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1. Endstation

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Der Wärter nimmt mir die Handfesseln ab und gibt mir einen Stoß in die Auffangzelle, bevor er die Zellentür mit Getöse hinter mir wieder verriegelt. Eine unheimliche Stille empfängt mich. Etwa 100 Augenpaare stieren mich an; Panik steigt langsam in mir hoch – kalt und klamm. Am liebsten würde ich schreien, in die Zelle hineinbrüllen, dass ich unschuldig bin, doch irgendetwas schnürt mir die Kehle zu: Angst. Wie eine Person steht sie neben mir, übermächtig, ja riesig, meine Kehle in ihren ausgemergelten Händen. „Reiß dich zusammen!“, sage ich mir immer wieder lautlos, fast schon mantraartig: „Nun reiß dich schon zusammen!“ Furcht kann man sich hier im „Anibal Bruno“, dem brasilianischen Staatsgefängnis von Recife, am wenigsten leisten. Und so richte ich mich mit letzter Kraft innerlich auf, mache mich gerade und schaue in die Runde.

Etwa 100 Männer drängen sich in einer 60 Quadratmeter großen Zelle dicht an dicht. Neugierige Blicke durchdringen mich. Neugier, gepaart mit Wut über die eigene Ausweglosigkeit. Was soll ich jetzt machen? Ich spreche kein Portugiesisch und offensichtlich bin ich in der Runde auch der einzige Europäer. Mit Deutsch oder Englisch werde ich nicht weit kommen. Mein Bündel mit den Sachen, die ich mit in die Zelle nehmen durfte, umklammere ich, als wolle ich mich daran festhalten. Zahnbürste, Schreibzeug, drei T-Shirts, eine Hose und vier Unterhosen sind alles, was mir an Habseligkeiten geblieben ist. Und nun?

Plötzlich löst sich ein mittelgroßer Brasilianer aus der Menge und kommt auf mich zu. Er ist gehbehindert und zieht ein Bein nach. Die anderen Inhaftierten machen ihm Platz, kleinlaut, leise, ja fast schon unterwürfig. Ich blicke ihn an, in sein finsteres Gesicht, und mir läuft der Angstschweiß den Rücken hinunter. Was wird nun passieren? Wird mich der Unbekannte windelweich prügeln oder was hat das zu bedeuten? Ich setze alles daran, meinem Blick eine gewisse Festigkeit zu verleihen, auch wenn mir die Knie schlottern und ich am liebsten in mich zusammensacken würde.

Kurz vor mir stoppt der Brasilianer und gibt mir per Handzeichen zu verstehen, ihm zu folgen. Trotz seines Gehfehlers ist sein Gang Ehrfurcht gebietend. Er, der König, weiß, wo er hinwill, und seine Untertanen weichen ihm aus. Ich torkele hinterher, mir ist schwarz vor Augen und wenn ich mich nicht gleich setzen kann, breche ich hier inmitten der Meute zusammen. Der König der Zelle gibt mir zu verstehen, ich solle mich direkt an die Wand setzen. Ein anderer muss mir laut fluchend Platz machen. Was für ein Glück: Hier kann ich mich wenigstens zwischendurch anlehnen. Mir ist klar, dass ich soeben einen sonst hart umkämpften Platz zugewiesen bekommen habe. Ich sinke zu Boden, lasse mich an der kühlen Wand ganz langsam nach unten gleiten. Unmissverständlich macht der König mir klar, dass er als Anerkennung seiner Organisation meine T-Shirts und die Hose haben wolle, und sofort wechseln meine wenigen Habseligkeiten ihren Besitzer. Dafür habe ich für die nächsten Tage einen persönlichen Beschützer.

So langsam gewöhnen sich die eher dunkelhäutigen Zellengenossen an mich blassen Neuzugang und schnell wenden sich die Insassen wieder ihrem gewohnten Tagesablauf zu: Überall palavern sie, diskutieren erhitzt darüber, ob jemand sich zu breit macht, schreien sich an, schubsen und schlagen um sich. Andere sitzen einfach nur da wie ich und scheinen sich ihrem Schicksal ergeben zu haben. Wie gelähmt hocke ich immer noch an dem mir zugewiesenen Platz an der Wand und befinde mich in einem Schockzustand. Erst vor wenigen Tagen saß ich noch auf der Terrasse meiner Eltern in Pforzheim und habe ihnen voller Enthusiasmus von meinem geschäftlichen Vorhaben in Brasilien erzählt. Und heute, am 19.05.1997? Hier sitze ich nun in dem brasilianischen Bundesstaat Pernambuco in einem der berüchtigtsten Gefängnisse des Landes, das eigentlich Platz für 700 Insassen hat, aber mit vierfach so vielen Gefangenen belegt ist. Überfüllt ist auch diese Auffangzelle. Hier können die Häftlinge entweder stehen oder sitzen. An Hinlegen ist nicht zu denken – bei dem Gedränge …

Und so gesellt sich zu der Angst, die von nun an mein ständiger Begleiter sein wird, auch die Hoffnungslosigkeit. Die macht sich in meinem Herzen breit und erfüllt mich mit … nichts. Eine große Leere bemächtigt sich meiner und mir wird klar: Vielleicht ist diese Zelle das letzte, was ich in diesem Leben zu sehen bekomme. Auf der Polizeistation hatte man mir unmissverständlich klargemacht, dass es für mich in diesem Gefängnis keine Gnade geben werde, dass ich verrecken würde, chancenlos, familienlos und heimatlos. Das Anibal Bruno hat kein Mitleid mit mutmaßlichen Drogendealern.

Freiheit hinter Gittern

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