Читать книгу Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt - Thomas P Fenner - Страница 19
Vom Norden in den Süden – Die Nestlé & Anglo-Swiss entwickelt sich zum globalen Milchunternehmen Kondensmilch, Kaffeekonserven und die Anfänge der Nestlé & Anglo-Swiss
ОглавлениеWährend in Brasilien der Kaffee- und in Indien der Teeanbau vorangetrieben wurde, spezialisierte sich die Schweizer Landwirtschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Anschluss an die Weltmärkte zusehends auf die Milchproduktion.110 Schliesslich waren es fremde Zuwanderer, die aufgrund ihrer Erfahrungen aus der Heimat das Potenzial der qualitativ guten Schweizer Milch zur industriellen Verarbeitung zuerst erkannten: der Deutsche Heinrich Nestlé aus Frankfurt und die Gebrüder Page aus Dixon in den Vereinigten Staaten, deren Firmen sich 1905 zur Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company zusammenschliessen werden.111
Charles Page hatte im Amerikanischen Bürgerkrieg als Korrespondent der «New York Tribune» die Potomac-Armee der Nordstaaten begleitet und dabei die grosse Nachfrage der Soldaten nach Kaffee mit Kondensmilch hautnah miterlebt.112 Nach Kriegsende wurde er als Handels-Vizekonsul der Vereinigten Staaten in die Schweiz, nach Zürich, berufen. Hier sollte er sich nach Investitionsmöglichkeiten für amerikanisches Kapital und nach Fachwissen umsehen. Die weit verbreitete Milchwirtschaft in der Schweiz erinnerte ihn daran, dass die gezuckerte Kondensmilch während des Sezessionskriegs eine sehr gefragte Nahrung in der Armee der Nordstaaten und in der Bevölkerung gewesen war. Vor diesem Hintergrund kam Charles Page auf die Idee, von der Schweiz aus die europäischen Grossstädte mit Kondensmilch zu versorgen, wo qualitativ gute Milch Mangelware war.113
Im Gegensatz zu den meisten Schweizer Lebensmittelunternehmen dieser Zeit gründete Page die Anglo-Swiss Condensed Milk Company114 am 23. April 1866115 bereits mit einem beachtlichen Kapital von 100 000 Schweizer Franken als Aktiengesellschaft und designiertes Grossunternehmen.116 Unkonventionell und unerschrocken hatte Charles Page amerikanische Freunde117 als Aktionäre seiner Milchgesellschaft um sich geschart, obwohl er noch über kein technisches Verfahren verfügte, um seine Vision zu verwirklichen. Parallel zur Gründung seines Unternehmens beauftragte er deshalb seinen jüngeren Bruder George, verschiedene Kondensmilchproduzenten in den Vereinigten Staaten aufzusuchen und näheres über deren Herstellungsverfahren herauszufinden. Ebenso wurde George von Charles angewiesen, bei Gail Borden Informationen zur Herstellung von Instantkaffee zu erlangen.
Auf diese Weise kam George Page mit Borden und anderen Milchsiedern in Kontakt. Diese klärten ihn erstaunlich freizügig über ihre Produktionsmethoden auf, da sie ihre Kondensmilch nur in Amerika absetzten und die Gebrüder Page in Europa nicht als Konkurrenten betrachteten. Es war allerdings nicht einfach, aus ihren Erklärungen schlau zu werden, denn viele dieser leidenschaftlichen Tüftler arbeiteten ohne klare Formeln und Rezepte. Trotzdem eignete sich Page immer mehr technisches Wissen an und begann daraus sein eigenes Kondensmilchverfahren abzuleiten.
Als die Gebrüder Page 1867 die Produktion in Cham aufnahmen, stellte ihre Siederei das erste Kondensmilchunternehmen in Europa dar.118 Wie die weltmännisch klingende Firmenbezeichnung Anglo-Swiss Condensed Milk Company erahnen lässt, visierten sie von Anfang an eine internationale Kundschaft an.119 Den hauptsächlichen Absatzmarkt sahen sie im frischmilcharmen Grossbritannien, wo die Milch als tägliches Lebensmittel immer wichtiger wurde: Mit der wissenschaftlichen Propagierung der Milch120 als besonders nährreiches «Volksnahrungsmittel» begannen wohlhabende Haushalte in den englischen Grossstädten regelmässig Milch vom Lande zu beziehen. In den Industriezentren war die Milch damals aber oft von schlechter Qualität, mit Wasser gepanscht oder von gefährlichen Krankheitskeimen durchsetzt.121 Deshalb erfreute sich die gezuckerte Kondensmilch der Anglo-Swiss, welche 1867 an der Weltausstellung in Paris und 1868 an der «Exposition Maritime» in Le Havre für ihre hohe Qualität Auszeichnungen erhielt, in den englischen Industriestädten sofort einer grossen Nachfrage. Aber auch als Proviant auf den neuen Ozeandampfschiffen gewann die eingedickte Zuckermilch rasch an Bedeutung, wodurch sich das Produkt in kurzer Zeit auf der ganzen Welt verbreitete.122
Bereits im ersten Jahr konnten 137 000 Dosen gezuckerte Kondensmilch unter der Marke Milkmaid123 abgesetzt werden. Die Chamer Milch war zwar teuer, lag aber voll im Trend der damaligen Zeit, was es dem Unternehmen dank seiner Vormachtstellung in Europa ermöglichte, beeindruckende Dividenden von bis zu 20 Prozent auszuschütten.
