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ОглавлениеAus: Ein unparteiischer Bericht über die Ereignisse zu Killala im Sommer 1798 von Arthur Vincent Broome, M.A. (Oxford)
Vor einigen Jahren, als ich die Seelsorge für diese wilde und trostlose Region, über die ich schreibe, erst kurze Zeit übernommen hatte, fühlte ich mich veranlaßt, ein Tagebuch zu führen, in das ich die Sitten, Gebräuche und Manieren der verschiedenen Gesellschaftsklassen, so wie sie mir begegneten, eintragen könnte, um daraus eines Tages ein Buch mit einem Titel wie Leben in Westirland zu machen. Ich fürchtete zu Recht, daß mir die Zeit sonst lang werden möchte, und mir ist ein Hang zum Müßiggang, der zum Vorschein kommen kann, wenn meinem Leben Ordnung und Richtung fehlen, seit langem bewußt. Und mir war klar, daß nur wenige Teile des Reiches Seiner Majestät so unbekannt sind wie diese Insel, die genausogut in der Südsee treiben könnte, statt vor unserer Türschwelle. Ehe ich England verließ, hatte ich mir vorgenommen, Mr. Arthur Youngs Reise durch Irland zu lesen, ein weises und durchdachtes Buch, reich an Informationen, liberal und aufgeklärt in seiner Haltung, aber dennoch genau das, als was es sich ausgibt, der Bericht über eine Reise. Mein Werk würde die Vorzüge einer langen und stetigen Betrachtung des Schauplatzes haben, gewissermaßen eine Naturgeschichte des County Mayo sein.
Aber ach, die guten Vorsätze! Mein Tagebuch führte eine Zeitlang eine vage Existenz, bestand aus verstreuten Notizen, niedergeschrieben in der Aufregung meiner Begegnungen mit neuen Orten und Gesichtern und mit einer Gesellschaft, die pittoresk und beunruhigend zugleich ist. Aber wie andere meiner Projekte geriet es nach einigen Monaten vollends ins Stokken und sammelte dann lange auf einem Regal in meinem Studierzimmer Staub an. Wo sich diese Notizen jetzt befinden, kann ich nicht sagen; vielleicht wurde mit ihnen ein Feuer entfacht, ein Schicksal, das an diesem Ort losen Papierblättern widerfährt. Sie hätten ohnehin keinen großen Zweck erfüllt, da meine frühen Eindrücke, wie ich jetzt weiß, allesamt falsch waren, denn dieses Land ist so verräterisch wie das Moor, das ein Großteil seiner Oberfläche bedeckt. Es ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein aus-ländischer Ort und unempfänglich für die Lehren der Zivilisation.
Mein jetziges Ziel, praktischer und begrenzt, ist, so umfassend und unparteiisch wie ich kann, jedoch ohne müßige Abschweifungen, einen Bericht der Ereignisse zu geben, die vor einigen Jahren unserer abgelegenen Gegend eine vorübergehende Berühmtheit beschert haben. Deshalb muß ich zu Anfang meine eigene und verwirrte Sicht dieser besonderen Welt geben, die Bühne und Darsteller für mein Drama geliefert hat.
Eine Landkarte zeigt Mayo als einen County im entferntesten Westen des Landes, das seit einigen Jahren als das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland bezeichnet wird. Zu der Zeit, über die ich schreibe, war Irland jedoch theoretisch ein eigener Staat, der sein eigenes Parlament besaß, sich mit England König George als souveränen Herrscher teilte und von England stark beeinflußt wurde. Über seine illusorische und eingebildete »Unabhängigkeit« werde ich später noch einiges zu sagen haben. Im Moment will ich jedoch nur bemerken, daß die Ereignisse, die ich darstellen will, dazu beigetragen haben, das vielgerühmte, aber gefälschte »Königreich Irland« zu Fall zu bringen. So können große, den ganzen Staat betreffende Veränderungen bisweilen in rohen und abseitigen Umständen wurzeln.
Wenn ich diese Karte Irlands kolorieren sollte, dann würde Mayo darauf in Braun- und Blautönen erscheinen, im Braun der Hügel und Moore, über die sich ein endloser Himmel aus hellem Blau wölbt. Falls es nicht regnet, was leider oft der Fall ist. Während ich dies hier schreibe, regnet es, stetig und großzügig, wodurch ich die Bucht, auf die mein Studierzimmer blickt, nicht mehr sehen kann. Meine Pfarre liegt in der Stadt Killala in der Baronie Tyrawley, einst ein Bischofssitz und eine wohlhabende Gemeinde von Küstenhändlern, jetzt seit Jahrzehnten in einem Stadium von tristem Niedergang und Verfall. Es gibt natürlich noch andere Städte in Mayo: Ballina, unsere erfolgreiche Rivalin im Süden; Westport an der Westküste, der Sitz des Marquis von Sligo, verschönt von seinem eleganten Landsitz. Aber es gibt nur eine Stadt von wirklicher Bedeutung, Castlebar, die Hauptstadt von Mayo, wie sie großsprecherisch genannt wird, und die Stadt, zu der alle Wege in Mayo führen. Eine moskowitische Garnison an der sibirischen Grenze muß ähnlich aussehen, obwohl Castlebar, wie alle Städte in Mayo, ganz und gar aus Stein gebaut ist, mit Ausnahme der Lehmhütten der Ärmsten. Castlebar hat Straßen, ein Gerichtsgebäude, ein Gefängnis, eine Markthalle, eine Kaserne, die Häuser der wohlhabenden Kaufleute. Und doch wirkt alles provisorisch, hagere, schmale Gebäude, die sich angesichts der Endlosigkeit von Himmel und Land aneinanderkauern. Denn County Mayo durch seine Städte zu beschreiben, wäre völlig irreführend. Der Eindruck, den er als erstes in Auge und Geist hinterläßt, ist der von endlosem, ungastlichem Raum, von weitem, tristem Moorland im Westen von Crossmolina, von steilen und einsamen Landzungen und Halbinseln. Er hat seine eigene gewaltige und düstere Welt, während die benachbarten Counties Galway und Sligo einen zivilisierten Anblick bieten, der allerdings leider völlig irreführend ist.
