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Einleitung

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In den USA und in Europa hat die Diktatur der Unmittelbarkeit in Verbindung mit einer Präferenz für konzeptionelle Analysen zu einer groben Vernachlässigung der Zukunftsforschung geführt. Die Antizipationsstudien beruhen fast ausschließlich auf statistischen Analysen und vernachlässigen die kommenden politischen und kulturellen Umwälzungen, wie wenn die neoliberale Vorhersage einer befriedeten Welt nach der Öffnung der Grenzen sich unweigerlich erfüllen müsste. Andererseits verdeckt letztendlich das Prinzip der Ausarbeitung von Zukunftsszenarien das Unvermögen der Zukunftsforscher, die Risiken einer Analyse auf sich zu nehmen und sich ihnen zu stellen. So schrieben die Autoren der Studie Global Trends 2030 des Nationalen Geheimdienstrats der USA2 bezogen auf das Jahr 2005: „Die Gegenwart erinnert an frühere Transitionsmomente – etwa 1815, 1919 oder 1945 –, als der Weg in die Zukunft nicht klar vorgezeichnet war und die Welt verschiedene Möglichkeiten einer globalen Zukunft vor sich hatte.“3 Natürlich ist die Zukunft immer offen, da sie letzten Endes vom freien Geist der handelnden Minderheiten bestimmt wird; dennoch war das Risiko sehr gering, dass sich zum Beispiel Frankreich unmittelbar nach 1815 oder Deutschland nach 1945 in ein neues wahnwitziges militärisches Abenteuer stürzen würden, nachdem sie ihre Kräfte gerade in einem solchen verbraucht hatten. Kurzum, wohl überlegte und im Team betriebene Prognostik ist und bleibt eine weitgehend verlässliche Übung, um sich auf das Wagnis einer Analyse einzulassen und mit ihren Konsequenzen umzugehen.

Im Übrigen beschränken sich die Indikatoren, die eine Antizipation von Zukunft ermöglichen, nicht nur auf die schwachen Signale der unmittelbaren Geschichte; unter Umständen liegen sie mehrere Jahrhunderte zurück, zumal Kulturen einem langfristigen Wandel unterliegen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die meisten Zukunftsanalysen, vor allem wenn sie von der öffentlichen Hand in Auftrag gegeben werden, selten dem Zweck dienen, die unschuldige Neugier der breiten Öffentlichkeit zu befriedigen. Auftragsstudien legitimieren gewisse politische Entscheidungen im Voraus und schläfern Ängste ein, die störend sein könnten. Echte Antizipationsarbeit verlangt hingegen Klarsicht und Mut, zwei Eigenschaften, an denen es im Westen schmerzlich fehlt, wie der russische Oppositionelle Alexander Solschenizyn meinte. Eine mögliche Erklärung dafür ist: Weil wir vorgaben, uns von allem geschichtlichen Erbe loszusagen und uns als spontane Kultur zu begreifen, haben wir uns der Fähigkeit zur Antizipation beraubt. Tatsache ist, dass alle im Niedergang befindlichen Kulturen sich durch ihr Unvermögen auszeichnen, die drohenden Gefahren vorherzusehen. So kam es, dass der persische Eroberer Schapur I. im Jahr 252 nach Christus ungehindert in die Stadt Antiochia dringen konnte und die Einwohner sorglos versammelt im Theater vorfand. Wie der römische Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus berichtet, rief der Schauspieler auf der Bühne auf einmal mitten in die heitere Menge hinein: „Träume ich, oder sind da die Perser?“ Darauf drehten sich die Bürger von Antiochia verblüfft um und erblickten die sassanidischen Bogenschützen auf den obersten Rängen, die einen Pfeilregen auf sie niedergehen ließen, ehe sie die Stadt in Brand setzten.4 Manchmal ist die Strafe für geistige Blindheit sehr schmerzlich.

Weil Reiche in ihrer Endphase außerstande sind, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und sie sich ihren Untergang nur im Traum vorstellen können, häufen sich die strategischen Fehler. Noch schwieriger wird es bei Zukunftsprojektionen, und sei es nur für die kommenden zwei Jahrzehnte. Oder gibt es etwa Zukunftsstudien, die Mitte der 1970er Jahre den Mauerfall in Berlin auch nur ansatzweise in Betracht gezogen haben?

Die Autoren dieses Bandes versuchen es dennoch: die Zukunft zu antizipieren. Als Vorlage und gleichzeitig gedankliche Gegenschablone fungieren die Zukunftsstudien amerikanischer Geheimdienste. Diese prominenten Quellen nehmen die Autoren auf, um ein eigenes Bild der naheliegenden Zukunft im Jahr 2030 zu zeichnen. Das vorliegende Buch wird daher kein Abklatsch des bekannten CIA-Berichts5 Global Trends 2030 sein, dafür haben die amerikanischen Studien bereits aus vielerlei Gründen zu viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Vielmehr geht es darum, eigene, mutigere und komplexere Zukunftsmuster zu beschreiben, gleichsam den Deutungsanspruch amerikanischer Außenpolitik, wie überhaupt das Selbstverständnis der heute Mächtigen, zu hinterfragen.

2030

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