Читать книгу Karlchen - Thomas Matiszik - Страница 18
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Оглавление„Mein Gott, wie siehst du denn aus?“ Modrich war der Weg ins Präsidium diesmal wie eine Ewigkeit vorgekommen, obwohl er nur zehn Minuten gebraucht hatte und die Straßen erstaunlich leer waren. An der einzigen Ampelkreuzung hatte er sich um ein Haar noch mal übergeben. Die Ampel stand natürlich auf Rot, und Modrich musste unweigerlich an das denken, was er kurz zuvor in den Flokati gespuckt hatte. Farblich erinnerte ihn das an Hubba Bubba Himbeere, aber dann kam ihm der Geruch wieder zurück ins Gedächtnis und trieb ihm die Magensäure hoch. Er öffnete die Fahrertür und seinen Mund, heraus kam allerdings ein langgezogener Rülpser. „Na Mahlzeit, Modrich! Ich nehme an, bei dir hat Herr Meulengracht wieder Einzug gehalten?“ Modrich war nass bis auf die Haut. Sein Kreislauf hatte magische Drehmomente angenommen. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich einfach irgendwo hinzulegen und tief durchzuatmen. Und auch wenn der zinnoberrote Läufer in Guddis Büro ihn irgendwie daran erinnerte, was noch vor einer knappen halben Stunde zu Hause passiert war, konnte er seinem Bedürfnis nicht widerstehen und ließ sich vor Guddi auf dem Teppich nieder. „Hoppala, ich habe ja schon einige Kater an dir gesehen, aber der heute ist sicher kein Miezekätzchen, richtig? Oder hast du wieder vergessen, eine Ibu einzuwerfen?“ Modrich lachte völlig hysterisch los und verschluckte sich dabei an seinem – noch immer alkoholhaltigen – Speichel. Ungefähr zehn Minuten später saß er zusammen mit Guddi bei Kurt Heppner, dem Polizeichef. Peers Kopf war immer noch puterrot, nachdem ihm sein eigenes Sputum einen zweiminütigen Hustenanfall vom Allerfeinsten beschert hatte. Guddi hatte es zwischendurch wirklich mit der Angst zu tun bekommen und war kurz davor, einen Notarzt zu rufen. Nachdem Peer jedoch ein weiteres Mal oscarreif gerülpst hatte, stellte sich bei ihm wieder eine regelmäßige Atmung ein. Es war fast so, als habe der dämonische Herr Meulengracht seinen Körper mit einem gekonnten Sprung verlassen. „Oh Mann“, stöhnte Modrich, „so schlimm war’s schon lange nicht mehr! Wenn ich beim nächsten Mal wieder vergesse, eine Ibu zu nehmen, bevor ich ins Bett gehe, darfst du mir höchstpersönlich eine runterhauen!“
Kurt Heppner stand kurz vor der Pensionierung. Er kannte den Fall Ressler wie seine Westentasche, zudem war er mit Modrich senior immer noch eng befreundet. Peer hatte sich bereits mehrmals Vergleiche mit seinem Vater anhören müssen, und auch, wenn er ein völlig anderer Ermittlertyp als sein Vater war, so haftete doch der legendäre Name Modrich an ihm wie eine Klette und setzte ihn bei jedem neuen Fall immer wieder aufs Neue unter Druck. Er musste die Fälle nicht einfach nur lösen, er musste bei der Lösung und auch bei der Aufklärung wie ein Dirigent den Takt vorgeben, quasi so, als wüsste er immer im Voraus, was der vermeintliche Täter als nächstes tun würde. Dabei war seine Aufklärungsquote jetzt schon besser als die seines Vaters, aber so spektakulär wie Felix Modrich hatte eben niemand die Fälle gelöst.