Er ist auch wenig bevölkert, wenn wir uns auf das beschränken, was wir in England als »County-Familien« bezeichnen würden. Wenn ich einen Morgen oder auch einen ganzen Tag ausritt, konnte ich als Nachbarn vielleicht fünfzig oder sechzig Familien des Landadels und des Fastadels zählen, letztere werden hier übrigens »Halb-Sirs« oder »Gentlemen mit Halbbesitz« genannt. In der Nähe, innerhalb der Grenzen von Killala und Kilcummin, hatte ich unter anderem Peter Gibson von The Rise, Captain Samuel Cooper von Mount Pleasant, George Falkiner von Rosenalis, meinen besonderen Freund, wie diese Aufzeichnungen zeigen werden, und, an der Straße nach Ballycastle, Thomas Treacy von Bridge-end House als Nachbarn. Weiter entfernt, nur über anstrengende Reisen auf elenden Straßen zu erreichen, standen die Häuser von George Moore von Moore Hall, Hilton Saunders von Castle Saunders, Malcolm Elliott von The Moat und etwa zwanzig anderen. Diese alle, mit Ausnahme von Moore und Treacy, gehörten zu meiner Pfarre, denn es gehört zu den bekanntesten Tatsachen über das Leben in Irland, daß die, die das Land besitzen, und die, die es bestellen, durch ihren Glauben streng voneinander getrennt sind, die Grundbesitzer sind fast allesamt Protestanten, die Pächter und Landarbeiter dagegen Papisten.
So über unsere Baronie zu sprechen, bedeutet, ihr abwesendes Zentrum zu ignorieren, denn über unsere Baronie und die anliegenden Gebiete dominiert das Gut, überragend und auf den ersten Blick endlos, von Lord Glenthorne, dem Marquis von Tyrawley, oder, wie er hier mit einer dem Irischen entlehnten Bezeichnung genannt wird, »der Hohe Lord«. Diese Bezeichnung läßt an leichte Blasphemie denken, und Lord Glenthorne hat in der Beziehung mit unserem Schöpfer Ähnlichkeit, daß diese riesige Domäne zu seiner Verfügung steht, er jedoch beschlossen hat, sich nicht darauf aufzuhalten. Darin liegt nichts Ungewöhnliches, denn die ansässigen irischen Grundbesitzer sind in der Regel die kleineren, die etwa tausend Hektar oder weniger besitzen, während die Reichen fernbleiben, eine Tatsache, die viele für die Ursache unserer vielen Leiden halten. Lord Glenthorne hat beschlossen, sich niemals zu zeigen, nicht einmal zu kurzen Besuchen, und doch ist sein Platz in unserem Dasein so wichtig und überragend, daß er in der Rede der Bauern eine legendäre Größe erreicht hat, eine unergründliche Gestalt, jenseits von Gut und Böse. Ich wurde ihm in London vorgestellt, wo er mir als kleiner, milder Mann mittlerer Jahre erschien, von schlichtem, unaffektiertem Betragen, der seine religiösen Pflichten sorgsam befolgte. Viel später bin ich ihm ein zweites Mal begegnet, und bei dieser Gelegenheit erhielt ich einen klareren Eindruck von ihm und erkannte, daß er in jeder Hinsicht ein Herr war.
Wer von hier nach Ballina reitet, reitet meilenweit an den Mauern seiner Hauptdomäne vorbei, an Mauern so hoch, daß ein Mann zu Pferde kaum über sie hinwegsehen kann, alle aus behauenem Stein. An einigen Stellen steigt die Straße an, und der Reisende kann in der Ferne, hinter schützenden Palisaden, die schöne Form von Glenthorne Castle sehen, eines riesigen Landsitzes, der durch einen Zauberspruch aus 1001 Nacht in dieses ungastliche Land getrieben sein muß. Und diese Illusion wird noch verstärkt, wenn sich der Reisende überlegt, daß dieser Palast, denn es ist ein Palast, einfach nur wartet, mit seiner Dienerschaft und zweifellos mit seiner Einrichtung von ungeahnter Pracht, auf einen Fürsten, der sich niemals dort aufgehalten hat. Als sein Vater, der die exotischsten und ehrenrührigsten Sagen über sich hinterlassen hat, tatsächlich ab und zu hier residierte, war das anders. Aber der Wanderer sieht nichts von Glenthorne Castle. Er sieht nur die hohen, endlosen Mauern, und wir müssen ihm vergeben, wenn er denkt, daß eine Armee oder Legionen von Sklaven, wie die, die die Pyramiden Ägyptens gebaut haben, sie errichtet haben müssen.
Und es gibt diese Legionen. Als ich über die »Gesellschaft« von Mayo gesprochen habe, habe ich das Wort in der üblichen, aber unchristlichen Bedeutung benutzt, die alle ausschließt, die wir nicht sehen wollen. Wenn wir uns gestatten, auch die Bauern zu sehen und die vielen Landarbeiter, die noch viel elender sind als sogar die Bauern, dann leben wir nicht in einer einsamen Welt. Es ist eine reichbevölkerte, ja, sogar eine überbevölkerte Welt. Sie schwärmen wie die Bienen aus ihren Hütten, von denen die ärmsten aus Lehm gebaut sind, wie ein Kind am Flußufer bauen würde, und sie sind überall, denn sie stürzen sich auf jeden unbeanspruchten Hektar Land, der einen Grashalm oder ein Kartoffelbeet tragen kann, und die Hügel sind in Zickzacklinien aufgeteilt, durch Mauern, errichtet aus den Felsblöcken, die sie mit Händen weggeschafft haben, um jeden Zoll pflügbaren Bodens freizulegen. Einige wenige sind wohlhabend, wenn es auch ein unsicherer Wohlstand ist, Viehzüchter und starke Bauern und Mittelsmänner, aber wie steht es um die zahllosen Tausende ihrer Glaubensbrüder? Sicher fällt es auf, daß ich hier die übliche irische Praxis übernommen habe, gesellschaftliche und konfessionelle Trennungen zu verwechseln. Denn zweifellos gibt es hier zwei Welten, »unsere« kleine protestantische Welt des Wohlstands und ihre überbevölkerte papistische Welt der Not.
