Читать книгу Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt - Thomas P Fenner - Страница 17
Die Eingliederung der drei Heissgetränke in die Alltagskultur des 19. Jahrhunderts
ОглавлениеBereits in der Frühen Neuzeit verzeichnete der Kaffeehandel beachtliche Zuwachsraten. Aber erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts erlangte der Kaffee breitere Popularität,44 als die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse im Zuge der ersten Globalisierungswelle zusehends dynamischer wurden.45 Das Prinzip der Selbstversorgung, welches für eine agrarisch dominierte Gesellschaft kennzeichnend war, wurde mit der einsetzenden Industrialisierung zugunsten einer räumlichen Spezialisierung der Wirtschaft aufgegeben.
Die Lebensweise in Europa und Nordamerika veränderte sich dadurch tiefgreifend: Die Arbeit in der Fabrik führte zu einer immer grösseren Nachfrage nach vorgefertigten und haltbaren Lebensmitteln, denn durch die langen Arbeitszeiten fehlte die Zeit für die Nahrungszubereitung zu Hause. Auf dieser Grundlage entfaltete sich die Lebensmittelindustrie,46 durch die sich der Kaffee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert endgültig vom Luxusprodukt zum Alltagsgetränk wandelte.47 Im Wesentlichen gab es drei Ursachen für die wachsende Beliebtheit des Heissgetränks:
Erstens verbilligte sich der Kaffee auf der Angebotsseite durch die Liberalisierung der Handelsverträge, den Abbau von Schutzzöllen sowie die Aufhebung der Navigationsakte, mit welcher 1851 die Handelsmonopole der Ostindienkompanien auf Kaffee fielen. Ebenso konnten mit neuen Transportmitteln wie der Eisenbahn und Dampfschiffen die Transportkosten wesentlich reduziert werden. Durch den Bau von Eisenbahnen ins Landesinnere wurde der Provinzstaat São Paulo zum wichtigsten Kaffeeanbaugebiet Brasiliens und Santos zum grössten Kaffeeausfuhrhafen der Welt.48 Die starke Ausweitung der Kaffeeproduktion in Lateinamerika und der Aufstieg Brasiliens zum weltweit bedeutendsten Kaffeehersteller – um 1900 wuchsen in Brasilien drei Viertel der gesamten Kaffee-Ernte – stellten eine wichtige Voraussetzung für den Siegeszug des Kaffees dar.49
Das südamerikanische Land reagierte dabei nicht einfach nur auf die Nachfrage auf dem Weltmarkt, sondern trug zur Schaffung dieser Nachfrage massgeblich bei. Denn durch die enormen Produktionsmengen sanken die Preise, und Kaffee wurde für immer grössere Bevölkerungskreise erschwinglich.50 Ausserdem führte die steigende Kaffeeproduktion in Lateinamerika zu einem wachsenden Kaffeekonsum in den Anbauregionen selbst, welcher dort traditionelle Getränke wie die Trinkschokolade oder Mate zu verdrängen begann.51
Zweitens gliederte sich der Kaffee auf der Nachfrageseite in verschiedenste Bereiche der europäischen Alltagskultur ein: Im Gegensatz zum berauschenden Bier wurde der Kaffee als ernüchterndes Getränk angesehen, das die Verständigkeit erhöht und Wahrnehmungsvorgänge beschleunigt.52 Nicht zuletzt aufgrund dieser Zuschreibung entwickelte sich der Gedankenaustausch bei einer Tasse Kaffee zu einer bürgerlichen Freizeitbeschäftigung, zu der sich die Männer ins öffentliche Kaffeehaus begaben. Die Frauen dagegen hielten das gemeinsame Kaffeekränzchen als exklusiv weibliche Angelegenheit im privaten Umfeld. Der Kaffeekonsum etablierte sich dadurch als Symbol und Habitus einer bürgerlichen Lebensführung.53