„Was haben wir?“ Heppners Frage war kurz und knapp. Es nervte ihn zusehends, dass es offenkundig die Stimmen aus der Vergangenheit waren, die ihn wieder riefen. Den Fall Ressler hatte er innerlich bereits zu den Akten gelegt, auch wenn er ahnte, dass ein so böser Mensch wie Ressler erst dann aufhören würde, anderen wehzutun, wenn er unter der Erde lag. „Silke Brodner, zwanzig Jahre alt. Sie wird seit fünf Tagen vermisst. Zuletzt gesehen haben sie ihre drei Freundinnen, mit denen sie am Freitag vergangener Woche in Bochum war, offenbar um ein wenig zu feiern.“ Guddi machte eine Pause, gerade so, als wollte sie das Drama um Silke noch künstlich aufwerten. Eine Unart, wie Modrich schon immer fand. „Ihre Eltern haben sie gestern vermisst gemeldet, nachdem sie sich nicht wie verabredet zum Abendessen anlässlich des 55. Geburtstages ihres Vaters hat blicken lassen.“ „Und es ist ausgeschlossen, dass sie einfach keinen Bock auf den Geburtstag ihres Dads hatte? Ich meine, sie ist zwanzig, oder? Da hat man doch auch schon mal andere Dinge im Kopf als Familienfeierlichkeiten …!“ „Nein, Peer, glaub mir, auch ich habe sofort daran gedacht und ihren Eltern direkt diese Frage gestellt. Sie hatte sich offenbar zusammen mit ihrer Mutter ein ganz besonderes Geschenk ausgedacht, das sie ihm gemeinsam überreichen wollten.“ Guddi schaute Modrich neugierig an. Peer schien mit ihren Ausführungen nicht zufrieden zu sein. „Was kann das denn für ein ‚besonderes Geschenk‘ gewesen sein? Vielleicht ein Salsa-Tanzkurs? Oder vielleicht eine Zehnerkarte für den Puff? Ich bitte dich. Wie oft hatten wir schon den Fall, dass Eltern glaubten zu wissen, was in den Köpfen ihrer Sprösslinge vorgeht – um dann eines Tages festzustellen, dass der liebe blonde Junge mit dem Engelsgesicht Konvertit ist und sich in einem Terrorcamp in Afghanistan ausbilden lässt!“ Guddi und Heppner warfen sich rasch einen Blick zu. „Frau Faltermeyer, wie Sie sehen, ist Kollege Modrich heute wieder etwas neben der Spur. Sein Zynismus ist atemberaubend, aber im Moment nicht wirklich zielführend, wie mir scheint. Dennoch würde auch ich gern wissen, was das genau für ein Geschenk war?!“ Guddi atmete tief durch: „Silkes Bruder ist vor zehn Jahren an Leukämie gestorben. Silke hatte als letzte, lebensrettende Maßnahme Knochenmark gespendet. Zwischen beiden Kindern herrschte eine tiefe Verbundenheit, fast wie bei Zwillingen. Den letzten gemeinsamen Urlaub hatten sie auf Fehmarn verbracht. Silke und ihre Mutter wollten ihrem Vater ein Wochenende dort schenken – sogar auf demselben Ferienhof wie damals.“ In diesem Augenblick kehrte Herr Meulengracht wieder in den geschundenen Körper von Peer Modrich zurück. Er rannte, so schnell es sein Zustand zuließ, Richtung Herrentoilette und ließ der Keramik Farbspektren zukommen, die sie – und alle anderen Keramiken auf diesem Planeten – bislang noch nicht gesehen hatte.
Es war also keine Einbildung. Peer betrachtete sein Spiegelbild auf der Herrentoilette, während die Spülung die letzten lockeren Bröckchen in die Kanalisation beförderte. „Ressler, du gottverdammtes Stück Dreck! Warum hast du damals überleben müssen?“
Mit einer Tasse starkem Filterkaffee kehrte er zurück ins Meeting. Guddi blickte ihn besorgt an, in Heppners Blick steckte ausschließlich Verachtung. „Ich bin mir sicher“, sagte Modrich völlig unvermittelt, „ich bin mir sogar sehr sicher, dass der Kleinen was passiert ist. Haben wir irgendeine Spur zur Lei … ähm, ich meine, wissen wir, wo sie sich eventuell aufhalten könnte? Hatte sie vielleicht einen Freund, von dem sie so enttäuscht worden war, dass sie leichtsinnig wurde und mit dem Erstbesten mitging, der zufälligerweise Ressler war und ihr nichts Gutes wollte?