laß uns alles noch einmal durchgehen.«
Sie saßen nebeneinander an dem niedrigen, groben Tisch in O’Donnells Küche, die offene Ovidausgabe lag zwischen ihnen, ihr Einband war lose und die Seiten vergilbt.
»Wir fangen noch einmal an«, sagte er geduldig. »Inde per immensum ventis ...« Die Worte hallten in seinem Kopf wider, Klänge so reif und mächtig wie Glockenschläge.
Inde per immensum ventis discordibus actus nunc huc, nunc illuc exemplo nubis aquosae fertur et ex alto seductas aethere longe despectat terras totumque supervolat orbem.
Er ließ seine Augen über die vertraute Seite gleiten. Dieser kunstfertige Heide, wer konnte sich schon mit ihm messen! Und mein Gott, die Sprache, die ihm gegeben wurde, war reich und machtvoll. Es gab keine Aufgabe, die sie nicht bewältigen konnte. Sie zog sich in Schlingen gelassener Kraft über die Seite.
»Perseus ist durch die Luft unterwegs, durch den Himmel selber, und bald wird die ganze Welt zu seinen Füßen liegen. Er wird unendlich weit durch die Luft getragen, erzählt uns der Dichter, erst hierhin, dann dorthin, wie der Nebel. Und als er nach unten blickt, sieht er die ganze Welt, oder was sie damals für die ganze Welt gehalten haben, die armen Heiden. Killala hat er nicht gesehen. Wie die Seevögel, die du bei Downpatrick Head sehen kannst, mit ihren weiten Flügeln, so hoch, daß sie mit ihren kleinen Augen von Galway bis Donegal sehen können. Aber obwohl sie uns frei erscheinen, sind die Winde doch ihre Herren und werfen sie nach Herzenslust herum. Behalte die Seevögel von Downpatrick wie ein Bild in deiner Erinnerung, und dann versuch es nochmal.«
Aber O’Donnell legte seine große, schwere Hand auf die Seite und verdeckte die Worte. Eine schwarze Wolke zog über dem großen Meer im Süden auf.
»Ach, Owen, es war lieb von dir, mit deinen Büchern herzukommen, aber ich kann jetzt nicht an Perseus oder Seevögel denken. Nicht, solange der arme Gerry und die anderen im Gefängnis sitzen.«
»Es ist hart für dich, Ferdy, und noch härter für Gerry. Aber du mußt noch lange warten bis zur Gerichtsverhandlung.«
»Und wir wissen beide, was dann passieren wird«, sagte O’Donnell. Er schob die Ovidausgabe beiseite. »Ich bin ein friedlicher Mann, aber wenn ich meine beiden Hände um Paudge Nallys Kehle legen könnte, dann würde ich das Leben aus ihm herausquetschen. Wirklich. Er wird mit seinem Lügenmaul noch Gerrys Leben verschwören.«
MacCarthy, der keinen Trost für ihn wußte, schloß das Buch und schob die lockeren Seiten hinein. In der Dämmerung ruhte Perseus am Rand der Welt, weit im Westen, wo die See sich ausdehnte und wo die tausend Herden des Atlas nach Lust und Laune über die grasbewachsenen Ebenen wandelten.
»Und dabei wollten wir in diesem Jahr etwas mehr erwirtschaften als die Pacht«, sagte O’Donnell, »wo die Ernte so gut ausfällt, wenn Gott will, Maire und Gerry und ich haben erst vor kurzem an diesem Tisch darüber gesprochen. O Gott, Owen, am Ende werden sie ihn wohl hängen. Glaubst du das auch?«
»Ach, wirklich, Ferdy, bis zur Verhandlung ist es noch lang, und Gott ist gut. Von jetzt bis dahin kann noch viel passieren.« Aber nichts war gewisser, solange Paudge Nally mit der Hand auf der Protestantischen Bibel im Gericht in Castlebar stand.
