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EIN FIKTIONALER WECKRUF – ODER BALD WIRKLICHKEIT?

Keine Sorge, liebe Leser, natürlich ist all dies pure Fiktion. Aber die derzeitige Positionierung Deutschlands im weltweiten Wettbewerb um Zukunftstechnologien lässt uns fragen: Ist diese Fiktion wirklich komplett undenkbar?

Unsere jüngeren Mitarbeiter, allesamt studierte Köpfe mit internationalen Abschlüssen, bewerten das Szenario als „denkbar“, „möglich“, „cool“ oder „spannend“. Keinesfalls aber als unmöglich. Und Conny hatte bereits kurz nach der Übernahme von WhatsApp durch Facebook in einem Interview mit dem Focus am 19. Februar 2014 festgestellt, dass Facebook oder auch Google jederzeit BMW oder andere namhafte deutsche Firmen kaufen könnten. Damals erntete er für diese Aussage viel Kritik.

Wir sind uns dennoch sehr sicher: Würden wir mit diesem Szenario an breite Schichten der deutschen Bevölkerung herantreten, würde man uns als völlig irre bezeichnen. Dessen ungeachtet weckt diese Fiktion in uns sorgenvolle Erinnerungen an den Zeitraum zwischen 1995 und 2002, als vieles und für manche alles möglich schien und es zu Übertreibungen bei Zukunftsperspektiven, Unternehmensbewertungen und Firmenübernahmen kam, die sich für alle Beteiligten und für Deutschland rächten. Kann sich eine solche Entwicklung in der Zukunft wiederholen?

Die ersten Thesen zur Digitalisierung aus Sicht der Wissenschaft hat Thomas Anfang der 80er-Jahre als Assistent an der Universität Münster erarbeitet. Sie waren aus heutiger Sicht noch sehr allgemein gehalten. Promoviert hat Thomas später beim „Handelspapst“ Professor Dr. Bruno Tietz über den Einsatz von Bildschirmtext, dem damaligen Vorläufer von T-Online, im Handel. Mit den zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnissen zur Bedeutung und weiteren Entwicklung von Bildschirmtext und Online Services für den Handel muss man heute sagen: Fast alle Aussagen zu diesen Themenfeldern waren richtig, wenn auch einiges etwas länger gedauert hat.

Dieses Beispiel unterstreicht: Die Auswirkungen neuer Technologien werden in ihrer Anfangsphase ihrer Diffusion, also der Ausbreitung in einem sozialen System, häufig überschätzt. Später kommt es dann zu einer systematischen Unterschätzung – in der Regel auch als Reflex auf die Übertreibungen in der Anfangsphase. Zudem werden häufig das Beharrungsvermögen und die Reaktanz von Personen und vorhandenen Prozessen unterschätzt.

Fallbeispiele: Auch globale Konzerne können in der digitalen Welt untergehen

Ohne Frage könnte Google von seiner Finanzkraft und den Barreserven in Höhe von 121 Milliarden US-Dollar (Stand Q4/20191) her ohne Bankfinanzierung oder fremde Hilfe die Übernahme der Daimler-AG und der Tesla Inc. sogar in cash und sozusagen aus der Portokasse finanzieren. Wäre es völlig ausgeschlossen, dass ein Manager und Unternehmer wie Elon Musk die Übernahme der Daimler AG erfolgreich choreografieren könnte?

Was wäre, wenn er die Teile von Daimler weiterveräußerte, die nicht zu seinem Verständnis eines modernen und nachhaltigen Mobilitätsunternehmens passen, wie es im Jahr 2000 Jean-Marie Messier, der damalige Vivendi-CEO nach der 34-Milliarden-Dollar-Übernahme2 von Seagram durch Vivendi getan hat? Seagram war einer der führenden Getränke- und Entertainment-Konzerne der Welt und wurde nach seiner Übernahme durch Vivendi in seine Einzelteile zerlegt. Das Stammgeschäft, nämlich die gesamte Getränke-Division des nun größten Spirituosenherstellers der Welt, wurde für 8,1 Milliarden US-Dollar an Pernaud Ricard und Diageo verkauft. Das Musikgeschäft und die Universal-Filmstudios hingegen wurden in Vivendi integriert.

