Читать книгу Mygnia - Die Begegnung - Thomas Linz - Страница 6
Köln
ОглавлениеHeiner Marquardt saß an demselben Samstagabend mit seiner Tochter und seiner Frau in der Kölner Altstadt in einem kleinen, aber feinen Restaurant. Die Lammkeule war hervorragend gewesen, und sie hatten ihr Besteck nach dem letzten Bissen abgelegt. Nun erzählten sie sich bei der zweiten Flasche Tempranillo, was sie in der letzten Zeit erlebt hatten.
Julia war sein einziges Kind. Sie war schon immer an Physik und Astronomie, ja eigentlich an allen Naturwissenschaften interessiert und hatte ihn so manches Mal mit ihren bohrenden Fragen in Verlegenheit gebracht. Er war froh, wenn er sich dann zumindest ein wenig bei Wikipedia oder auf anderen Internetseiten kundig machen konnte. Aber irgendwann musste er sich und auch ihr eingestehen, dass das nicht mehr reichte. Mit ihren kurzen blonden Haaren, der schlanken Figur, den Sommersprossen rund um die Nase und vor allem ihrer Spontaneität und Ungezwungenheit machte sie alles andere als einen streberhaften Eindruck, aber mit ihrem hervorragenden Abitur konnte sie sich quasi einen Platz für ihr Physikstudium aussuchen. Zusammen mit einer Freundin zog es sie daher vor ein paar Jahren nach Freiburg und sah ihre Eltern nur noch alle paar Monate.
Nun war sie seit einer Woche in Genf und machte ein Praktikum in der wohl berühmtesten Kernforschungsanlage der Welt, dem Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire, der Europäischen Organisation für Kernforschung, kurz CERN. Sie war durch ihren Professor an die Stelle gekommen und sollte ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der Elementarteilchen vertiefen. Mit ihren 23 Jahren hatte sie ihr Physikstudium in Rekordzeit und sehr guten Noten bereits fast hinter sich. Für ihre Promotion, die sie beabsichtigte wieder in Freiburg zu machen, wollte und durfte sie die Ergebnisse der Arbeit im CERN verwenden.
„Los Julia. Nun erzähl doch mal vom CERN. Ich habe zwar schon ein bißchen davon gehört und gelesen, aber du hast doch bestimmt schon Insiderwissen. Was sind denn da so für Leute? Was musst du denn machen? Läuft da wirklich so ein gruseliges Experiment, bei dem schwarze Löcher erzeugt werden?“
„Nun mach mal langsam,“ lachte Julia. „So viele Fragen kann ich mir doch gar nicht merken. Ich fang mal hinten an. Also, zu diesem Experiment kann ich nicht viel sagen. Ich weiß nur, dass sie am LHC versuchen, neue Teilchen zu entdecken. Und dafür werden nun Protonen mit besonders hohen Energien aufeinander geschossen.“
„Moment. Ich habe zwar davon schon gelesen, aber erklär doch nochmal, was ein LHC ist.“
„Sorry, ich war wieder in meinem Element. LHC steht für ´Large Hadron Collider´, das ist ein unterirdischer Ringtunnel von 26,7 km Länge, in dem durch Magnetfelder Teilchen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden und dann aufeinander prallen. Durch den Zusammenstoß entstehen neue Teilchen, die über komplizierte Detektoren analysiert werden. Schonmal davon gehört?“
„Es wird wohl seinen tieferen Sinn haben, dass man so viel Geld für diese Experimente ausgibt.“
„Naja, es ist halt Grundlagenforschung. Irgendwann haben wir so viel Verständnis von der Welt um uns herum, dass wir Dinge tun können, von denen wir heute nur in Science-Fiction-Romanen lesen können.“
Nun schaltete sich Simone, Heiners Frau ein. „Was wäre das denn zum Beispiel? Ich meine, wir haben doch alles zum Leben. Und uns geht es wahrlich gut.“