»Ich schwöre bei Gott, Owen. Wenn ich diese Nacht hören würde, daß die Franzosen gelandet sind, dann würde ich mir eine Pike suchen und zu ihnen gehen. Das würde ich tun.«
»Du wärst nicht der einzige. Ich war kurz in der Schenke in Kilcummin und habe gehört, was sie gesagt haben. Und die Männer, die das sagten, waren soweit ich weiß keine Whiteboys. Ach, jetzt sind sie vielleicht schon welche. Es war vor einer Stunde. Quigley nimmt am laufenden Band Eide ab, und in Killala ist es dasselbe. Sam Cooper und seine Miliz sind hervorragende Anwerber für die Whiteboys. Cooper und Duggan! Ein feines Paar von unwissenden verdammten Schurken!«
O’Donnell seufzte. »Sam Cooper. Hast du je gehört, daß Mount Pleasant einst den O’Donnells gehört hat? Das ist wahr. Ich habe ein großes verdammtes Dokument darüber in der Truhe. Es stammt aus der Zeit der Stuarts. Mein Vater protzte immer damit, wenn er etwas getrunken hatte.«
»Überall in ganz Irland liegen solche Dokumente in den Truhen«, antwortete MacCarthy, »und es ist das gescheiteste, sie verrotten zu lassen und nicht an sie zu denken. Cromwells Leute geben jetzt den Ton an, und Cromwell ist schon sehr lange tot. In Fermoy im County Cork gab es einen alten Mann. Er hatte eine Eichentruhe voller Papiere und Grundbriefe und solcher Dokumente, und dabei lebte er in einem Loch. Er konnte einen mit seiner Prahlerei wahnsinnig machen, und dabei hatte er keine zwei Schillinge zum Aneinanderreiben.«
»Ich prahle gar nicht«, antwortete O’Donnell. »Aber in den letzten Tagen hat mich der Gedanke wahnsinnig gemacht, daß Cooper hier machen kann, was er will, und den armen Gerry ins Gefängnis steckt. Sie sind mitten in der Nacht gekommen, Maire war gar nicht mehr angezogen. Und an allem ist Cooper schuld. Paudge Nally ist nur ein Affe, der auf Coopers Schulter hockt.«
MacCarthy lachte. »Das ist ein gutes Bild. Haben sie euch da drüben in Douai Rhetorik beigebracht? Ich habe dich oft beneidet, weil du doch Frankreich und alle seine Wunder gesehen hast.«
»Die Wunder Frankreichs, ja? Wir haben soviel von Frankreich gesehen, wie du von Achill Island aus sehen könntest. Wir waren nicht im Seminar, um mehr über die Welt zu erfahren, sondern um Priester zu werden. Und im Seminar war es genauso wie hier. Die Priester verachteten uns, sie hielten uns für einen minderwertigen Menschenschlag. Die Welt hat eine geringe Meinung von den Iren.«
»Zum Teufel mit ihnen allen«, sagte MacCarthy.
»Du bist der bestgebildete Mann in der Baronie«, fuhr O’Donnell fort. »Mit Ausnahme von Mr. Hussey. Und sie haben dich wie einen Spalpeen oder Kesselflicker vor Gericht geschleppt.«
»Ich bin aber zwischen ihnen durchgeschlüpft«, sagte MacCarthy. »Wie ein fettiges Schwein.«
»Gerry schafft das nicht«, meinte O’Donnell. »Er ist ein hitzköpfiger Junge und schreit heraus, was er fühlt. Er wird ins Unglück geraten, wenn ich kein Auge auf ihn haben kann.«
»Bildung ist ein großer Vorteil«, sagte MacCarthy.
»Ach, uns hilft sie überhaupt nicht weiter«, widersprach O’Donnell mit lauter, gequälter Stimme. Er griff nach dem Buch, das MacCarthy jedoch rasch außer Reichweite schob.
»Paß auf, Mann, ja? Kummer ist Kummer, aber dieses Buch hat mich drei Schilling und sechs Pence gekostet.«
O’Donnell starrte ihn einen Moment lang wütend an, dann lächelte er.
»Es wird Zeit, die Flasche aufzumachen, die ich mitgebracht habe«, sagte MacCarthy. »Lassen wir den armen Perseus oben im Himmel sitzen.«
O’Donnell schüttelte den Kopf. »Trink du nur ruhig, Owen, aber ich kann nicht mitmachen. Maire und ich sind letzte Nacht hingekniet und haben der Mutter Gottes versprochen, daß ich keinen Schluck Alkohol über die Lippen bringen werde, bis auch Gerry wieder in diesem Haus einen trinken kann.«
Wir verbringen unser Leben auf Knien, auf Lehmböden, auf den kühlen Steinplatten der Kapellen. Sie haben Gerichte, Miliz, Galgen. Ihnen gehört die Erde, und sie hüten sie sorgfältig vor uns. Gebet ist unsere einzige Zuflucht, sanfte Worte, in die Luft gesprochen. Es war schon fast zehn, aber der Abend hinter der offenen Tür war warm und hell. Noch zu hell für den Mond. Er wollte nicht vor O’Donnell trinken, um ihn bei seinem Gelübde nicht in Versuchung zu führen.
