Читать книгу Mygnia - Die Begegnung - Thomas Linz - Страница 16
Berlin
ОглавлениеAndreas Tamm hatte an diesem Donnerstag schlechte Laune, und er konnte sich kaum konzentrieren. Gestern Abend hatte er einen heftigen Streit mit seiner Freundin Sonja, da sich seine Ex-Frau gemeldet hatte und sich mit ihm treffen wollte. Sonja hatte es mitbekommen und ihre eigenen voreiligen Schlüsse gezogen. Dass er sich ganz offensichtlich immer wieder heimlich noch mit ihr traf. Andreas hatte alle Mühe, sie zu überzeugen, dass dem nicht so war und er nur sie liebte. Aber sie ließ sich nicht davon abbringen, und so wurde es ziemlich laut zwischen den beiden. Schließlich verließ er wütend ihre Wohnung und fuhr zu sich nach Hause. Der Streit blieb in der Luft hängen, und er fühlte sich elend in dieser Situation. Zumal es nicht das erste Mal war. Ok, ein wenig Eifersucht war akzeptabel und irgendwie ja ein Zeichen von Liebe, fand er. Aber das gestern ging weit darüber hinaus. Er hatte sich sogar gefragt, ob er sich das weiterhin antun sollte oder ob eine Trennung für beide das Beste wäre. Aber nachdem er fast eine ganze Flasche Rotwein geleert hatte, war es ihm egal, und er fiel in einen unruhigen Schlaf.
Nun saß er am Schreibtisch im Institut und hatte gerade seine Kopfschmerzen mit zwei Tabletten gebändigt, als ihn das Telefon aus seinen Gedanken riss. Es war der Pförtner des Institutes.
„Dr. Tamm, hier ist ein Herr von der Polizei. Er möchte Sie sprechen. Ein Herr ...“, er hörte ein leises Nachfragen. „.... Hauptkommissar Michels.“
„Ist gut, danke, ich kenne Herrn Michels. Ich komme runter. Kleinen Moment noch.“ Hastig schob er die vielen Papiere zu ein paar halbwegs ordentlichen Stapeln zusammen, um nicht einen völlig chaotischen Eindruck zu machen.
Letzte Woche hatte sich dieser Michels wieder gemeldet und ihm angekündigt, dass sie nun auch das zu dem Zahn zugehörige Tier gefunden hätten und es zu ihm bringen wollten. Er solle reichlich Platz schaffen, aber auch alles tun, damit möglichst wenig Leute davon erfahren. Wasch mich, aber mach mich nicht nass, dachte sich Tamm. Aber er konnte sich auf seine Leute verlassen, wie auch schon in den vergangenen Situationen, in denen sie mit der Polizei zusammen gearbeitet hatten.
Spät abends kam der Lieferwagen mit dem Vieh, das sie in reichlich Folie eingewickelt hatten. Er rief Martin und Sylvia, zwei seiner Laboranten, denen er uneingeschränkt vertrauen konnte, an. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die nahezu 150 kg Kadaver in einen der abschließbaren Kühlräume zu schaffen, den sie vorher fast komplett leer geräumt hatten. Beim Transport wurde ihnen trotz des Mundschutzes, den sie natürlich trugen, durch den Gestank so schlecht, dass sie mehrfach absetzen und frische Luft holen mussten. Schließlich lag es ja bei frühlingshaften Temperaturen erst im Wasser und dann einfach an der Luft. Sie hofften, dass sich dieser penetrante Gestank, der mit nichts anderem zu vergleichen war, durch die Kühlung auf ein halbwegs erträgliches Maß verringerte.
Am nächsten Morgen erfüllte sich ihre Hoffnung glücklicherweise, und so begannen sie mit der Untersuchung. Zunächst wurden die üblichen Bilder gemacht und alles genau vermessen und gewogen. Andreas ließ es sich nicht nehmen, selber dabei zu sein. So etwas bekam man sicherlich nur einmal in seinem Leben zu sehen. Das Tier sah wirklich vollkommen fremdartig aus. Die Form der Zähne, die er ja bereits kannte, aber auch die Anordnung. Wie in einer Zickzacklinie war jeder zweite nach innen versetzt. Die Zahnreihen im Oberkiefer passten in die Lücken wie bei einer doppelten Schere. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu sich auszumalen, was passierte, wenn dieses Monster zubiss.
Die seitlich am Kopf sitzenden, aber dennoch nach vorn gerichteten Augen glichen nur auf den ersten Blick denen irdischer Tiere. Sie hatten zwar auch eine Pupille, aber darin konnte er auch einen hellen Ring erkennen, dessen Zweck ihm vollkommen unklar war. Die Haut war ledrig und mit vielen kleinen Schuppen besetzt. Haare konnte er nicht entdecken, aber dafür viele kleine Poren, die offenbar der Temperaturregelung dienten, ähnlich wie bei uns.
