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‚Schmerzfrei!‘ Das war das Erste, das er dachte, als er am Morgen danach die Augen öffnete. Endlich verspürte er nicht länger diesen unangenehmen Druck im Kopf, genauer gesagt, exakt hinter seinen Augäpfeln. Gerade so, als wollten diese jeden Moment herausspringen und ein eigenes Leben beginnen. Zu dem Kopfdruck gesellten sich ungewöhnlich heftige Schweißausbrüche, die manchmal Stunden anhalten konnten und ihn davon abhielten, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Der Schweiß sammelte sich immer und immer wieder in kleinen Bächen in seinen Handflächen, sodass er während dieser Zeit jeglichen Körperkontakt vermied.

Ressler hatte es wieder getan. Fast drei Jahre nach dem letzten „Zwischenfall“ war der Drang, die Schmerzen auszuschalten, größer als die Kraft des Vortrags, den ihm Doktor Mayerling, sein Psychotherapeut, seit Monaten hielt: „Karl, Sie müssen Ihre Medikamente regelmäßig nehmen. Und denken Sie immer an das zentrale Thema unserer Sitzungen: Vermeiden Sie jeglichen Kontakt zu Minderjährigen! Schotten Sie sich ab. Suchen Sie sich Hobbys. Sammeln Sie Frösche, seltene Briefmarken oder schreiben Sie ein Buch! Hauptsache, Sie kommen auf andere Gedanken.“

Karl Ressler hatte angefangen, Haare zu sammeln. Er bestellte sie im Internet oder kaufte sie direkt bei einem Händler für Haarbedarf in der Stadt. Indische Haare hatten es ihm besonders angetan. Sie waren vollkommen. Pechschwarz, von makelloser Glätte und vollendeter Dichte. Schwarz war zudem Karls Lieblingsfarbe.

In Reih und Glied hingen die Haare an der Wand seines Hobbyraums, der sich im Keller des Mehrfamilienhauses befand, oder baumelten von der Decke. Er hatte sie entweder kunstvoll geflochten, glanzgebürstet oder mit roten Strähnen versehen und dann mit einer Reißzwecke ins Holz gedrückt. Sein rechter Daumen war davon bereits mit einer dicken Hornhaut überzogen – nachdem er anfangs starke rote Schwielen und Blutergüsse bekam. Die Haarsammlung war Resslers ganzer Stolz; das heißt, fast: Karl war ein Bee-Gees-Fan der ersten Stunde. Er besaß sämtliche Alben der Gebrüder Gibb, wie er sie fast zärtlich nannte; bei „Too Much Heaven“ hatte er zum ersten Mal geküsst. Franziska hieß sie. Das war 1981. Er war vierzehn, das Mädchen drei Jahre älter. Eine Stunde später hatte er versucht, ihr auf dem Damenklo der Stimbergschule die Unschuld zu nehmen. Als er feststellte, dass sie keine Jungfrau mehr war, ließ er von ihr ab. Die Anzeige von Franziskas Eltern ließ nicht lange auf sich warten, Karls Schulverweis war die glimpfliche Folge. Schlimmer war jedoch, dass seine Familie aus Oer-Erkenschwick fortziehen musste. Sein Vater war Tischler, selbstständig, seine Mutter einfache Hausfrau. Beide waren bis ins Mark erschüttert, als das mit Franziska herauskam – und der Flurfunk in Oer-Erkenschwick funktionierte schon immer vorzüglich! Karl war allerdings schon damals ein perfekter Lügner: „Sie hat mich verführt. Während des Tanzens fasste sie mir ständig an den Hintern und hauchte mir unanständige Worte ins Ohr. Ich war wie von Sinnen … ihr müsst mir glauben!“ Schließlich kauften sie ihm die Geschichte ab und fanden ein günstiges Häuschen im Grünen, am Ortsrand von Unna, wo sich Fuchs und Has sprichwörtlich „Gute Nacht“ sagten. Seine Schwester Meike hatte den Ortswechsel nicht mitgemacht. Meike war fünf Jahre älter als Karl und studierte zu dem Zeitpunkt an der Bochumer Ruhr-Uni. Mit sieben Jahren hatten ihre Eltern sie testen lassen. Dass bei ihr eine Hochbegabung festgestellt werden würde, war sonnenklar, konnte sie doch bereits mit fünf Jahren die Primzahlen bis in den dreistelligen Bereich runterbeten. Dass sich ihr IQ dann letzten Endes bei über 140 bewegte, überraschte allerdings alle Beteiligten. Die Ärzte rieten den Resslers, Meike sofort ein Schuljahr überspringen zu lassen, was damals, Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre, alles andere als einfach war. Das deutsche Schulsystem war noch auf dem Stand „vor dem Krieg“, wie ihr Vater betonte. Der Umbruch war gerade durch die erste große Schulministerkonferenz eingeläutet worden. Meike hatte also Glück, sie übersprang die Klasse, ging danach zum Gymnasium, wo sie die 7. Klasse übersprang und so mit siebzehn bereits ihr Abitur bestanden hatte. 1,3. Zweitbeste ihres Jahrgangs. Mit diesem außergewöhnlich guten Notendurchschnitt schrieb sie sich im Wintersemester desselben Jahres an der Ruhr-Universität für das Fach Psychologie ein, Schwerpunkt Psychoanalyse.

In der JVA in Castrop-Rauxel, wo sie nach ihrem Studium für einige Jahre arbeitete, nannte sie jeder nur die „Psychotante“. Das war durchaus respektvoll gemeint, schaffte sie es doch immer, die Motive der jugendlichen Täter so zu analysieren, dass sie nicht länger als perverse Monster angesehen wurden und sich das Verhältnis zwischen Vollzugsbeamten und Straftätern fortan deutlich verbesserte.

Karlchen

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