Ich versichere aus ganzem Herzen, daß Unterschiede, die auf dem Glauben beruhen, mir wenig bedeuten, und doch bekenne ich, daß mein Mitleid mit ihrem Elend sich mit einem Abscheu vor ihrer fremden Art vermischt. Fangen wir also mit ihrem Glauben an, aber fügen wir hinzu, daß die meisten unter ihnen eine Sprache sprechen, die nicht einfach nur ausländisch ist, sondern so grotesk wie das Geplapper der Sandwichinsulaner, daß sie in Dreck und Unordnung leben und gedeihen, daß Misthaufen sich vor ihren fensterlosen Hütten auftürmen, daß ihre Musik, egal, was Altertumsforscher und Fanatiker zu ihren Gunsten sagen mögen, zwar bisweilen eine klagende, melancholische Schönheit aufweist, aber wild und barbarisch ist, daß sie eine ernste und wohlerzogene Höflichkeit mit mörderischer Gewalt verbinden, die ohne Vorwarnung ausbricht – an Markttagen werden zum puren Vergnügen Schädel eingeschlagen, Vieh wird grausam verstümmelt, Verwalter mit grausamen Foltern getötet –, daß sie übelriechende Tümpel als heilige Brunnen verehren, daß sie zu Felsblöcken wallfahren, daß ihre Augen einen mit einer Unschuld anblicken, hinter der die Bosheit tanzt. Und doch bekenne ich mein Mitleid mit ihnen und wünschte, ich hätte ihnen besser oder überhaupt dienen können.
Wie anders sollen sie denn leben, diese armen Geschöpfe Gottes? Der Bauer hat seine wenigen Kühe und Schweine, seine kurzen Ernten, aber das alles muß an den Grundbesitzer bezahlt werden, jede Gabel Rindfleisch, jedes Getreidekorn, und er und seine Familie müssen von Kartoffeln und Milch leben. Und er hat noch Glück, denn schlechter geht es denen, die vor dem Gesetz überhaupt kein Land haben, sondern auf den Bergen hocken oder sich am Moor zusammenkauern. Sie ziehen mit ihren Spaten zu den Gesindemärkten, wo sie wie Sklaven auf dem Block stehen. Im späten Winter, wenn die Kartoffeln aufgebraucht sind, wandern sie bettelnd über die Straßen. Und was ist mit denen, die ein Stück Land haben, aber die Pacht nicht bezahlen können? Ein guter Grundbesitzer, wie mein lieber Freund Mr. Falkiner, wird sich ein Jahr oder zwei gedulden, falls er selber solvent ist, aber viele Grundbesitzer sind bei den Dubliner Banken und Geldverleihern so hoch verschuldet, daß auch sie zu Opfern des Systems werden. Viele andere sind gar keine richtigen Grundbesitzer, sondern Mittelsleute, an die das Land zum Weiterverpachten vergeben worden ist, und viele von ihnen betreiben die barbarische Praxis des Pachtwuchers. Und es gibt viele große und kleine Grundbesitzer, die, wie Captain Cooper, wenn sich Viehzucht besser bezahlt macht als Verpachten, die Pächter verjagen und auf den Straßen betteln oder verhungern lassen. Ich habe selber Familien gesehen, die sich an den Hängen zusammenkauerten, wo sie sich Löcher gegraben hatten, ganze Familien, die Kleinen hockten neben der verhärmten Gestalt der Frau.
Ein genialer ausgedachtes System, zuerst zur Erniedrigung und dann zur Beibehaltung der Erniedrigung eines ganzen Volkes, ist nur schwer vorstellbar. In dieser Hinsicht fehlen mir Beredsamkeit und Klarsicht von George Moore von Moore Hall, einem höchst erstaunlichen Mann für diese Gegend, der ein recht bedeutender Historiker ist, aufgeklärt und human in seinen Ansichten, ein Freund von Burke, Fox, Sheridan und anderen wichtigen Persönlichkeiten. Wer seiner herben, sardonischen Stimme lauscht, wenn er sich über die Leiden Irlands verbreitet, wird in seiner Verzweiflung bestärkt, denn er kann niemals ein Heilmittel vorschlagen. Und doch gilt Verzweiflung zu Recht als unverzeihliche Sünde, und ich habe immer wieder energisch dagegen angekämpft.
Ich habe auch darum gekämpft, mit dem Volk vertraut zu werden, aber mit geringem Erfolg. Ich nehme hier Mr. Moore und auch Thomas Treacy von Bridge-end House aus, denn diese beiden sind angesehene Gentlemen, und ich habe ihren Papismus immer für ritterliche Anhänglichkeit an eine verfolgte Sekte gehalten. Und ich nehme ebenso Mr. Hussey aus, so seltsam das erscheinen mag, den Priester von Killala, denn er, der Sohn eines wohlhabenden Viehzüchters aus Mittelirland, ist selber fast ein Gentleman. Oft, hatte ich den Eindruck, war er entsetzter als ich über das barbarische Leben und Treiben derer, deren Seelsorge ihm anvertraut ist. Während des ersten Jahres habe ich versucht, die Bekanntschaft der wenigen papistischen »Halb-Sirs« zu machen, Männer wie Cornelius O’Dowd oder Randall MacDonnell, aber gerade diese beiden erschienen mir als, ehrlich gesagt, unreligiöse Männer, falls wir Treue zu Whiskey, Pferden und leichtlebigen Frauenzimmern nicht als eine Form von Gottesdienst betrachten; und diese bedauerliche Einschätzung ihrer Charaktere wurde durch ihr gewaltsames Handeln in den Ereignissen, die ich berichten werde, mehr als bestätigt. Unter ihrer Ebene gab es natürlich Bauern und Bedienstete, die Englisch verstanden und sprachen, einige hatten sogar die Kunst gemeistert, es zu schreiben. Aber ich konnte immer unter der Oberfläche unserer höflichen Begegnungen das Beben des tiefen Abgrundes spüren, der uns trennte, so als ob wir unsere Unterhaltung auf der zitternden Oberfläche eines Moores führten.