Drittens wurde der Kaffee parallel dazu in den industriellen Rhythmus der Städte integriert,54 indem das koffeinhaltige Getränk als leistungsförderndes Mittel in der modernen Arbeitswelt seinen Platz fand:55 Kaffeepausen unterbrachen die langen und monotonen Arbeitsgänge der Arbeiterschaft, wodurch das anregende Heissgetränk zu einem Medium der proletarischen Geselligkeit und zu einem Elixier der kurzfristigen Erholung wurde.56 Bei vielen Industriearbeitern verwandelte die Tasse Kaffee zudem eine kalte Mahlzeit in eine warme. Es gab Arbeiterfamilien, die tagelang nicht ordentlich zu Mittag assen, aber drei- bis viermal täglich Kaffee tranken. Das vorwiegend aus Zichorienkaffee bestehende Getränk war dabei nicht nur billiger, sondern auch zeitsparender als andere Lebensmittel und unterdrückte den Hunger und die Müdigkeit. Kartoffeln, Kaffee und Branntwein stellten laut Roman Sandgruber die Trilogie der Arbeiternahrung dar.57
Einzig im Britischen Empire, in Asien und Russland, wo Tee getrunken wurde, sowie in Spanien, wo das Schokoladegetränk sehr beliebt war, hatte der Kaffee geringen Erfolg.58 In Grossbritannien wurde der Kaffee im 18. Jahrhundert zunehmend durch den Tee verdrängt und ersetzt.59 Als 1833 schliesslich die Monopolstellung der englischen Ostindienkompanie (EIC) beseitigt wurde und das Zeitalter des britischen Freihandels begann, fielen in Grossbritannien die Teepreise. Der Teekonsum nahm daraufhin rasch zu und liess England ab 1850 zu einer Teetrinkernation werden. Entscheidend für den grossen Zuspruch auf der Insel war zudem, dass unter der britischen Krone in Ceylon und Indien neue Teeanbaugebiete entstanden und dieser Tee wesentlich günstiger war als derjenige aus China.60 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachten die Engländer die asiatische Pflanze auch nach Süd- und Ostafrika. Schliesslich fand der Teeanbau auch in Lateinamerika sowie im Kaukasus Verbreitung,61 wo Russland und die Türkei ihren Teekonsum durch eigene Produktion zu decken versuchten.62
Analog zum Kaffee vergesellschaftete sich der Teekonsum auch im Britischen Empire in den Anbauländern, dem Bürgertum und der Arbeiterschaft: Mit den britischen Teepflanzungen begannen auch die Inder selber Tee zu konsumieren, der dort mit der Milch gekocht und mit viel Zucker und Gewürzen gemischt wird. Gleichzeitig sickerte im Mutterland die aristokratische Tradition der «Tea Time» als Mittelpunkt des geselligen Beisammenseins in die bürgerliche Öffentlichkeit durch, wie die Verbreitung der öffentlichen «Tea Rooms» ab den 1870er-Jahren zeigt.63 Da Tee neben Wasser das preisgünstigste Getränk in Grossbritannien darstellte, erreichte er im 19. Jahrhundert auch die ärmsten Bevölkerungsschichten, wo das anregende Getränk zusammen mit Kartoffeln und Speck zur Arbeitermahlzeit gehörte.64
Der dritte Katalysator, der den Kaffee-, Tee- und Kakaokonsum antrieb, war schliesslich die industrielle Vorfertigung, welche das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag bei der Zubereitung wesentlich verbesserte.65 Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde die teure und mühsame Handarbeit bei der Kakaoherstellung durch Röst- und Knetmaschinen ersetzt.66 Der Kakao entwickelte sich dadurch langsam von der aristokratischen Luxusware zum alltäglichen Nahrungs- und Genussmittel.67
Auch die Kaffeezubereitung wurde durch die industrielle Vorfertigung wesentlich vereinfacht. Die Kaffeesurrogatindustrie verbreitete sich dabei wesentlich früher als die Röstkaffeeindustrie. Bereits um 1800 existierten in Braunschweig – dem Zentrum der deutschen Zichorienindustrie – 25 Fabriken.68 Bis um 1900 hatte sich die Ersatzkaffee-Industrie zu einem bedeutenden Geschäft entwickelt:69 Es darf angenommen werden, dass Ende des 19. Jahrhunderts über ein Drittel aller Kaffeeprodukte im Deutschen Reich in Form von Zichorien- und anderem Ersatzkaffee verkauft wurden, der gegenüber dem Bohnenkaffee etwa viermal billiger war.70