„Es geht auch nicht um die Lebensgrundlage für heute. Sondern für die Zukunft. Irgendwann müssen wir uns vielleicht nach neuen Lebensräumen umsehen, weil die Erde nicht mehr bewohnbar ist. Oder sich einfach zu viele Menschen um die knappen Ressourcen streiten. Daher auch die Suche nach anderen Planeten, die der Erde ähnlich sind und vielleicht eines fernen Tages von uns besiedelt werden könnten. Die heißen übrigens Exoplaneten“
„Aber die Entfernung ist doch viel zu groß. Das ist doch alles reine Fantasie.“
„Pass auf. Ein Vergleich. Hol mal dein Telefon raus.“
Sie legte ihr Smartphone auf den Tisch. „Was hat das denn damit zu tun?“
„Ganz einfach. Was wäre, wenn du Deinem Opa gesagt hättest: in 40 Jahren gibt es Telefone, die kein Kabel mehr haben. Es sind mehr oder weniger Glasscheiben mit etwas Elektronik, die in jede Tasche passen. Und zudem gibt es einen weltumspannenden Computer, so möchte ich mal das Internet nennen, der unbegrenzt alle möglichen Informationen zur Verfügung stellt. Und mit dieser Glasscheibe kannst du nicht nur in alle Ecken dieser Welt telefonieren, sondern du kannst auch nachsehen, ob dein Zug Verspätung hat oder wie das Wetter in drei Tagen wird. Was meinst du, hätte er gesagt?“
„Tja, so gesehen hast du allerdings Recht. Er hätte mich für eine Spinnerin gehalten. Aber was hat das nun mit deinen Planeten zu tun?“
„du hast eben selber gesagt, dass diese Welten viel zu weit weg sind. Das stimmt, von unserem jetzigen Standpunkt aus gesehen. Ich erklär´s dir mit einem kleinen Versuch. Nimm mal deine Serviette. Breite sie aus und mach auf die gegenüberliegenden Ecken einen Punkt. Einfach mit dem Rest Sauce. Was ist jetzt die kürzeste Entfernung zwischen den beiden Punkten?“
„Ha, das weiß ich noch. Immer die Gerade. Und da kann ich machen, was ich will. Das wird sich nicht ändern.
„Doch. Und damit sind wir beim Kern der Sache. In der Ebene der Serviette hast du Recht. Aber nun falte sie mal so, dass die beiden Punkte übereinander liegen. Wie groß ist die Entfernung jetzt?“
Schweigen. Simone sah sie lange an. „Du meinst wirklich, dass diese Experimente dazu dienen können, irgendwann sowas mit dem Raum zu machen? Um so diese immensen Entfernungen zu überbrücken?“
Heiner meldete sich zu Wort: „Ich kann mir das schon vorstellen. Überleg doch mal, wie rasant sich die Wissenschaft und unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.“
„Das genau ist es, was ich meine. Aber wiegesagt, davon sind wir noch weit entfernt. Vorstellen können wir uns das mit unseren Sinnen nicht, aber Albert Einstein, Steven Hawking und einige andere sind fest davon überzeugt, dass es irgendwann funktionieren wird. Die theoretische Physik mit ihren mathematischen Modellen beweist uns schon heute, dass es mehr als nur die drei Dimensionen gibt. Oder besser gesagt, die vier, wenn ihr die Zeit mitrechnet.“
Simone war nachdenklich geworden. „Das klingt sehr überzeugend. Und ich habe das letztens irgendwo gelesen. War da nicht ein Artikel in der Zeitschrift Abenteuer Universum ?“
„Stimmt,“ pflichtete Julia ihr bei. „Aber ich bin mir nicht sicher, was davon wirkliche Wissenschaft war und inwieweit der Autor seine Fantasie hat mitspielen lassen. Diesen Journalisten kommt es doch ohnehin nur auf die Anzahl der potentiellen Leser an und erst in zweiter Linie auf richtigen Inhalt“, schimpfte sie merklich lauter. Erschrocken blickte sie sich um, aber von den anderen Gästen nahm keiner Notiz davon.
„Das klingt, als ob du schlechte Erfahrung gemacht hast“, forschte Heiner.