Weiterhin werde ich in meinem Bericht niederschreiben, was ich von diesem einzigartigen und höchst unseligen Mann Owen Ruagh MacCarthy gehört habe. Ich hatte ihn einmal zu mir bestellt, weil ich einige Bücher abzugeben hatte und annahm, er könnte sie in seiner »klassischen Akademie« verwenden, einer Art Heckenschule, in der Kinder die Anfangsgründe einer Erziehung erhielten, während ältere Jungen aufs Seminar vorbereitet wurden. Ich gebe zu, daß ich meine Zweifel hatte, denn ich hatte ihn oft im Dorf gesehen, eine große Kreatur mit wilden roten Haaren und einem schnellen Schritt, überall bekannt wegen seiner Vorliebe für Alkohol und schlechte Gesellschaft. Sein früherer Leumund war genauso abschreckend, denn angeblich war er aus seinem Geburtscounty Kerry nach Cork gewandert, oder besser getrieben worden, dann nordwärts durch Clare und Galway nach Mayo, auf der Flucht vor seinen Zusammenstößen mit dem Gesetz, behaupten die einen, den anderen zufolge jedoch gejagt von Heerscharen erboster Väter und Ehemänner und Brüder, denn er konnte weder Augen noch Hände von irgendeiner Frau passenden Alters lassen, und in dieser Hinsicht war sein Geschmack katholisch in der nicht-konfessionellen Bedeutung dieses Wortes. Und doch war er ein Mann, der fließend Latein sprach und sich mit Vergil, Horaz und Ovid sehr gut auskannte. Noch überraschender war, wie mir Treacy von Bridgeend House, ein Fanatiker für die eingebildeten Leistungen seiner Rasse, erzählt hat, daß MacCarthy ein Dichter von beträchtlichem Ruhm war, dessen Verse von Donegal bis Kerry auswendig gelernt wurden und als Manuskripte zirkulierten. Ich bat Treacy, einige dieser Gedichte ins Englische zu übersetzen, aber er antwortete, Rhythmus und Metrik, wenn das die korrekten Bezeichnungen sind, ließen sich nicht ins Englische übertragen, denn dann würden Wörter und Klang sich streiten wie Mann und Frau, ein aufschlußreicher Einblick in die irische Einstellung zur Ehe.
Auf jeden Fall, und um diese Abschweifung zu beenden, so mag MacCarthy durchaus ein zweiter Ovid gewesen sein, aber seine Worte sind für immer in einer barbarischen Sprache verschlossen, die die Geschichte zum Schweigen und zum Pflug verurteilt hat. Bei jener Gelegenheit versicherte ich ihm, daß mir das unglückliche Schicksal seiner Landsleute sehr am Herzen läge, und ich regte an, es ließe sich vielleicht verbessern, wenn sie die Sicherheiten des englischen Gesetzes besser ausschöpfen könnten. Er antwortete mit den Versen eines anderen Poeten, die er dann, egal, was Treacy davon halten mag, für mich ins Englische übersetzte: »Troja und Rom sind verschwunden, Caesar ist tot wie Alexander. Vielleicht wird eines Tages auch der Tag Englands kommen.«
Ich forderte ihn auf, die Bedeutung dieser dunklen Aussage zu erklären, und er antwortete, sie bedeute lediglich, daß Griechenland und Rom einst mächtige Reiche gewesen seien, und nun sei eben England an die Reihe gekommen. Ich sagte ihm, daß ich nicht eine Minute glaubte, es könnte so gemeint sein. Statt dessen brachte es die dumpfe Rachsucht zum Ausdruck, die die irischen Bauern bekanntlich hegen, und die, wie ihr Aberglaube, sie davon abhält, angemessene und vernünftige Lösungen für ihre Probleme zu finden. Dann überlegte ich mir: Was für Lösungen? Wohlmeinende protestantische Pastoren schreiben Bücher und Traktate für sie, raten ihnen, sich ordentlich zu kleiden, während sie halbnackt sind, die Wahrheit zu sagen, wenn nur eine Lüge sie vor ihrem raffgierigen Grundbesitzer schützen kann, nüchtern zu bleiben, wenn der einzige Trost in einer Flasche liegt.
Daraufhin lächelte er mich an, als ob er meine Gedanken gelesen hätte, und das Lächeln veränderte seine groben, schweren Züge und deutete eine lebhafte, wenn auch sardonische Intelligenz an. Im offensichtlichen Bestreben, das Thema zu wechseln, nahm er ein schmales Buch von dem Stapel, den ich vor ihm aufgebaut hatte, eine Übersetzung von Le Sages Romanze Gil Blas. »Das hier kenne ich gut, Euer Ehrwürden. Ich hatte es in der Hintertasche meines Mantels, als ich vor Jahren auf Wanderschaft war. Dafür gibt es gar kein besseres Buch.« Ich entdeckte, daß er einigermaßen Französisch konnte, was offenbar bei den Schulmeistern seiner Heimat Kerry nicht außergewöhnlich war, weil es dort früher sehr viel Verkehr mit Frankreich gegeben hatte. Aus Kerry und Cork waren bis vor zehn Jahren die jungen Männer in die Seminare von Douai und St. Omer oder als Rekruten zu den irischen Brigaden der französischen Armee gebracht worden, und es hatte auch einen lebhaften Schmuggel gegeben. Nicht nur die letzte, sondern alle drei Unternehmungen waren gesetzlich verboten, aber das schien MacCarthy überhaupt nichts auszumachen. Darin kann eine weitere bedauerliche Folge der abscheulichen Penal Laws gesehen werden, die ein Jahrhundert lang die Papisten mehr oder weniger zu Vogelfreien gemacht hatten.