Dann die Gliedmaßen. Nicht wie bei irdischem Leben mit vier Zehen oder Fingern und einer Art Daumen, sondern an allen vieren gab es nur drei nach vorn gerichtete Finger bzw. Zehen, dafür waren aber zwei davon nach hinten ausgerichtet. Vorsichtig prüften sie die Beweglichkeit und waren erstaunt, dass sie fast ohne Widerstand in alle Richtungen drehbar waren. Das Tier musste ausgesprochen sicher damit laufen können, egal auf welchem Untergrund. Und außerdem mit den beiden vorderen, die fast doppelt so groß waren die der Hinterbeine, kräftig zupacken können.
Nachdem die äußerliche Analyse abgeschlossen war, setzten sie sich zusammen und arbeiteten einen Ablaufplan aus, welche folgenden Untersuchungen von wem gemacht werden sollten. Dabei wies Andreas alle noch einmal eindringlich auf absolutes Stillschweigen hin. Lediglich Renate wurde am nächsten Morgen von ihm kurz am Telefon informiert.
Nun war eine Woche vergangen, und er fragte sich einen Moment, was dieser Michels wohl diesmal von ihm wollte. Aber er würde es ja sofort erfahren.
Kurze Zeit später saßen sie in seinem Büro, vor ihnen jeweils ein Becher mit Kaffee.
„Was kann ich für Sie tun?“ begann Tamm.
„Wir haben Ihnen vor einer Woche dieses Urviech gebracht. Und den Hund des Rentners, der sich offenbar mit irgendwas infiziert hat.“
„Ich kann Ihnen gern ...“
Michels unterbrach ihn. „Das ist aber noch nicht alles. Wir sind nicht wegen der Ergebnisse hier. Noch nicht.“
„Sondern?“
„Ich hatte Ihnen ja erzählt, dass sich dieser Hund mit einem Mal sehr merkwürdig verhalten hat und kurz vor seinem Tod sein Herrchen gebissen hat. Dem Mann geht es gut, abgesehen von der Trauer um seinen Hund. Aber ich selber war Zeuge von einer weiteren, mit unerklärlichen Situation.“
Er machte eine wohldosierte Pause. Tamm sah ihn durchdringend an und wollte schon nachhaken. Aber Michels kam ihm zuvor.
„Auf dem Weg zum Auto habe ich miterlebt, wie ein paar Wildschweine zwei Hunde regelrecht massakriert haben. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance. Die Schweine haben sich wie irrsinnig gebärdet. Kann es sein, dass dieses Monster einen Virus eingeschleppt hat, der sich auf andere Tiere überträgt und sie derart aggressiv werden lässt?“
„So wie Sie das beschreiben, ja“, antwortete Tamm. „Aber dazu müsste ich mir die Wildschweine genauer ansehen.“
„Deshalb sind wir hier. Wir haben von einem Jäger die Schweine abschießen lassen. Insgesamt 23 Stück. Sie kriegen alle und sollen herausfinden, was dahinter steckt.“
Tamm verschluckte sich fast an seinem Kaffee. „Wie bitte?? Sie bringen mir erst ein fünf Meter langes Monster und dann haben Sie noch 23 Schweine, die Sie herbringen wollen? Wo um alles in der Welt soll ich denn hin damit?“
Michels lehnte sich zurück. „Ich könnte ja jetzt sagen, dass das Ihr Problem ist. Aber ich weiß, was ich Ihnen damit zumuten würde. Und eine schlechte Stimmung können wir in dieser Situation am wenigsten gebrauchen.“
Andreas fragte gereizt: „Und was heißt das nun übersetzt?“
„Dass Sie uns sagen, was Sie von den Schweinen brauchen. Ob Blut, Gewebe, Zähne oder sonstwas. Sie nehmen sich die Proben in ausreichender Menge und wir sorgen dafür, dass die Kadaver so lange eingefroren werden, bis wir, oder besser gesagt: Sie Ergebnisse haben und wir unsere toten Schwarzkittelzeugen sicher nicht mehr brauchen.“
Tamm atmete auf. „Na Sie können einem ja einen gehörigen Schrecken einjagen. Aber Ihr Vorschlag ist auch meiner Meinung nach das Beste. Wann bringen Sie mir die Tiere?“
„Jetzt. Sie sind draußen im Wagen.“ Michels stand auf.