„Es wurde zwischendurch doch ziemlich lästig durch diese verdammten Demonstranten, die uns ständig belagern und mit ihrem nicht mal Halbwissen auf die Nerven gehen. Das CERN steht ohnehin im Fokus der Öffentlichkeit. Aber die Risikobewertung für diese Experimente ist extrem umfangreich und mit den Behörden bis ins Kleinste abgestimmt. Da passiert nichts, was wir nicht ruhigen Gewissens vertreten können. Schließlich sind wir diejenigen, die am nächsten dran sind und die Konsequenzen als erste zu spüren bekommen.“
Ihre Mutter schaltete sich wieder ein: „Die haben da von Parallelwelten geschrieben in dem Artikel. Wobei eine Art Tor sich durch diese Experimente öffnen soll, durch das Menschen verschwinden oder Wesen aus anderen Welten auf die Erde kommen können. Also für mich klingt das wirklich wie Spinnerei.“
„Da wäre ich vorsichtig“, widersprach Julia. „Denk an den Vergleich mit dem Handy. Nicht alles, was du heute für Spinnerei hälst, ist auch wirklich unmöglich.“
Heiner wurde plötzlich heiß. Er sank in seinen Stuhl zurück. Ihm kam ein furchtbarer Gedanke. Sollte er sein Erlebnis von gestern erzählen? Wie würden Julia und Simone reagieren? Hielten sie ihn dann auch für einen Spinner? Aber die Antwort wurde ihm mehr oder weniger abgenommen.
„Was ist mit dir, Schatz“, fragte Simone. „Ist dir nicht gut?“
„Doch doch, alles ok. Ich habe nur gerade überlegt, ob ich euch erzählen soll, was ich gestern vor dem Rückflug in Tegel gesehen habe.“
„Wieso? Was war denn? Nun zier dich nicht. Jetzt hast du uns neugierig gemacht, also raus mit der Sprache“, forderte ihn Julia auf. „Das klingt ziemlich spannend, so wie du gerade aussiehst.“
Heiner war gedanklich aber schon wieder beim letzten Abend. Wie in einem Zeitlupenfilm liefen die Bilder vor seinem inneren Auge ab. Er versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern, aber je angestrengter er nachdachte, desto verschwommener wurde die Erinnerung. War es wirklich keine Spiegelung im Cockpitfenster? Nein, das konnte nicht sein, denn die Maschine war ja in Bewegung, das Licht verharrte aber an einer festen Stelle über dem See. Und die anderen, einschließlich der Kollegen im Tower, hatten es auch gesehen. Die Worte von Julia hallten noch in seinem Kopf: nicht alles, was du heute für Spinnerei hälst, ist auch wirklich unmöglich . Es konnte also gut sein, dass er Zeuge von etwas geworden war, von dem andere Menschen nur träumten.
„Also, ähm, ich war gerade auf dem Weg zur Startbahn, da habe ich über dem Wald am Flughafensee eine Art Lichtsäule bemerkt. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen, aber ihr kennt doch den Film Thor , die Szene, in der er das erste Mal auf die Erde kommt. So ähnlich sah das aus. Nur dass das hier wirklich da war und nicht aus dem Computer kam wie im Film.“
Julia und Simone sahen ihn erschrocken an. Julia fixierte ihn regelrecht und wartete, ob noch mehr kam. „Wem hast du sonst noch davon erzählt?“ fragte sie.
„Erzählt? Alle Passagiere und er Tower haben es auch gesehen. Die offizielle Erklärung war eine nicht genehmigte Lightshow im Wald. Aber ich habe etwas gespürt. Das hat etwas mit mir gemacht. Haltet mich jetzt bitte nicht für verrückt. Es ist wirklich so gewesen. Ich kriege schon wieder eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.“ Seinem Gesichtsausdruck nach schien er wirklich sehr mitgenommen zu sein von der Sache.
„Verrückt bist du sicherlich nicht“. Julia blickte gedankenverloren auf ihr fast leeres Glas. „Du warst vielleicht Zeuge eines ganz besonderen Fluges. Ich habe da ein ganz ungutes Gefühl. Ich frage mich gerade, warum ausgerechnet du etwas gespürt hast und die anderen nicht. Vielleicht war es deine Position im Cockpit und das elektromagnetische Umfeld, was dieses Gefühl bei dir so deutlich hat hervortreten lassen. Aber bitte, das ist eine sehr vage Vermutung.“
Heiner sah sie verunsichert an. „Und was soll ich jetzt machen?“ Was ist, wenn das wieder passiert?“
„Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass sich das so schnell und genauso wiederholen wird. Aber eines: wenn ich dich jemals um etwas gebeten haben sollte, vergiss es. Nur lass es allen anderen gegenüber bei der offiziellen Erklärung bewenden.“