Diese Verbindung von Gil Blas und der französischen Sprache mit dem grobschlächtigen Kuhhirten, der da in seinem langschößigen Rock aus regenfarbigem Fries vor mir stand, erschien mir als höchst merkwürdig.
Bei dieser Gelegenheit, wie bei meinen anderen Unterhaltungen mit MacCarthy, war ich von seiner offenkundigen Liebe zu Wörtern und Büchern positiv beeindruckt, obwohl er selbige zweifellos auf grobe, provinzielle Manier auffaßte, und von seinem Auftreten, das unbefangen, aber niemals beleidigend vertraulich war. Und doch hatte er auch etwas an sich, was mich verärgerte, einen schlauen, leichten Spott, als wüßte er genausogut wie ich, daß wir dieselben Wörter auf ganz unterschiedliche Weise verwendeten. Wie wenig werden wir je über diese Leute wissen, solange wir in unsere getrennten Zimmer eingeschlossen sind! Und oft habe ich ihn in einer ganz anderen Stimmung gesehen, wenn er betrunken heimwärts stolperte, eher Vieh denn Mann, zu dem Bett, das er mit irgendeiner jungen Dirne von einer Witwe teilte. Der Weg, den er später einschlug, stimmte mich traurig, überraschte mich jedoch nicht. Er lebte tief in der Welt seines Volkes, und diese Welt ist unvorhersagbar und gewalttätig.
Was mich in meinen ersten Jahren in Mayo vor allem bedrückte, war, daß alle, reich und arm, darin übereinzustimmen schienen, daß die schrecklichen Umstände, die ich hier erwähnt habe, unveränderlich seien, gewirkt aus einer Geschichte von so festem Gewebe, daß es niemals in eine akzeptablere menschliche Form gezogen oder gerissen werden könnte. Ich bin durchaus kein Radikaler. Ich weiß, daß die Gesetze der menschlichen Ökonomie, wie die der Astronomie, unbeweglich und streng sind. Dennoch kann ich das Gefühl nicht aufgeben, daß diese Gesetze verzerrt worden sind, so wie Kometen und Meteore auf die Erde hinuntergezogen werden. Die Armen werden immer bei uns sein, aber muß es sie wirklich in solchen Mengen geben, daß sie die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen?
Aber die wenigen Lösungen, die vorgeschlagen worden sind, sind entsetzlicher als das Übel, das sie heilen wollen. Ich habe zum Beispiel Männer, die nicht unmenschlicher sind als die meisten, vorschlagen hören, daß die immer wieder auftretenden Hungersnöte von der Natur so beschlossen worden sind und im Laufe der Zeit die Bevölkerung auf eine passende Anzahl reduzieren werden, aber dieses erscheint mir als Gotteslästerung. Oder nehmen wir die Whiteboys, die in meinem Bericht eine Rolle spielen. Etwa dreißig Jahre lang waren diese Banden eine Geißel für das Land, verheerten die Landschaft, ermordeten Verwalter, verstümmelten oder töteten Vieh, rissen die Zäune nieder, die die Weiden umgaben, unterwarfen Gegner und Denunzianten brutalen und grausamen Bestrafungen. An einigen wenigen Orten konnten sie ihren Ehrgeiz befriedigen; die Pacht wurde gesenkt, Felder wurden nicht weiter in Weideland umgewandelt. Zumeist aber wurden die Whiteboys gejagt wie Hirsche und Wölfe und schließlich vernichtet. Sie mußten vernichtet werden, denn die Zivilisation kann solches Barbarentum nicht hinnehmen. Hungersnot oder Terror: Welch entsetzliche Auswahl sich anbietender Heilmittel!
Und welche Hilfe bringt die Religion selber? Ich werde wenig über die Kirche dieses Volkes sagen. Zweifellos ist sie von dem Jahrhundert (oder mehr) der Verfolgung, die sie erleiden mußte, deformiert und brutalisiert worden, und zweifellos übt sie eine besänftigende Wirkung auf ihre Kinder aus, aber dennoch kann ich keine große Sympathie für sie bekennen. Mr. Hussey, wie gesagt, ist ein Mann von Bildung und guten Manieren. Kaum ein Anblick war so lächerlich wie der von Mr. Hussey in seinen Schuhen mit den Silberschnallen, unterwegs in eine Hütte, wo seine Anwesenheit vonnöten war, der sich bei dem Gestank am liebsten die Nase zugehalten hätte. In seiner Kapelle, die mit Hilfe von Mr. Falkiner und anderen eher liberalen Mitgliedern des protestantischen Landadels errichtet worden ist, hat er wohl immer wieder gegen Whiteboys und gegen die abergläubischen Praktiken seiner Pfarrkinder angepredigt. Und doch war sein Kaplan, der ungeheuerliche Murphy, Bauernsohn und selber Bauer, ein grober, ignoranter Mann, rotgesichtig, jung, fett und mit der Stimme eines jungen Bullen, viel typischer für das römische Priestertum. Und als die Krise über uns hereinbrach, bewies er, daß er ihre finstersten Leidenschaften bis ins letzte teilte. Auch gehörte Reinlichkeit nicht zu seinen Tugenden, und für seine Liebe zur Flasche gibt es hinreichend Beweise.
