Читать книгу Mygnia - Die Begegnung - Thomas Linz - Страница 17
Genf
ОглавлениеJulia stand vor ihrem Kleiderschrank und grübelte vor sich hin. Was um Gottes Willen sollte sie anziehen? Sie entschied sich, auch angesichts des schönen Wetters, für ein hellblaues, sportlich geschnittenes Kleid, das ihre schlanke Figur auf eine dezente Art betonte. Zusammen mit einer leichten Jacke und Schuhen mit recht flachen Absätzen fühlte sie sich schließlich gewappnet für den Abend mit einem Mann, denn sie einerseits kaum kannte, andererseits aber sowohl beruflich wie auch als Mensch unbedingt näher kennen lernen wollte.
Pünktlich um 19 Uhr stand sie vor dem Eingang und überlegte kurz, ob sie lieber draußen warten oder schon hinein gehen sollte. Aber die Entscheidung wurde ihr abgenommen: „Auf die Minute pünktlich“, hörte sie von hinten. Sie drehte sich um und blickte genau in die blauen Augen von Francois Delandre. Er hatte sich auch für die legere Art entschieden, eine helle Hose und ein grünes Leinenhemd. „Gehen wir hinein?“ forderte er sie auf.
„Guten Abend, Dr. Delandre. Ja, gern.“ Er hielt ihr galant die Tür auf und folgte ihr in das Restaurant. Als sie unschlüssig stehen blieb, schob er sich an ihr vorbei und ging zielstrebig auf einen Zweiertisch in einer Nische zu. „Ist Ihnen das so recht?“ fragte er mit einem Augenzwinkern. Julia war klar, dass sie diese rhetorische Frage nicht beantworten musste, und setzte sich auf den angebotenen Stuhl. Sie saßen kaum, als der Kellner kam und ihnen die Karte brachte.
Das Essen verlief mit belanglosem Smalltalk, in dem er sie nach ihrem Studium und dem Praktikum befragte, ohne in Details zu gehen. Sie erkundigte sich nach seinem Werdegang beim CERN und war mit seiner ebenfalls oberflächlichen Schilderung zufrieden. Als das Essen abgeräumt war, sah Julia lange in ihr Weinglas. Delandre beobachtet sie nur und blieb ebenfalls stumm. Schließlich brach sie das – nicht einmal unangenehme – Schweigen.
„Sie wollten mir doch vom CERN erzählen. Was die Einrichtung macht, wie sie entstanden ist und so.“
Delandre sah sie durchdingend an. „Stimmt, das hatte ich versprochen und das halte ich auch. Aber vorher finde ich, sollten wir noch einen Digestiv zusammen trinken. Was nehmen Sie?“
Julia war überrascht, aber irgendwie passte es auch zu seiner korrekten und höflichen Art. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, nehme ich einen Espresso. Sonst behalte ich nicht mehr, was Sie mir gleich erzählen sollen“, fügte sie lachend hinzu.
„Sie entscheiden, keine Frage.“ Er winkte dem Kellner und bestellte den Espresso für Julia und einen Grappa für sich. Als die Getränke gebracht wurden, hob er sein Glas. „Ich habe das Gefühl, dass unser Sie nicht passt. Am CERN ist ohnehin alles sehr kollegial, und daher möchte ich Sie ... Dich bitten, mich Francois zu nennen.“
Julia war nicht einmal überrascht. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, dass es so schnell ging. Sie kannte das ja von Rolf Bartels und fast allen anderen Kollegen dort. „Klar. Ich heiße Julia. Auf unseren schönen Abend, Francois.“
„Auf den schönen Abend.“ Er setzte an, den Grappa zu trinken, roch aber dann erst ausgiebig, bevor er einen kleinen Schluck nahm. Es war ein sehr guter Chardonnay mit einem lang anhaltenden Aroma.
Julia nippte vorsichtig an ihrem sehr heißen Espresso. Sie liebte es, dieses starke und bittere Gebräu ohne Zucker zu trinken. Sie blickte noch einen Moment gedankenverloren in ihre leere Tasse und sah dann Francois direkt in die Augen. „Wie lange bist du eigentlich schon dabei? Und was reizt dich gerade am CERN?“
„Nächsten Monat werden es 24 Jahre,“ gab Francois zurück. „Tja, und was mich so fasziniert ...., ich fange am besten mal von vorn an. Du weißt vielleicht, dass es auf zwei Unesco-Konferenzen in 1952 zurückgeht, bei denen die Gründung des Zentrums beschlossen wurde. Das offizielle Gründungsjahr ist 1953. Bereits vier Jahre später, also 1957, wurde dann der erste Beschleuniger in Betrieb genommen. Er beschleunigte Protonen auf sage und schreibe 600 Mega-Elektronenvolt.“ Er grinste.