“ Guddi hatte ihren siebten Sinn eingeschaltet. Dies war der Moment, in dem Heppner nur noch ein Mü davon entfernt war, zu explodieren. Der Vortrag, den er Modrich halten würde, wäre lang und schmerzhaft. Die ewigen Vergleiche mit Modrich senior taten Peer natürlich nicht gut und würden weitere Meulengrächte nach sich ziehen. Guddi musste Peer also schützen. „Bei allem gebotenen Respekt, Herr Heppner: Wir haben bislang keinerlei Beweise dafür, dass Ressler dieses Mädchen gekannt, geschweige denn getroffen hat, richtig?“ Guddi wusste, dass sie sich auf verdammt dünnes Eis begab, aber dies war im Moment die einzige Möglichkeit, etwas Druck aus dem Heppner’schen Kessel und Modrich aus der Schusslinie zu nehmen. „Ich habe hier eine Liste mit den Mädchen, die Silke an jenem besagten Abend begleitet haben. Ich würde vorschlagen, wir bilden zwei Teams, die rausfahren und Befragungen vornehmen. Kollege Modrich und ich machen uns am besten gleich auf den Weg. Fetschner und Krauss sollten das zweite Team bilden. Bitte informieren Sie doch die beiden Kollegen – oder soll ich? Das dritte Team muss sich um die Aufklärung des Breisig-Falls kümmern. Das könnten die beiden neuen Kollegen machen. Dubinski und Stemmler.“ Guddi wandte sich Modrich zu und gab ihm zu verstehen, bloß nichts zu sagen. „Los, Peer, erheb dich. Lass uns auf dem Weg noch bei einer Apotheke halten und Drogennachschub für dich und deinen Kater besorgen.“ Dabei konnte sie sich ein breites Grinsen nicht verkneifen; aus dem Augenwinkel erkannte sie aber, dass Heppners Hals immer dicker wurde und sie nun vermutlich nicht mehr als drei Sekunden Zeit haben würde, das Büro ihres Chefs zu verlassen, ohne die Standpauke ihres Lebens zu erhalten. Sie hatte den Bogen überspannt. Auch wenn sie Heppner nicht wie einen Schuljungen behandelt hatte, so war bereits der Versuch strafbar. Einer wie Heppner musste immer alles unter Kontrolle haben und die nächsten Ermittlungsschritte selbstbestimmt vorgeben. Und plötzlich kam da so eine einfache Ermittlerin daher, die eben erst ihren Abschluss an der Polizeihochschule absolviert hat und meinte, ihm sagen zu müssen, wie er bei einem Mordfall vorzugehen habe. Ein Mordfall, der noch keiner war, wie Heppner sich in diesem Moment beruhigend einredete. „Kommen Sie bloß mit Ergebnissen zurück, Miss Marple!“, blaffte Heppner Guddi im letzten Moment an. „Wir sind es nicht nur den Eltern, sondern bald auch der Öffentlichkeit schuldig, das Mädchen zu finden. Denn sobald die Presse davon Wind bekommt, wird der komplette Fall Ressler wieder ausgegraben – und dann gnade uns allen Gott!“
Auf dem Weg zu Sarina Pierken, der ersten Zeugin, saßen Guddi und Peer lange Zeit schweigend in ihrem Dienstwagen. Modrich ging es nun spürbar besser, nachdem der Apotheker ihm eine Schmerztablette mit dem Zusatzwirkstoff Lysin verabreicht hatte. Hier hatte die Werbung einmal wirklich recht: Das Zeug wirkte in Minutenschnelle und blies Modrichs Kopfschmerzen einfach weg. Im Radio lief R.E.M.s „Losing My Religion“, was das Schweigen zwischen den beiden Ermittlern brechen sollte „Oh life, is bigger …“, trällerte Guddi und zog dabei ein Gesicht, als läge der gesamte Weltschmerz auf ihren schmalen Schultern. „Gott, wie ich diesen Song hasse“, giftete Modrich, als sei sein Kater wieder zurückgekehrt. „Zu ,Losing My Religion‘ und ‚Walking On Sunshine‘ tanzen ausschließlich Frauen. Fehlt nur noch ‚Bring Me Some Water‘ von Melissa Etheridge, dann übergebe ich mich gleich noch mal!“ „I thought that I heard you laughing!“ Guddi gab sich größte Mühe, noch lauter und schiefer als zuvor mitzusingen. „Modrich, tu mir bitte einen Gefallen und geh mir einfach nicht länger auf den Sack, ja? Ich hab dir da drinnen den Arsch gerettet und jetzt hab ich verdammt noch mal das Recht, zusammen mit Michael Stipe einen der besten Popsongs aller Zeiten zu singen. That’s meee in the corner!“