Aber über meine eigene Kirche, was kann ich da sagen, außer, daß sie die Kirche einer beherrschenden Garnison ist? Ich kann vielleicht meine Predigten rühmen, die keine leeren Ausschweifungen über obskure Stellen der Schrift sind, sondern sich auf das tägliche Leben richten. Und doch, wenn ich die kahlen weißen Wände betrachte, die schmalen Fenster und die beiden Schlachtflaggen, die Mr. Falkiners Ururgroßvater aus Marlboroughs Kriegen mitgebracht hat, und die Gedenktafeln für die, die im Dienste unserer Krone auf den Schlachtfeldern von Frankreich und Flandern gefallen sind, wenn ich meine Pfarrkinder ansehe, steif und gerade wie Truthähne oder Conquistadoren, dann kommt mir der beunruhigende Gedanke, daß ich weniger ein Seelsorger für Christi Volk bin als Priester eines kriegerischen Kults, so wie Mithras von den römischen Legionen gehuldigt wurde. Hier, denke ich in solchen müßigen Momenten, ist ein Vorposten, der durch die ewiggültigen Edikte von Elisabeth und James und Cromwell und William in diesem Land stationiert worden ist und es für unseren Herrn, den König, halten soll.
Warum sonst schickt der protestantische Landadel Irlands seine jungen Männer in die Britische Armee und in die Armee der Ostindischen Kompanie, wenn nicht aus einem Instinkt, der ihnen in den Knochen sitzt, eingepflanzt vielleicht durch die vielen Sonntage ihrer Kindheit, an denen sie die Schlachtflaggen angestarrt haben? Und noch eins steht fest: Wenn England ein Land mit dem Schwerte erobert, folgen darauf alsbald die Künste und die Segnungen der Zivilisation, ein geordnetes Dasein, Sicherheit für Person und Eigentum, Erziehung, gerechte Gesetze, die wahre Religion und hoffnungsvolle Aussichten für das Leben der Menschen auf Erden. Nur hier haben wir versagt, im allerersten Land, das wir betreten haben, aus Gründen, die zum Teil unsere und zum Teil die Schuld der Einheimischen waren. Aber ich halte es für verderblich, über die Vergangenheit nachzugrübeln, Unrecht aufzuzählen und Schuld zuzuweisen.
Vielleicht kann ich das alles so klar sehen, weil ich in England geboren und aufgewachsen und deshalb nicht in die alten Feindseligkeiten und den alten Stolz dieses Landes verstrickt bin. Denn im letzten Viertel des Jahrhunderts erklärten, wie alle wissen, sich die irischen Protestanten für eine unabhängige Nation, die dem König von England nur in seiner Eigenschaft als König von Irland Gefolgschaft schuldete. Schlimmer noch, sie hielten sich für ein eigenständiges Volk, weder englisch noch irisch, schworen aber dennoch der britischen Krone den absoluten Gehorsam, da ihre Rechte, Privilegien, Besitztümer zuerst von der Krone gekommen waren. Ein erstaunliches und lächerliches Geschöpf war sie, diese »irische Nation«, aus der die große Masse der Iren mit der offenen Begründung ihrer Religion und mit der heimlichen Begründung ihrer Rasse ausgeschlossen war. Die Hauptstadt Dublin war eine so schöne Stadt, wie diese Inseln überhaupt aufweisen können, eine Stadt aus warmen, weinfarbenen Ziegeln und kühlen grauen Steinen, überragt von den strengen, schönen Umrissen des Parlamentes, in dem die rein protestantischen Vertreter einer rein protestantischen Wählerschaft saßen. Und doch war diese gepriesene Unabhängigkeit ein Trugbild, denn die Gouverneure und Verwalter dieser Insel wurden weiterhin in London ernannt, und das Parlament selber stank vor Korruption, die viele der gekauften Mitglieder kaum zu verhehlen geruhten. Meine Bewunderung für Mr. Grattan und die anderen »Patrioten«, die sich abmühten, um Irland eine wahre und ehrliche Regierung zu geben, um das Parlament zu reformieren und vor allem, um ihre papistischen Landsleute von ihren Ketten zu befreien. Und doch waren ihre Bemühungen so vergeblich, wie ihre Rede glänzend und blumig war.
Wir in Mayo wußten wenig von diesen Angelegenheiten und hatten nicht das geringste Interesse daran. Die Interessen der Grundbesitzer wurden im Parlament bestens vertreten von Dennis Browne, Lord Sligos Bruder und High Sheriff des County, einem klugen und geistreichen Mann, rauh, aber herzlich, wenn die Situation das erforderte, doch mit einem Charakter so schmeichelnd und tückisch wie Bergnebel. Wenn ich auf diesen Seiten etliche harte Urteile über Mr. Browne abgeben muß, so glaube ich doch, daß seine Liebe zu Mayo höchst ehrlich ist, auch wenn sie eine schreckliche Form annehmen sollte. Ich gebe zu, daß mein geringes Verständnis für diese Menschen vollends versiegt, wenn es mit Familien wie den Brownes konfrontiert wird. Papisten bis weit ins 18. Jahrhundert, konnten sie ihren Besitz durch eine Vielzahl von Tricks behalten, bis sie dann schließlich zu unserer protestantischen Church of Ireland übertraten. Sie, und vielleicht nur sie, scheinen sich problemlos zwischen unseren beiden Welten bewegen zu können, sind wichtige und mächtige Persönlichkeiten in unserer protestantischen Welt, und dennoch heißen sie die eingeborenen Musiker und Dichter bei sich willkommen, werden Lieder und Gedichte zu ihren Ehren komponiert. Das war jedenfalls bis vor wenigen Jahren so, denn nun haben die Brownes einen düsteren und zweifelhaften Ruf, aus Gründen, die mein Bericht erklären wird. Wenn ich die Brownes nur verstehen könnte, dann würde ich viel von den verworrenen Wurzeln der Vergangenheit, ihren verzwickten Loyalitäten und blutigen Erinnerungen verstehen. Die Wahrheit über dieses Land ist vor den Augen der Fremden verborgen. Die Wahrheit, wie die Schätze der Wikinger, liegt in den Mooren vergraben.
