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Der Konkurrenzkampf auf dem Kindernahrungsmittel-Markt

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«Wir glauben, dass unsere Artikel auf Schiffen, in Hospitälern, für kleine Kinder und in den Haushaltungen aller grossen Städte gebraucht werden, sobald das Publikum damit bekannt wird und dessen Reinheit, Gesundheit, Bequemlichkeit und Oekonomie kennen lernt»,134 analysierte die Anglo-Swiss 1868 die Marktchancen ihrer gezuckerten Kondensmilch. Allerdings stand sie nicht alleine in diesem Marktsegment. Im Bereich der Kindernahrung entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Produkte, die auf Milch basierten und eine Konkurrenz darstellten:135

Im Sommer 1864 mischte Justus von Liebig eine Milchsuppe aus Kuhmilch, Malz,136 Weizenmehl und Kaliumkarbonat für seine Tochter, die nicht stillen konnte. Nach der Veröffentlichung des Rezepts 1865 inspirierte Liebigs Milchsuppe zahlreiche Chemiker und Apotheker, ebenfalls auf diesem Gebiet tätig zu werden. Zu ihnen gehörten unter anderen James Horlick, ein Apotheker aus Gloucestershire in England, der hessische Chemiker Georg Wander in Bern und der Frankfurter Apotheker Heinrich Nestlé in Vevey, der sich in der Westschweiz Henri Nestlé nannte.137

Horlick und Wander begannen Nahrungs- und Stärkungsmittel für Kinder und Kranke herzustellen, indem sie Milch mit Malz mischten: Während Horlick in den 1870er-Jahren für die Mellin Company138 in Chicago arbeitete und Horlick’s Malted Milk aus getrockneter Milch und Malz erfand,139 beschäftigte sich Georg Wander mit der Malzextraktion unter Vakuum und begann diese Malzextrakte mit Milch, Eiern, Hefe und Kakao zu vermengen. Sein Sohn Albert Wander brachte die Mischung 1904 als Ovomaltine auf den Markt, die als Malz- oder Kakaogetränk, wie sie von der Reformbewegung propagiert wurden, in der Schweizer Bevölkerung sofort gute Aufnahme fand. Als «Nährschokolade» stellte die Ovomaltine ebenso wie der Zichorienkaffee oder Kräutertee eine eigene Produktkategorie dar, die gleichzeitig auch als gesunder «Kakaoersatz» der Reformbewegung gesehen werden kann.140

Einen anderen Ansatz als Horlick und Wander verfolgte dagegen Henri Nestlé: Wie bei der Herstellung von gezuckerter Kondensmilch dickte er Milch und Zucker zu einer Milchpaste ein und entwickelte diese nach dem Vorbild von Liebigs Säuglingssuppe zu einem wissenschaftlich anerkannten Kindernahrungsmittel weiter. Dabei vermengte er die eingedickte Zuckermilch mit einem Brotbrei, der nach einem speziellen Verfahren ohne Zugabe von Malz hergestellt wurde. Der trockenen Mischung gab er zusätzlich Kaliumkarbonat bei und siebte und mahlte diese anschliessend zu einem feinen Pulver, das er «Kindermehl» nannte.141

1868 lancierte er Nestlé’s Kindermehl gleichzeitig in der Schweiz und in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main, wo sein Produkt sofort einen guten Ruf genoss.142 Obwohl die Schweiz, Deutschland und Frankreich in den ersten Jahren die bedeutendsten Absatzmärkte waren, wurde Nestlés Kindernahrung rasch auch ausserhalb Europas bekannt: 1873 wurde Nestlé’s Kindermehl erstmals auf allen fünf Kontinenten verkauft, unter anderem in den Vereinigten Staaten, Russland, Australien, Argentinien, Ägypten und Niederländisch Indien.143