Julia überlegte kurz. Die Zahl hörte sich riesig groß an, und das war sie unbestritten auch. Aber die avisierten 13 TeV, von denen ihr Rolf Bartels erzählt hatte, waren das mehr als 20.000fache dessen! Dafür lag das aber auch mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, und wie Wissenschaft und Technik sich in dieser Zeit weiter entwickelt hatten, wusste sie nur zu gut.
Francois fuhr fort: „aber gerade einmal zwei Jahre später brachte es das Protonen-Synchroton auf 28 Giga-Elektronenvolt, also schon 50 mal so viel. Wahnsinn, wie schnell das damals schon ging, oder?“
Julia nickte nur und sah ihn interessiert an.
Francois erzählte ihr im Verlauf den nächsten Stunde von der weiteren Entwicklung, von den Nobelpreisträgern, die am CERN ihre grundlegenden Arbeiten gemacht hatten. Von den Beschleunigern, von denen einige schon nicht mehr in Betrieb waren, und den zahlreichen Experimenten zur Grundlagenforschung. Einiges davon kannte Julia schon, aber vieles war eben doch neu für sie.
Nach dem mittlerweile dritten Grappa und dem dann doch zweiten für Julia schloss er: „Und das alles hat mich schon als Junge begeistert. Aber ich war eine Niete in Naturwissenschaften, und so war es mir nicht vergönnt, selber mitzumischen. Dafür konnte ich schon immer gut Geschichten schreiben und Dinge in kurze, knappe Worte fassen, und so bin ich über Umwege in der Presseabteilung gelandet.“ Er machte eine Pause und blickte in sein leeres Glas, als ob die ganze Geschichte dort wie in einem Film noch einmal ablaufen würde. Dann sah er Julia an. „Tja, ich glaube, damit habe ich dir auch genug erzählt. Zumindest fällt mir für den Moment nichts mehr ein. Aber wenn du willst, ruf mich einfach an, wenn du noch was wissen willst. Meine Nummer findest du im elektronischen Telefonbuch.“
„Das mache ich bestimmt. Und du hast Recht, mir raucht der Kopf. Aber es war sehr interessant und es war ... schön mit dir. Du kannst einen richtig begeistern.“
„Das ist schließlich mein Job hier. Aber es freut mich natürlich, wenn du das auch so siehst. Warte mal kurz, ich komme gleich wieder.“
„Er stand auf und ging Richtung Eingang. Er dauerte nicht lange, bis er wiederkam und sich auf die Kante seine Stuhls setzte. „So, wollen wir?“
„Aber wir müssen noch bezahlen.“
„Das ist erledigt. Und bitte fang jetzt nicht an zu protestieren“, sagte er mit einem Lächeln. „Es war mir ein Vergnügen, dich einzuladen.“
Julia fühlte sich für einen Augenblick nicht wohl in ihrer Haut. Aber schließlich sagte sie sich, dass das nichts Ungewöhnliches war, wenn ein Mann eine Frau beim ersten Date einlädt. Erstes Date? Sie ertappte sich dabei, dass sie sich wirklich so fühlte wie beim ersten Treffen mit einem zukünftigen Partner. Aber nein, das war hier rein fachlich. Oder doch nicht? Sie war sich absolut unsicher.
„Na gut. Vielen Dank. Das war alles richtig lecker. Aber beim nächsten Mal bin ich dran, ok?“
Francois sah ihr direkt in die Augen. „Beim nächsten Mal?“ Und nach einer kurzen Pause, als Julia nichts erwiderte: „Aber gern.“
„So, und jetzt muss ich nach Hause. Ich habe morgen ein ziemlich volles Programm.“ Sie stand auf.
„Das kann ich mir gut vorstellen.“ Er folgte ihrem Beispiel, und sie verließen das Restaurant. Vor der Tür blieben sie unschlüssig stehen.
„Ich muss in diese Richtung“, sagte Julia und wies nach rechts.
„Das trifft sich gut, ich auch.“ War das nun wahr und ein reiner Zufall oder ein billiger Trick von ihm? Egal, manchmal ist das eben so. Sie gingen langsam los und genossen schweigend die kühle Abendluft, die ihre Gedanken wieder etwas klarer werden ließ. Nach ein paar Minuten begann Julia zu frieren. Das lag wohl am Alkohol, von dem sie etwas zu viel hatte. Ohne zu überlegen schmiegte sie sich an Francois, der auch prompt den Arm um sie legte. Sie ließ es geschehen und genoss seine Nähe. Im Laufe des Abends hatten sie sich zwar wirklich fast ausschließlich über Fachliches unterhalten, aber die Art und Weise wurde zunehmend vertrauter. Sie hatte das Gefühl, dass die Chemie zwischen ihnen stimmte. Völlig losgelöst von den Informationen, die sie sich noch von ihm erhoffte.