Tamm brauchte einen Moment, um zu begreifen, was dieser Polizist da gerade gesagt hatte. Mehr zu sich als zu Michels brummte er: „Solche Tage sollte man polizeilich verbieten. Wie bitteschön soll das denn gehen?“
Auf dem Parkplatz stand ein großer Kühlwagen einer Lebensmittel-kette, die sonst Tiefkühl-Fertiggerichte lieferte.
„Na, die haben ja offenbar ihr Sortiment komplett umgestellt“, meinte Tamm mit unverhohlenem Sarkasmus. Aber er sah schnell ein, dass ihm das hier nicht weiterhalf, und so zog er sein Handy aus der Tasche und rief im Labor an. Martin, der Cheflaborant, ging schon nach dem zweiten Klingeln dran. Als ob er auf den Anruf gewartet hätte, kam es Tamm vor. Er erläuterte die Situation und bat seinen Mitarbeiter herzukommen. Um was es ging, ließ er für den Moment offen. Er wollte nicht, dass Gerüchte verbreitet wurden.
Rainer Michels ließ ihn gewähren. Er wusste, dass er für den Moment hier nichts mehr tun konnte. „Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß, Dr. Tamm“, sagte er, zu Tamm gewandt. „Wenn Sie mich dennoch brauchen: Sie haben ja meine Nummer.“ Er drehte sich um und wollte gehen. Dann dämmerte es ihm, dass das gar nicht stimmte. Bevor Tamm protestieren konnte, zog er eine verknitterte Visitenkarte aus seiner Tasche und reichte sie ihm hinüber. „Jetzt ja.“ Er wendete sich wieder zum Gehen.
Aber Tamm rief ihn zurück. „Moment noch, Herr Michels.“
Michels ignorierte ihn und ging weiter. Er hatte einen langen Tag hinter sich und außerdem mächtigen Hunger. Tamm lief ihm hinterher. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass das Ganze nicht einfach nur eine Lieferung für eine überdimensionierte Grillparty war. „Ist Ihnen eigentlich klar, mit was wir es hier zu tun haben? Das sind nicht nur einfache Wildschweine!“
Michels blieb stehen und drehte sich um. „Sondern?“
„Das sind infizierte Tiere, die sonstwas in sich tragen. Und dieses Sonstwas kann zu einer Katastrophe führen.“
„Jetzt passen Sie mal auf. Ich bin nur Polizist und habe mich an Sie gewendet, weil Sie offenbar in diesen Dingen kompetent sind. Ich erwarte von Ihnen Ergebnisse. Ich will wissen, was es ist. Das müssen Sie mir nicht erst erklären. Und ich will wissen, was wir weiter tun müssen, und zwar schnell.“
„Danke, dann sind wir jetzt zu zweit.“ Tamm wurde langsam wütend. Polizist hin oder her, hier ging es um weit mehr als nur Formalitäten irgendwelchen Staatsbeamten gegenüber. „Sie haben hier die Schweine abgeliefert. Gut.“ Er atmete ein paar Mal tief durch. „Wir nehmen die Proben, und zwar heute noch. Aber dann will ich nichts mehr davon sehen, ok? Wir können hier alles gebrauchen, aber kein Aufsehen.“
„Ist ja gut, ich sorge dafür, dass wir den Rest wieder mitnehmen.“
„Und wohin bitteschön? Zu einem netten Waldrestaurant, das dann für die nächsten Wochen als Sonderaktion Wildschweingulasch besonders preiswert anbietet?“
Michels sah in mit großen Augen an. Tamm hörte förmlich den Groschen pfennigweise fallen. Offenbar begriff dieser sture Beamte endlich. Tamm nutzte die Stille. „Also, folgender Vorschlag. Ich rufe Sie an, wenn wir alles haben, was wir brauchen. Sie sorgen dafür, dass die Reste der Kadaver zu einer autorisierten Verbrennungsanlage gebracht werden, die eine Genehmigung hat, infiziertes Krankenhausmaterial unschädlich zu machen. Dorthin verfrachten Sie die Schweine, lassen Sie aber unbedingt in den Beuteln. Ich gebe Ihnen die entsprechenden Papiere mit. Ich lass mir was einfallen. Solange wir nicht wissen, was wir hier vor uns haben, müssen wir jegliches Risiko ausschließen.“
Michels zog es vor, nicht zu antworten, und nickte nur.
