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Das Phänomen des kollektiven Versagens und das Phänomen der zeitlichen Entkoppelung zwischen Ursache und Wirkung

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Unter den Erfahrungen, die wir beide – unabhängig voneinander – in den letzten 25 Jahren im Zusammenhang mit der Digitalisierung gemacht haben, möchten wir vor allem zwei Phänomene hervorheben, die uns helfen, bestimmte Entwicklungen und Verhaltensweisen rund um die Digitalisierung zu beschreiben und die Ursachen für die heutige Situation besser zu verstehen.

Das erste Phänomen bezeichnen wir als das „Phänomen des kollektiven Versagens“, das typischerweise einhergeht mit der Haltung der Verantwortlichen, keine Verantwortung für die Auswirkungen oder Ergebnisse einer Fehlentwicklung übernehmen zu wollen.

Dies betrifft bei der Digitalisierung den Sachverhalt, dass nicht einzelne Personen für die Tatsache verantwortlich sind, dass Deutschland im Bereich der Digitalisierung anderen Ländern hinterherhinkt. Vielmehr zeichnet für diese Entwicklung eine heterogene Gruppe von Wirtschaftsführern und Politikern verantwortlich, die sich in ihrem (Entscheidungs-)Verhalten wechselseitig beeinflusst haben, aufgrund welcher Ursachen auch immer. Als Konsequenz nahmen sie alle die gleiche unreflektiert ablehnende Haltung gegenüber der Digitalisierung ein.

Kommen wir zum zweiten Phänomen, dem „Phänomen der zeitlichen Entkopplung von Ursache und Wirkung“. Die Folgen des verlorenen Jahrzehnts waren keineswegs unmittelbar messbar oder spürbar. Nach unseren Beobachtungen treten die Auswirkungen einer solchen Fehlsteuerung auf volkswirtschaftlicher oder technologischer Ebene mit einer Zeitverschiebung von etwa zehn Jahren zutage.

Genauso wie die konjunkturell positive Entwicklung während der Ära Merkel ganz überwiegend nicht auf „politische Hexenkünste“ zurückzuführen war, sondern vielmehr auf die positiven Auswirkungen des zuvor eingeleiteten Reformprogramms „Agenda 2010“ der Regierung Schröder, waren die Folgen des verlorenen Jahrzehnts nicht unmittelbar auf der Ebene der Unternehmen und der Volkswirtschaft feststellbar, sondern werden erst heute, zehn Jahre danach, mehr und mehr sichtbar.

Die damals verantwortliche Manager- und Politikergeneration stand für ein nicht mehr zeitgemäßes Verständnis der Wirtschaft und der damit verbunden Geschäftsmodelle. Zum Teil ist diese Haltung zurückzuführen auf fehlendes Einfühlungsvermögen für moderne Trends und mangelnde Bereitschaft, sich mit neuen Technologien auseinanderzusetzen. Daher kann man sie auch als „Bewahrer“ bezeichnen.

Diese Kritik gilt auch für die führenden Beratungsgesellschaften, die ihrer Aufgabe nicht nachkamen, nachhaltige, zukunftsweisende Strategien zu entwickeln. Eine digitale Strategie sollte langfristig ausgerichtet sein und nicht nach den ersten Friktionen, wie sie sich beispielsweise nach dem Zusammenbruch des Neuen Marktes ergaben, zu einem entgegengesetzten Vorgehen führen. Aber genau so haben sich die Strategieberatungsunternehmen nach den Korrekturen an den Kapitalmärkten verhalten. Nicht der Verkauf von opportunistischen Beratungsleistungen mit dem Ziel der Maximierung der Stundensätze sollte das oberste Ziel eines Strategieberatungsunternehmens sein, sondern die langfristig richtige, nachhaltige Beratung des Klienten.

Heute haben sich vor allen Dingen die Manager aus dieser Riege in der Regel aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, eifrig bemüht, ihren „guten“ Namen zu schützen, während die ihnen nachfolgende nächste oder übernächste Generation „full time“ damit beschäftigt ist, ihre Hinterlassenschaften in digitaler Hinsicht zu ordnen und die (digitale) Zukunftssicherung ihrer Konzerne in letzter Sekunde vielleicht doch noch sicherzustellen. Und einige der oben Genannten besitzen auch heute noch die Chuzpe, Aufsichtsratssitzungen oder Parteiveranstaltungen, die sich mit digitalen Themen befassen, zu leiten oder diese mit ihrem wohlfeilen Rat zu begleiten.

Unglücklicherweise trug ein großer Teil der Manager aus dieser Gruppe – interessanterweise überwiegend Männer – Verantwortung für führende deutsche Konzerne in Branchen, die ganz besonders durch die Digitalisierung herausgefordert waren. Oder besser ausgedrückt, denen die Digitalisierung ganz besondere unternehmerische Chancen bot: Banken, Medien, Telekommunikation, Handel, Autos. Andere, vor allen Dingen die in lobbyistischen Bemühungen geübten Repräsentanten alter Industriebereiche, nutzten ihren Einfluss auf die Politik und Verbände, um die Digitalisierung unseres Landes und den – aus ihrer Sicht – „Spuk der New Economy“ so schnell wie möglich zu beenden. Im Rahmen der Corona-Krise erlebten wir zum ersten Mal, dass die starke Automobillobby beim Thema Kaufprämie kein unmittelbares Gehör mehr fand.

In diesem Zeitraum wurde in Deutschland nicht nur der Anschluss international verpasst. Viele Konzerne versäumten es darüber hinaus, sich frühzeitig auf die schon seit Mitte der 90er-Jahre absehbaren Effizienzsteigerungen einzustellen, die sich vor allen Dingen auf der Personalseite ergeben, wie zum Beispiel bei Banken und Versicherungen durch eine Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse.

So gesehen trägt eigentlich die Elite unseres Landes kollektiv Verantwortung dafür, dass Deutschland den Anschluss bei der Digitalisierung verpasst hat. Aber wir haben bis heute nicht gehört oder gelesen, dass auch nur eine der beteiligten Personen oder irgendeine Partei sich dazu bekannt hätte. Wie so häufig bei derartigen Fällen in Wirtschaft und Politik in unserem Lande ist wieder einmal „niemand“ schuld. Und ebenso weiß „niemand“, ob als unumgängliche Konsequenz des verlorenen digitalen Jahrzehnts nun das Jahrzehnt des „Ausverkaufs der deutschen Wirtschaft“ folgt.

Immer wieder hören wir von den oben genannten Personen: „Zu meiner Zeit waren wir noch richtig profitabel.“ Leider verstehen sie nicht, dass die Ursachen für das Dilemma von heute in der Zeit ihrer Verantwortung liegen. Erst in den folgenden Jahren und Jahrzehnten wird die volle Tragweite dieser Fehlentwicklung zutage treten, deren Ursachen im Zeitraum des verlorenen Jahrzehnts zu suchen sind.

Zukunft verpasst?

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