Oder wie es Chris Gent tat, der legendäre CEO von Vodafone. Er des-investierte nach der Übernahme der Mannesmann AG durch Vodafone alle Portfolio-Bereiche, die keinen Bezug zum Mobilfunkgeschäft hatten. Darunter das Stahl- und Röhrengeschäft, durch das Mannesmann über mehr als 100 Jahre zu einem der führenden deutschen Industriekonzerne aufgestiegen war. Von den alten industriellen Wurzeln blieb nach der Übernahme durch Vodafone nichts mehr übrig.

In der Rückschau war die feindliche Übernahme von Mannesmann durch Vodafone allerdings ein unnötiger oder – je nach Sichtweise – tragischer „Unfall“. Das Mannesmann-Management hatte in den letzten Stunden der Verhandlungen mit Vivendi über einen Merger der beiden Konzerne entscheidende taktische Fehler begangen und war zur Klärung der in letzter Sekunde aufgetretenen offenen Fragen für Jean-Marie Messier nicht mehr erreichbar. Es war ein Wochenende.

Thomas war als Board Member von Vivendi Zeuge, wie Jean-Marie Messier am Samstag, den 29. Januar 2000, seinem Board zwei Deals zur Abstimmung vorstellte: einen Merger mit Mannesmann – zu den von dessen Vorstand in letzter Sekunde aufgestellten Forderungen – und alternativ eine Kooperation mit Vodafone.

Das Board entschied sich aufgrund von Irritationen über das Verhalten des Mannesmann-Managements zu einer Zusammenarbeit mit Vodafone. Noch am selben Abend flog Chris Gent nach Paris und unterschrieb die entsprechenden vertraglichen Vereinbarungen. Diese Entscheidung kostete Mannesmann letztendlich die wirtschaftliche Unabhängigkeit, mit dem Ergebnis, dass der Name Mannesmann ebenso wie Seagram im heutigen Wirtschaftsleben keine Rolle mehr spielt.

Denken wir noch einmal an das Szenario einer Übernahme von Daimler durch Tesla und Alphabet. Was wäre, wenn Elon Musk den Sitz des Gemeinschaftsunternehmens von Stuttgart nach Kalifornien oder Texas verlagern würde? Was wäre, wenn er mit der alten Daimler-Unternehmenskultur und den hierarchisch tief gestaffelten Managementebenen dort radikal aufräumen würde?

Was wäre, wenn Tesla das Daimler-Portfolio ab dem fiktiven Datum 14. Juni 2021, also unmittelbar nach der Übernahme, nicht mehr als Automobilhersteller definieren würde, sondern den Gesamtkonzern Tesla-Daimler als „Verkehrstechnologie-Entwickler“ verstehen würde? Der Umsatz, den ein derart aufgestelltes Unternehmen mit dem „Automobilsoftware- und Service-Geschäft“ erzielt, würde höchstwahrscheinlich zukünftig den Umsatz, der mit dem Verkauf der Hardware (Autos) erwirtschaftet wird, deutlich übersteigen. Ähnliche Entwicklungen konnten wir in vielen anderen Bereichen der Wirtschaft beobachten.

Wir sind uns sicher: Würde dieses Szenario Realität, dann käme es in der deutschen Öffentlichkeit zu einem gewaltigen Aufschrei. Deutschland würde sich zunächst im kollektiven Schockzustand wiederfinden, danach in einem Aufruhr, um dann in Resignation zu verfallen. Die BILD-Zeitung befände sich in einem permanenten Erregungszustand, und die Politiker würden in gewohnter Manier versuchen, sich gegenseitig mit opportunistischen und populistischen Forderungen nach Schutz der deutschen Wirtschaft zu überbieten.