Moore und Bergketten schlossen uns in Tyrawley ein und überließen uns dem Anblick des grauen Ozeans. 1797 jedoch wußten wir, daß die Ereignisse in den anderen Teilen Irlands auf die Rebellion zutrieben. Die verbrecherische und umstürzlerische Society of United Irishmen, eine Bande von skrupellosen städtischen Radikalen in Dublin und Belfast, war zum Aufstand entschlossen und hatte sich zu diesem Zweck für eine unnatürliche Allianz zwischen den papistischen Bauern des Südens und den presbyterianischen Bauern des Nordens entschlossen. Ihr Agent im Ausland, der Deist und Irre Wolfe Tone, hatte die Unterstützung der Königsmörderin Frankreich gesichert. Ein Jahr zuvor war eine gewaltige Invasionsflotte an der Küste von Kerry nur durch das zurückgeschlagen worden, was die Bauern als »die protestantischen Winde« bezeichneten. Dann, im Frühjahr 1798, hörten wir von den entsetzlichen Aufständen in Wexford und Antrim, wo mörderische und irrwitzige Bauern das Land verwüsteten, ehe sie mit großer Brutalität besiegt werden konnten. Eine schreckliche Wartezeit folgte, denn obwohl die rebellischen Counties zu riesigen Leichenhäusern geworden waren, hatte das Netzwerk der höllischen Verschwörung in Mittelirland und in einigen Teilen Munsters überlebt. Eine zweite Invasionsflotille, hieß es, wurde an Frankreichs Küste zusammengezogen, und Wolfe Tone lauerte wie ein Sturmvogel über ihren Masten. Mit diesem Augenblick schrecklichen Wartens möchte ich meinen Bericht beginnen.
Dies alles aber erreichte uns wie Nachrichten aus einem anderen Land. Unsere örtliche Milizabteilung, eine rein protestantische Truppe unter dem Kommando von Captain Samuel Cooper, exerzierte häufiger, weniger jedoch, um unsere Küsten zu verteidigen als um den papistischen Bauern klarzumachen, daß der derzeitige Stand der Dinge unveränderlich sei. Es gab zuerst einen, dann mehrere, dann zahlreiche Fälle von verstümmeltem Vieh, ausgeführt von Männern, die sich »die Whiteboys von Killala« nannten, aber das Whiteboytum war eines unserer altvertrauten Übel. Die fernen United Irishmen predigten den Aufstand im Namen einer ersehnten »Republik Irland«, aber die irische Sprache hatte kein Wort für diese Staatsform und noch viel weniger hatte dieses Wort irgendeine Existenz in der Vorstellungskraft unserer Bauern. Natürlich gab es auch unter den Bauern, Gastwirten und Schulmeistern und ihresgleichen manche, die, als sie von der Rebellion in Wexford gehört hatten, hochtrabend von der »Gälischen Armee« sprachen. Und viele der Protestanten, vor allem von der engstirnigeren und unwissenderen Sorte, sprachen voller Furcht und Zorn von einem Aufstand der Knechte. Aber das alles war weit weg von Mayo.
Ich habe immer wieder versucht, mir vorzustellen, ich befände mich in einer der Schenken, die die Bauern besuchten, einer niederen, üblen Hütte, verräuchert und stinkend. Irgendwer beschreibt den Anwesenden den Aufstand von Wexford, nicht als das Gemetzel, das er in Wirklichkeit war, sondern als den glorreichen Aufmarsch der »Gälischen Armee«, mit Bannern und Dichtern, wie eine Strophe aus MacPhersons Ossiangedichten. Ich versuche mir die Gesichter, die ich nur von der Straße, von Feldern oder Ställen kenne, weiße Haut, schwarze Haare, dunkle Augen, in dieser Umgebung vorzustellen. Mit welcher Wucht müßten die Worte des Sprechers so eine Versammlung treffen, denn die eingeborenen Iren lassen sich, wie seit den Tagen des elisabethanischen Spenser bemerkt worden ist, von großen Worten leicht überwältigen.
Eines Tages habe ich im Haus von Mr. Treacy Owen Ruagh MacCarthy seine Gedichte rezitieren hören. Er besuchte die Dienerschaft, und als Treacy davon hörte, ließ er ihn an unseren Tisch kommen, wo er vor uns stand und ein Gedicht vortrug, für das er sehr großzügig mit Silbermünzen und zwei Glas Brandy belohnt wurde. Es war eine Gedichtform namens Aisling, wie ich von Mr. Treacy erfuhr, ein Gedicht über eine Vision, in der der Dichter über die Wiesen wandelt und dabei eine Jungfrau trifft, die ihm in verschleierten und vorsichtigen Wendungen ihr derzeitiges Leid erzählt und ein Ereignis von großem Glück für das gälische Volk prophezeit – vielleicht daß Bonnie Prince Charlie mit Kriegern und Weinfässern und französischen Münzen an die Küste gesegelt kommt. Das Gedicht jenes Abends unterschied sich von anderen seiner Art nur darin, daß nicht der Stuart-Thronfolger herbeigerufen wurde, sondern eine namenlose, nebelhafte Befreiung. Es ist offenbar eine schwierige und metrisch komplexe Form, trotz des konventionellen Inhalts, und MacCarthys Ruhm unter den eingeborenen Dichtern beruhte angeblich auf seiner Meisterschaft im Umgang mit dieser Technik. Das Gedicht wurde mit ausdrucksstarker Vehemenz von Stimme und Körper vorgetragen, aber ich gebe nicht vor, zu bewundern, was ich nicht verstehen kann.