Es fiel der Anglo-Swiss deshalb auch leicht, zur Vergrösserung des Unternehmens und der Festigung seiner Marktstellung in Grossbritannien und Europa zusätzliche Investoren zu finden: Zwischen 1866 und 1875 stieg das Aktienkapital der Gesellschaft von 100 000 Schweizer Franken auf 2000 000 Schweizer Franken an.
Obwohl zahlreiche europäische Kondensmilchfabriken124 der Anglo-Swiss das Monopol streitig zu machen versuchten, war keine der Geschwindigkeit, mit der sich das Chamer Unternehmen ausdehnte, und seiner Kapitalkraft gewachsen. Während die Milchsiederei in Niederarnegg (in der Nähe von Gossau) und die Schweizerische Milchgesellschaft Moléson in Düdingen von der Anglo-Swiss aufgekauft wurden, mussten andere ihre Existenz während der Finanzkrise von 1873 aufgeben.125
Die schwere Wirtschaftskrise, welche nach einer mehrjährigen Wachstumsphase zwischen 1873 und Mitte der 1890er-Jahre zu sinkenden Preisen von Agrargütern führte, liessen den Ruf nach staatlichen Schutzzöllen der einheimischen Landwirtschaft vor billigen, ausländischen Importgütern laut werden.126 Damit zeichnete sich wirtschaftspolitisch eine zunehmende Abschottung der einzelnen Nationalökonomien ab. Die Anglo-Swiss begann deshalb in Grossbritannien, wo sie damals 75 Prozent ihrer Milchdosen absetzte, eigene Produktionsstandorte aufzubauen: Nachdem sie bereits 1869 in London eine eigene Verkaufsniederlassung gegründet hatte, errichtete sie 1874 eine neue Produktionsanlage in Chippenham und übernahm im gleichen Jahr die English Condensed Milk Company mit Fabriken in Middlewich und Aylesbury. Ebenso errichtete die Anglo-Swiss 1874 eine Produktionsstätte in Lindau am Bodensee.127 Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company war damit bereits 1874 ein multinationales Unternehmen. Die Schweiz blieb aber das wichtigste Produktionsland des Unternehmens.128
Mit der Übernahme des Hauptkonkurrenten in Grossbritannien erwarb die Anglo-Swiss 1874 ein Verfahren zur Herstellung eines mit Kakao aromatisierten Milchgetränks. Dies brachte die Unternehmensleitung wieder auf den Gedanken zurück, unter ihrer Qualitätsmarke Milkmaid aromatisierte Milchgetränke auf den Markt zu bringen. Da diese ohne grossen Aufwand mit denselben Produktionsmethoden wie die gezuckerte Kondensmilch hergestellt und damit «Economies of Scope» genutzt werden konnten, entschied sich die Anglo-Swiss schliesslich, drei Varianten in ihr Sortiment aufzunehmen: 1875 lancierte das Unternehmen neben Cocoa & Milk zusätzlich auch Chocolate & Milk und Coffee & Milk.129
Bei Cocoa & Milk und Chocolate & Milk handelte es sich um Mischungen aus Frischmilch, Zucker und Kakao, die unter Vakuumpfannen wie die gezuckerte Kondensmilch zu einer zähflüssigen Masse eingedickt wurden.130 Analog dazu stellte die Anglo-Swiss vermutlich auch Coffee & Milk her, wobei sie anstelle des Kakaos Kaffeebohnen und Zichorien beigab. Vom Produktionsverfahren her scheint der Milchkaffee der Anglo-Swiss also mit Bordens Kaffee-Kondensmilch verwandt gewesen zu sein. Zudem liessen sich seine rasch ansteigenden Verkaufszahlen wie bei Borden in erster Linie drauf zurückführen, dass Coffee & Milk den Russen im Russisch-Osmanischen Krieg als Soldatenverpflegung diente.
In England dagegen sah sich das Produkt einer starken Konkurrenz gegenüber, deren Erzeugnisse qualitativ besser waren. Dies traf insbesondere auf das Kaffeeprodukt von W. P. Branson zu, welches selbst Mrs. Lippincott, die Frau des Direktors der Anglo-Swiss in Aylesbury, besser fand als dasjenige des eigenen Unternehmens. Problematisch an den Kakao- und Kaffeekonserven der Anglo-Swiss waren vor allem ihre unausgereiften Verfahrenstechniken und geschmacklichen Eigenschaften: Händler reklamierten, Cocoa & Milk sei zu süss, während bei Coffee & Milk der Kontakt des Kaffee-Extrakts mit Eisen beim Abfüllprozess zu Oxidationen führte, welche beim Öffnen der Dosen einen unangenehmen Geruch verbreiteten. In beiden Fällen mussten die Rezepturen abgeändert werden, wobei die Kaffeebohnen und Zichorien in Coffee & Milk ab 1879 durch eine billigere Kaffee-Essenz131 ersetzt wurden.
Anstatt des erwarteten Wachstumsschubs stagnierten die Umsatzzahlen jedoch mit diesen neuen Rezepturen. Mit einem bescheidenen Umsatz von unter 20 000 Kisten pro Jahr132 generierten die Milchkaffee- und Milchkakaodosen, die vorwiegend in Grossbritannien verkauft wurden, etwa fünf Prozent des Gesamtumsatzes der Anglo-Swiss.133
Abbildung 1: Wie der Etikette von Coffee & Milk um 1900 zu entnehmen ist, handelte es sich bei diesem Produkt um eine schwer lösliche Mischung aus reiner Kondensmilch, reinem Zucker und reinem Kaffee. Bereits damals wurde auf die leichte, bequeme und sparsame Zubereitung hingewiesen.