Tamm hakte nach. „Herr Michels, das ist extrem wichtig, verstehen Sie?“
„Ja, das ist mir natürlich klar. War es mir immer. Aber danke, dass Sie es noch einmal auf den Punkt gebracht haben. Ich kümmere mich darum. Schönen Abend noch.“
„Danke, werden wir haben“, rief Tamm ihm nach. Kurze Zeit später waren Martin und Sylvia zur Stelle. Sie standen zunächst ziemlich ratlos vor der offenen Tür des LKW und sahen die tiefgefrorenen Schweine von der Decke hängen. Rein äußerlich war nichts zu sehen. Aber Tamm wusste, dass das nichts bedeutete. Wenn es sich wirklich um einen Virus handelte, hatte Michels höchst leichtsinnig gehandelt. Wer wusste schon, auf welchem Weg sich dieser Mikroorganismus, besonders wenn es eine womöglich völlig unbekannte, vielleicht sogar außerirdische Art war, verbreitete. Das einzige, was ihn halbwegs beruhigte, war die Tatsache, dass es in dem Wagen etwa minus 20°C kalt war und so irgendwelche biologischen Aktivitäten im wahrsten Sinne des Wortes auf Eis lagen.
Zuerst wurde bestimmt, welche Schutzmaßnahmen zu treffen seien. Dann besprachen sie, welche Proben genommen werden sollten. Da die Schweine ein extrem aggressives Verhalten gezeigt hatten, war es wahrscheinlich, dass eine Veränderung im Blut, in den Nervenzellen, im Gehirn oder eine Kombination von allem der Auslöser war. Also beschlossen sie, von jedem der Schweine Blutproben zu nehmen – was in diesem Zustand einfach hieß, sich ein ordentliches Steak herauszuschneiden und es unter Quarantäne für die Analysen aufzutauen. Der schwierige Teil bestand darin, an die Gehirne zu kommen. Das alles konnte nicht einfach hier im Kühlwagen passieren. Also mussten die Viecher in einen der Kühlräume gebracht werden. Dazu wurden sie einzeln in große Kunststoffbeutel verpackt, um eine Kontamination weitgehend auszuschließen. Tamm schimpfte leise in sich hinein, weil er derart improvisieren musste. Aber es half nichts. Das Sezieren war letztendlich reine Routine. Sie teilten es sich zu dritt auf, und so hatten Sie spät abends alles, was sie brauchten, in sterile Behälter verpackt und alle fein säuberlich beschriftet. Tamm rief Michels an und informierte ihn, dass die Schweine nun wieder abgeholt werden konnten. Kurz darauf fuhr der Kühltransporter wieder vom Hof des Institutes.
Tamm traf sich mit den beiden anderen noch auf einen Kaffee und bedankte sich ausdrücklich für ihre Mithilfe bei dieser spontanen Aktion. Er versprach beiden einen extra freien Tag, wenn alles vorbei war. Es war eine Eigenart von ihm, die sonst niemand anders in seinem Kollegenkreis teilte. Sie waren allesamt der Auffassung, dass die Mitarbeiter ja schließlich für ihre Aufgabenerfüllung bezahlt wurden, und das nicht einmal schlecht. Aber Tamm war das nicht genug, und die ausgeprägte Loyalität seiner Leute gab ihm eindeutig Recht. Nicht nur das, sie waren immer zur Stelle, wenn es darauf ankam.
Aber für heute hatten sie genug geleistet, und Tamm schickte beide nach Hause. Er selber blieb noch eine Weile sitzen und grübelte, um was es hier wohl gehen könnte. Wer oder was dahinter steckte. War dies wirklich real, war es eine Sensation, bei der er maßgeblich beteiligt war? Oder war das Ganze ein geschickt eingefädelter Schwindel, dem sie alle aufsaßen? Aber wer würde davon profitieren? Fragen über Fragen, und schließlich gab er auf. Der Tag war lang, und so ging er noch kurz in sein Büro zurück, um einen Blick in die Mailbox zu werfen. Das meiste war die übliche Routine, aber er fand auch eine Nachricht seiner Freundin. „Wir müssen reden“, stand in der Betreffzeile. Sein Magen verkrampfte sich. Er überlegte, ob er die Nachricht öffnen sollte. Wer weiß, welche Anschuldigungen jetzt wieder auf ihn warteten. Und das konnte er nun gar nicht gebrauchen nach einem solchen Tag. Aber er entschied sich für die Offensive und klickte die Zeile an. Als er den kurzen Text las, hörte er regelrecht den Stein plumpsen. Sie entschuldigte sich und wollte ihn heute noch sehen. Sie hätte überreagiert und wollte nun diese blöden Missverständnisse ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Er atmete hörbar auf, klappte den Laptop zu, schloss sein Büro ab und machte sich auf den Weg. Mit einer Flasche gutem Rotwein bewaffnet stand er kurze Zeit vor Ihrer Wohnungstür. Es wurde ein rundherum schöner Abend.