Als ich einige Stunden später Bridge-end House verließ und zu dem Jungen, der mein Pferd hielt, hinüberging, kam ich an der offenen Tür eines Nebengebäudes vorbei, hörte abermals MacCarthys Stimme und warf einen Blick hinein. Etliche Bedienstete waren dort versammelt, und MacCarthy, sehr betrunken, hatte einen Fuß auf eine Bank gestellt. Ein Mädchen stand neben ihm, und sein freier Arm war um ihre Hüfte geschlungen, seine Hand liebkoste ihren Busen. Ich brauchte keinen Cicerone, um mir die Bedeutung seines Liedes zu erklären. Als ich davonritt, endete das Lied, aber die Luft war erfüllt vom Klang einer Violine, die eine mitreißende Melodie spielte, sehr schnell und munter, wie zu einem Tanz.
Musik und Tanz. Was ich geschrieben habe, muß doch ein Volk zeigen, das von Gott verflucht ist, in dumpfer Bewegung unter einem düsteren Himmel. Und doch, sollten sie meine Worte hören, sie würden sie entschieden abstreiten. Denn wenn das innere Auge die zerstörende Armut sieht, dann hört das innere Ohr Musik. Kein Volk auf der Welt, das ist meine Überzeugung, liebt Musik oder Tanz oder Beredsamkeit so sehr, obwohl die Musik in meinen Ohren fremd klingt und die Beredsamkeit entweder eine Sprache annimmt, die ich nicht verstehen kann, oder ein steifes, bombastisches und blumiges Englisch. Mehr als einmal wurde, wenn ich Mr. Treacy besuchte, nach dem Essen irgendein wandernder Harfner hereingerufen, zumeist blind, mit langgezüchteten Fingernägeln, deren hornige Ränder die Geheimnisse seiner Kunst verbargen. Die Musik ertönte für uns mit der Traurigkeit einer verlorenen Welt, jeder Ton ein Botschafter, der zwischen den Pokalen aus Waterford auf Wanderschaft ausgesandt wurde. Wenn ich spät nachts nach Hause ritt, vorbei an Schenke oder Bierhaus, hörte ich Harfen und Violinen, immer heftiger trampelnde Füße. Ich habe sie tanzen sehen, abends an Markttagen, auf Wiesen, die die Gewohnheit für diesen Zweck bestimmt hatte, mit schnellen Bewegungen, die Gesichter unbeweglich, aber mit strahlenden Augen, konzentriert. Ich habe sie schweigend beobachtet, während die Zügel locker in meiner Hand lagen, und mich über die Ruhe meines eigenen Körpers, über meine starren und schweren Schultern gewundert.
Dunkelheit verbirgt sie vor mir, und mein Mitleid ist unchristlich und kühl. Ich wünsche mir ernsthaft, in ihr Leben einzutreten, aber dieser Wunsch wird nur verhöhnt, von Captain Coopers selbstgefälliger Angeberei, von der Erinnerung an MacCarthys Fuß auf einer Bank, von dem Gewirr von fremdartigen Gesichtern auf Märkten und Heiligenfesten, von Tanzenden auf einer Wiese, vom Klang einer fremden Sprache. Ja, und auch vom bloßen Anblick dieses Landes, von den abweisenden Hügeln, dem monotonen braunen Moorland, den kleinen Seen, die wie wachsame Augen im Moor liegen. Es erscheint mir als ein Land, das wütend seine mageren Geheimnisse bewahrt, das sich mit seiner Unbegreiflichkeit brüstet. Ob es den Leuten selber auch so vorkommt, kann ich nicht sagen. Sie sind ein uraltes Volk und besitzen ein uraltes Wissen, das, weil es keine Weisheit erreicht, den Fremden erschreckt.
Und so kommen in dem Bericht, mit dem ich nun beginnen werde, viele der Auftretenden aus einer Welt, die erkenntlich meine eigene ist, auch wenn die lokalen Bedingungen sie stark verändert haben mögen. Mr. Falkiner, mein lieber Freund, könnte sehr wohl in Derbyshire leben und mit meinem Bruder über Ernten oder Politik diskutieren. Und Mr. Moore von Moore Hall würde sich in London sicher eher zu Hause fühlen als in Mayo. Auch kann England sich nicht rühmen, keine Männer wie Captain Cooper zu besitzen, dörfliche Caesaren und Hannibals, beherzte Captains ihrer Sonntagssoldaten. Und wenn meine Gedanken von ihnen zu den eingeborenen Iren hinüberschweifen, zu O’Dowd und zu MacDonnell, zu MacCarthy und vor allem zu Ferdy O’Donnell, dann spüre ich, wie sie ins Unbekannte gleiten, zu Männern, deren Taten und Leidenschaften aus jener erschreckenden Welt der Berge und Moore entspringen, die von den versteinerten Wurzeln der Vergangenheit erstickt werden. Und hinter diesen Männern liegt die menschenreiche Welt der Bauern, dieses dunkle Meer, das uns so plötzlich überspülte, daß wir in ihren Wellen fast ertrunken wären.
Dennoch werde ich versuchen, diese Ereignisse mit allem Verständnis der Situation zu beschreiben, das ich mir erworben habe, und mit einem Versuch der strikten Unparteilichkeit. Ich fürchte schon im voraus, daß ich versagen werde, denn mein Wissen um die Ereignisse ist wesentlich größer als mein Verständnis ihrer Ursachen. Aber es erscheint mir fast als sündhaft, nicht nach den Ursachen, den schwarzen Wurzeln blühender Leidenschaften zu suchen. Der Regen hat aufgehört, und unter einem plötzlich hellen und fast wolkenlosen Himmel erstrecken sich Felder von intensivstem Grün gen Norden auf die Bucht zu.