»Nun trink schon, Mann«, sagte O’Donnell ungeduldig. »Ich habe wirklich keinen Durst.«
MacCarthy hob den Krug vom Boden hoch, entkorkte ihn, stützte ihn auf seinen gekrümmten Ellbogen und hielt ihn an seine Lippen.
»So«, sagte er und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Das ist besser.«
»Du hast recht, Owen, wenn du aus allem aussteigst. Ich kann das nicht. Ich habe Wurzeln, die durch meine Stiefelsohlen wachsen. Alles, was ich kenne, sind dieser Berg und Kilcummin und Killala.«
Wurzeln, von seinen Stiefeln in die magere Bergerde. Das Bild eines Poeten. Vielleicht von Ovid, bei dem alle Menschen zu Pflanzen werden und Blumen zu Menschen. Er muß sich definieren und prägt ein Bild: sein erstes. Ohne Poesie sind wir ohne Sinne und blind. Drei Sprachen drängten sich in MacCarthys Schädel. Irisch, ein Edelmann in Pelzen, der hinter einem Pflug einherstapfte. Englisch, nüchterner Junker in gutem Tuch und flachem, breitkrempigen Hut. Latein, die Königin der Sprachen, die Helden zu Sternen machte und in den Himmel schleuderte. Er trank wieder.
»Das magst du, Owen«, sagte O’Donnell und nickte zum Krug hinüber.
»Und es mag mich«, antwortete MacCarthy. »Wir passen gut zusammen. Wie du und Maire. Du hast wirklich Glück, mit dieser Frau zusammenzusein.«
»Sie geht zur Zeit früh ins Bett«, erwiderte O’Donnell. »Es ist jetzt ein trostloses Haus, und ich bin schlechte Gesellschaft.«
»Ach, Ferdy. Man weiß doch nie. Es ist noch lange bis zur Gerichtsverhandlung.« Das hatte er schon einmal gesagt. Er hatte keinen anderen Trost.
Er erhob sich schwerfällig, kratzte mit seinem Stuhl über die festgetrampelte Erde und ging zur Tür. Die Bucht war von dumpfem, metallischem Grau in der weichen Luft. Eine Fischerschmacke hielt auf Kilcummin zu.
»Ich kenne einen Mann«, sagte er, »der gestern mit Randall MacDonnell einen getrunken hat. Nicht nur die Whiteboys sind zu allem bereit. Wenn dieser Sommer vorbei ist, gibt es vielleicht in Irland keinen County mehr, wo man sich aus dem Ärger heraushalten kann.«
O’Donnell, der immer noch saß, blickte zu ihm hoch. »Noch jemand hat mir etwas über Randall MacDonnell erzählt. Randall ist ein ganz anderer Mann als Malachi Duggan. Er ist ein anständiger, sympathischer Bursche.«
»Das stimmt«, gab MacCarthy zu. »Aber er jagt zu Pferd Füchse. Ein komischer Sport.« Er ließ sein Buch in seiner Tasche verschwinden und zog sein Halstuch gerade. »Es war nett von diesen wilden Winden, daß sie den armen Perseus nicht in diese elende Ecke der Welt geweht haben.« Er lächelte O’Donnell an. »Ist dein großer Fürst O’Donnell nicht mit all seinen Söldnern und Gallowglasses während der großen Rebellion hier hindurchgetobt und hat alles vor sich hergetrieben und die Soldaten der englischen Königin versprengt?«
O’Donnell stand auf und trat neben ihn in die Tür. »Ich weiß es nicht, um ganz ehrlich zu sein. Ich habe gehört, es wäre weiter im Osten gewesen. Aber er hat diesen ganzen Teil von Connaught für sich beansprucht und hier seine Clanhäuptlinge eingesetzt. Die Großmutter meines Vaters hat immer gesagt, daß wieder ein O’Donnell in Tyrawley regieren wird, wenn die Gälische Armee sich erhebt.«
»Großmütter sind eine weise Gattung«, sagte MacCarthy.