Ohne dass ihr es bewusst wurde, stand sie plötzlich vor dem Haus, in dem sich ihre Wohnung befand. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht merkte, wie automatisch sie den Weg bereits nach den zwei Wochen gegangen war.
„Hier wohne ich. Nochmal danke für den schönen Abend und das leckere Essen. Musst du noch weit?“
„Nein, vielleicht zehn Minuten. Ich fand es auch sehr schön. Du bist sehr interessiert und aufgeschlossen. Das gefällt mir an dir. Die meisten sind eher auf ihr Thema fixiert und an dem Drumherum kaum interessiert. Du bist da anders. Und, bitte versteh mich jetzt nicht falsch, du bist mir sehr sympathisch.“
„Du mir auch“, sagte sie ohne zu überlegen. „Ich habe das schon richtig verstanden. Nämlich so.“ Sie gab ihm einen zarten Kuss direkt auf den Mund.
Francois hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Er sagte nichts, zog sie aber an sich und küsste sie nun seinerseits. Sie erwiderte seinen Kuss mit Leidenschaft. Ihr Atem ging schneller, und sie presste sich fest an ihn.
„Wenn du noch etwas Zeit hast, kann ich uns noch einen Kaffee machen“, grinste sie ihn an.
„Auf diese rhetorische Frage willst du bestimmt keine Antwort, oder?“
Sie schloss die Haustür auf. „Komm. Ist im zweiten Stock.“
Oben angekommen ließ sie ihre Jacke auf den nächsten Stuhl fallen, kickte die Schuhe von den Füßen und ging Richtung Küche. Er sah sich in der Wohnung um, die ziemlich spartanisch eingerichtet war. Na klar, war ja auch nur für ein paar Wochen, die das Praktikum dauern sollte.
Sie kam mit zwei Tassen zurück. „Milch und Zucker?“
Anstelle einer Antwort nahm er ihr die Tassen aus den Händen und stellte sie auf den Tisch. Er zog sie an sich und küsste sie erneut. Der Kaffee war komplett zur Nebensache geworden.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, stand er bereits in der Küche und versuchte sich an der Kaffeemaschine.
„Na, gut geschlafen?“ fragte sie.
„Geht so. Ich bin es nicht gewohnt. Es war doch etwas eng.“
Sie wunderte sich über diese Antwort. Das hatte sie nicht erwartet. Aber vielleicht war er eben so. Aber als er auch ihren guten-Morgen-Kuss nicht erwiderte, fragte sie ihn: „Ist irgendwas? Bereust du es?“
Er sah sie an. „Nein, das nicht. Ich weiß nur nicht, ob es richtig war. Entschuldigung, das hat nichts mit dir zu tun.“
„Sondern?“
„Ich weiß nicht. Aber jetzt frühstücken wir erstmal. Und dann fahren wir zum CERN. Wir können ja rein zufällig gemeinsam dort ankommen.“
Julia war nicht wohl bei dieser Antwort. Was sollte diese Geheimnistuerei? War sie doch nur eine von vielen, gut genug für eine Nacht? Sie ging ohne ein weiteres Wort ins Bad und duschte ausgiebig. Als sie zurück kam, saß er mit einer Tasse Kaffee auf dem Sofa, eine zweite Tasse stand auf dem Tisch.
„Komm, setz dich. Ich habe kein Brot oder Brötchen gefunden. Aber wir können uns auf dem Weg beim Bäcker was holen.“
„Lass nur. Wenn du willst, kannst du schon vorgehen. Ich muss ohnehin noch ein paar Dinge erledigen, bevor ich ins Institut fahre.“
Sie wunderte sich, wie leicht ihr diese Lüge über die Lippen kam. Aber ihr Bauchgefühl ließ sie nicht los. Hier stimmte etwas nicht. Das herauszufinden brauchte Zeit. Aber andererseits war die Nacht unbeschreiblich schön und intensiv. Vielleicht hatte seine Laune wirklich nichts mit ihr zu tun. Da war ein wenig Abstand genau das Richtige. Sie würden sich ja bestimmt in den nächsten Tagen wiedersehen.
Aber Francois Delandres Büro blieb für den Rest der Woche leer, und seine Sekretärin gab ihr die Auskunft, er sei für ein paar Tage dienstlich unterwegs.