Die Wahrheit ist: Solche Reaktionen versuchen die Realitäten unseres Wirtschaftslebens zu verdrängen. Denn die Mehrheit unserer DAX-Konzerne liegt bereits heute in der Hand ausländischer Investoren.3 Dem Wirtschaftsprüfungsunternehmen EY zufolge beträgt dieser Wert zurzeit mehr als 55 Prozent.

Nach der Meinung zahlreicher Experten befinden wir uns nach der Phase 1 (Online Services) und 2 (Social Media) heute am Anfang der dritten Phase der digitalen Entwicklung (Digitalisierung aller relevanten Prozesse im privaten und wirtschaftlichen Bereich). Diese Phase wird in ihrem Verlauf in den nächsten Jahren vermutlich ähnliche Entwicklungen nehmen und damit verbunden Übertreibungen erleben, wie wir sie vom Übergang von der Phase 1 auf die Phase 2 kennen.

Mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit werden die neuen Internet Player versuchen, mit ihrer starken Marktkapitalisierung, ihren hohen Cash-Reserven und hohen Wachstumsraten die Transformation voranzutreiben, um in neue Branchen und Geschäftsmodelle vorzustoßen. Diese Entwicklung verstärkt nochmals zusätzlich den grundsätzlichen Trend zur Digitalisierung. Darüber hinaus wird sie durch die Tatsache verstärkt, dass die geringe Refinanzierungskraft der großen deutschen und europäischen Unternehmen bereits heute aufgrund ihrer niedrigen Marktkapitalisierung einen entscheidenden Nachteil im Wettbewerb mit amerikanischen und chinesischen Wettbewerbern darstellt.

Nach Meinung von Steve Case, dem Gründer von AOL, stehen wir am Beginn des „Internet 3.0“, wie er es in seinem Buch The Third Wave: An Entrepreneur’s Vision of the Future beschrieben hat. AOL hatte im Jahr 2000 unter der Führung von Steve das damals weltweit größte Medienunternehmen TimeWarner für 165 Milliarden US-Dollar übernommen; bis heute ist diese Akquisition nach der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone die zweitgrößte Firmenübernahme aller Zeiten.4 Bei aller späteren Kritik wurde Steve für seinen unternehmerischen Mut, seine Entschlossenheit und seine Weitsicht zum Zeitpunkt der Übernahme von TimeWarner rund um den Globus wie ein Rockstar gefeiert.

Steve glaubt, dass wir uns heute, 20 Jahre später, in einer vergleichbaren Entwicklung befinden wie damals, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die großen Tech-Konzerne ihre Kapitalkraft ausnutzen, um in andere Branchen vorzudringen, diese dann zu konsolidieren und zu transformieren. Ebenso wie wir sieht er in den vor uns liegenden Jahren unternehmerisch einmalige Chancen – eine Entwicklung, bei der aus seiner Sicht gerade jetzt Tatkraft und Mut gefordert sind, um neue Geschäftsmodelle und die Transformation von Konzernen und ganzen Branchen voranzutreiben. Hierbei geht es nicht nur um die Automobilkonzerne und Medienunternehmen.

Es ist nach allen vorliegenden Daten nicht ausgeschlossen, dass es so oder so ähnlich kommen könnte. Wir haben in Deutschland im Jahr 2000 und in den nachfolgenden Jahren kollektiv darin versagt, mit Augenmaß die Chancen zu ergreifen, die uns die Digitalisierung bietet. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung fragen wir uns: Ist die deutsche Gesellschaft heute auf diese Entwicklung vorbereitet, sodass sie die Digitalisierung tatsächlich als Zukunftschance begreift? Sind es die Politiker, die Unternehmer und die Manager in den Schlüsselbranchen unseres Landes? Und wo stehen wir im Vergleich zu anderen führenden Wirtschaftsnationen? Wir versuchen, diesen Fragen nachzugehen.

Zukunft verpasst?

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