»Das ist doch bloß Kesselflickergefasel«, meinte O’Donnell. »Die Gälische Armee.«
»Wer wüßte das besser als ich?« fragte MacCarthy. »Woher sollten die Dichter denn ihre Themen nehmen, wenn es die Gälische Armee nicht gäbe? Wir sind allesamt schreckliche Lügner.«
»Dichter und Großmütter«, stimmte O’Donnell zu. »Gemeinsam könnt ihr die Welt in den Ruin stürzen.«
MacCarthy ging lachend den Weg hinunter, drehte sich dann um, um zum Abschied zu winken, aber O’Donnell war schon in seiner Hütte verschwunden.
Hugh O’Donnell, der größte aller der Helden, die die Dichter je besungen hatten. Irland, für die Captains von Henry und Elizabeth nur ein nebliges Moor, halbnackte Krieger, unbedeutende Provinzfürsten, bereit, Vetter und Bruder zu verkaufen, ihre Armeen heulende Meuten mit verfilzten Bärten, Augen wie durch das Dickicht spähende wilde Tiere. Sie mußten ausgerottet werden wie die Tiere, in ihre Lager gejagt, ihre Köpfe abgehackt. Ganz Munster wurde nach der Desmond-Rebellion von Lord Grey de Wilton in eine Wüste verwandelt. Der Poet Spenser hatte es gesehen und triumphiert. »Aus jeder Ecke der Wälder und Thäler kamen sie auf Händen gekrochen, denn ihre Beine mochten sie nicht mehr tragen; sie glichen den Anatomien des Todes, denn sie sprachen wie Geister, die aus ihren Gräbern weinen.« Ein altes Buch, verstaubt, in der Ecke der Bibliothek eines Gentleman bei Corofin, mit Lettern so schwarz wie eine Todesanzeige: Beschreibung der derzeitigen Lage Irlands.
MacCarthy hatte Spensers Gedichte gelesen und nur halb verstanden, ein junger Amadán, dem Sand Kerrys entsprossen. Süße Themse, fließe sanft dahin, bis ich mein Lied beendet habe. Laube der Seligkeit, wie eine Phrase in einer Litanei an die Mutter Gottes. Blumen und blühende Zweige, Blumen wie Sterne. Legenden und Bezauberung, holde Frauen und wundertätige Zauberer. Bedeutungen, riesige Schatten, hatten sich dahinter bewegt. Später, in Cork, hatte MacCarthy erfahren, daß dieses gewaltige englische Gedicht der Verzauberung in Irland geschrieben worden war, in Cork sogar. Kein Wunder. Das sanfte Munster hatte selber daran mitgewirkt. In der Nähe von Doneraile, an der freundlichen Awbeg, standen die Ruinen seiner Burg Kilcolman. Aber derselbe Mann, Edmund Spenser, dieser sanfte und verführerische Zauberer, hatte Desmond in eine Wüste verwandelt, hatte zugesehen, wie die Verhungernden auf ihn zugekrochen kamen, ihre Münder fleckig von Nesseln und Klee. Süße Themse, fließe sanft dahin, bis ich mein Lied beendet habe.
O’Donnell hatte ihn erledigt. Mächtiger gälischer Fürst, dessen kalkweißes Schloß von Dichtern besungen wurde. Von County zu County war seine Rebellion weitergetragen worden, von Ulster nach Süden. Seine Rebellen brannten Kilcolman nieder. Der Dichter floh, mit seinem unvollendeten Gedicht, zurück nach London und zu seiner glorreichen Königin. Ein kleiner Junge, sein Sohn, kam in den Flammen um. Grobgekleidete Rebellen sahen zu, wie die Flammen das Strohdach umzüngelten, ihre Gesichter waren gerötet. Als O’Donnell an der Nordküste geschlagen wurde, in Kinsale, brach eine Welt zusammen. Ruin. Jetzt bewegen wir uns zwischen Ruinen, Bauern starren die zerbrochenen dachlosen Wachttürme von Munster und Connaught an. O’Donnell, MacCarthy: Jetzt die Namen eines kleinen Pächters in den Bergen, eines wandernden Schulmeisters. Die spröden Seiten unserer Pergamentgeschichte zerfallen unter dem Gewicht unserer Finger zu Staub. Ferdy O’Donnell geht in der Dunkelheit in seiner Hütte hin und her, verzweifelt, stößt gegen den Tisch, gegen das Bett, in dem seine Frau schläft. Seine Geschichte sind die Reden seines Vaters, die Prophezeiungen seiner Großmutter. Ich gehe auf ein Dorf aus elenden Löchern zu.