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzten Grossröstereien auch dem mühsamen Kaffeerösten von Hand ein Ende, indem die gerösteten Bohnen direkt beim Händler bezogen werden konnten.71 Entscheidend für diese Entwicklung waren die Erfindung der selbstentleerenden Röstmaschine durch Jabez Burns (1864) und der Sezessionskrieg (1861–1965), welcher der Kaffeeindustrie in den Vereinigten Staaten zum Durchbruch verhalf.72 In den folgenden Jahrzehnten entstanden in den Vereinigten Staaten bedeutende Röstkaffeeunternehmen wie Chase & Sanborn, und 1893 begann Joel Cheek, Bohnenkaffee unter der Marke Maxwell House zu verkaufen, der sich in den Vereinigten Staaten als Qualitätsprodukt etablierte.73 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Vereinigten Staaten zu einer Kaffeetrinkernation74 und stellten um 1900 weltweit das Land mit dem höchsten Kaffeeverbrauch dar.75
Auch in Europa nahm der Kaffeekonsum ab 1860 rasch zu und führte zu einer Industrialisierung der Kaffeeverarbeitung. Im späten 19. Jahrhundert entfaltete sich Douwe Egberts zu einem überregionalen niederländischen Kaffeeunternehmen, und deutsche Hansestädte stiegen durch die Handelsliberalisierung zu bedeutenden Kaffeehandelszentren auf. Die hanseatischen Kaffeehändler spezialisierten sich dabei auf die teuren Spitzenkaffeesorten. Aus dieser Tradition ging 1907 die Rösterei Jacobs in Bremen hervor, die sich später zusammen mit Tchibo aus Hamburg und dem 1924 gegründeten Versandhaus Eduscho zu den drei bedeutendsten Kaffeeunternehmen in Deutschland entwickelte.76
Die zunehmende Beliebtheit führte aber auch zu Kritik: Beispielsweise sah die Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Lebensreformbewegung im koffeinhaltigen Kaffee ein «unnatürliches Gift» und einen allgemeinen Ausdruck der «städtischen Nervosität», welcher durch den Rhythmus der Maschinen hervorgerufen wurde. Als gesunde Alternative propagierte sie stattdessen Zichorien-, Malz- oder Getreidekaffee.77 Ab 1905 stand kritischen Konsumenten zudem der koffeinfreie Kaffee zur Verfügung, der noch in den 1950er-Jahren ganz im Sinne der Lebensreformbewegung mit der Werbebotschaft «Für die Gesundheit – schont Herz und Nerven» beworben wurde.78
Weitere Vereinfachungen der Kaffeezubereitung erfolgten um 1900 mit der Erfindung der Espresso-Kaffeemaschine, die damals allerdings noch sehr teuer war und vorwiegend in öffentlichen Bars und Restaurants verwendet wurde,79 und der Entwicklung des Filterkaffees durch Melitta Benz (1908).80 Beide Techniken wurden in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt und sorgten dafür, dass der Kaffee in Nordeuropa gefiltert und in Südeuropa als Espresso getrunken wurde.81
Auch die Teezubereitung erfuhr mit dem maschinell produzierten Teepäckchen im späten 19. Jahrhundert und dem Teebeutel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Rationalisierung.82 Zu den Protagonisten dieser Entwicklung gehörte der Schotte Sir Thomas Lipton, der 1889 in den Teehandel einstieg und auf diesem Gebiet bald zum Prototypen des Masseneinzelhändlers wurde, der zwar mit kleinen Gewinnmargen, dafür umso grösseren Mengen operierte. Lipton konnte dadurch Skalenerträge nutzen und seinen Tee rund einen Drittel unter den handelsüblichen Preisen anbieten, was ihm bald eine führende Position im englischen Teegeschäft eintrug.83