Nestlés Erfolg brachte den Verwaltungsrat der Anglo-Swiss auf den Gedanken, ebenfalls ein Kindermehl herzustellen.144 Dabei trafen zwei Konkurrenten mit sehr unterschiedlichen Unternehmensphilosophien aufeinander: Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company lässt sich als Grossunternehmen charakterisieren, wie es Chandler in «Scale and Scope»145 beschreibt. Ihr Erfolg beruhte auf der Massenproduktion, indem sie ein qualitativ gutes Produkt rationell herstellte und sich aufgrund ihrer Grösse und Kapitalkraft eine Monopolstellung sichern konnte.146 Andererseits wies das Unternehmen mit Sitz am Zugersee bei der Vermarktung und im Bereich der Innovation Defizite auf: George Page hielt nicht viel von Werbung und ging sehr sparsam damit um,147 gleichzeitig fehlte der Gesellschaft das nötige physiologische und chemische Wissen, um beispielsweise Kindermehl selber herzustellen. Die Technik musste deshalb 1877 durch die Übernahme einer Kindernahrungsmittel-Fabrik in Flamatt eingekauft werden.148

Demgegenüber besass die von Henri Nestlé gegründete Gesellschaft zwar nicht das Kapital149 und die Grösse150 einer Anglo-Swiss, verfügte dafür über wissenschaftlich fundiertes technisches Wissen und vermochte damit eine Marke mit hoher fachlicher Anerkennung aufzubauen.151 Nestlé operierte zwar mit bescheideneren Umsatzzahlen als die Anglo-Swiss, dafür aber mit höheren Gewinnmargen.152

Bereits 1878 erhielt der Angriff der Anglo-Swiss auf das Kindermehl der 1875 in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Farine Lactée Henri Nestlé153 allerdings einen argen Dämpfer: Ein Jahr nach der Übernahme brannte die Kindermehlfabrik in Flamatt ab, womit die Diversifikationsanstrengungen der Anglo-Swiss auf diesem Gebiet geplatzt waren.154 Ebenso scheiterte der Versuch, Nestlé zu kaufen, während George Page das Angebot einer gemeinsamen Fusion kategorisch ablehnte.155

Weit gravierender war jedoch, dass sich die Nestlé den Angriff auf ihr Kindermehl nicht bieten liess und im Gegenzug ins Kerngeschäft der Anglo-Swiss vordrang, indem sie ebenfalls gezuckerte Kondensmilch zu produzieren begann. Von diesem Moment an entbrannte ein erbitterter Konkurrenzkampf zwischen den beiden Unternehmen: Die Anglo-Swiss versuchte aufgrund ihrer Skalenerträge, Nestlé in einen Preiskampf zu verwickeln, und senkte ihre Preise um 2 Franken 40 Rappen pro Kiste, worauf das Unternehmen aus Vevey mit einem noch tieferen Preis konterte, was sich das Unternehmen aus Vevey aufgrund der Gewinne mit Kindermehl leisten konnte. Ausserdem strahlte die starke Marke, welche sich Nestlé im Bereich des Kindermehls aufgebaut hatte, auch auf das Kondensmilchgeschäft aus. Umgekehrt gelang es der Anglo-Swiss nicht, eine gut durchdachte Werbekampagne zu organisieren. Viele Detaillisten beklagten sich über die nervöse Preis- und Markenpolitik der Anglo-Swiss und wandten sich vom Unternehmen ab, was sich auch auf die Umsatzzahlen niederschlug: Zwischen 1885 und 1890 konnte Nestlé ihren Kondensmilchumsatz verdreifachen und auf Kosten der Anglo-Swiss Marktanteile gewinnen, während der Absatz des Chamer Unternehmens in derselben Zeitspanne um einen Drittel einbrach.156

Der Konkurrenzkampf zwischen Nestlé und der Anglo-Swiss zeigt, dass Skalenerträge alleine noch kein Erfolgsrezept sein mussten und technisches Wissen und der Aufbau von starken Marken mindestens ebenso wichtig sein konnten. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, schlitterte die Anglo-Swiss durch die Defizite in den beiden letztgenannten Bereichen immer mehr in die Krise, die schliesslich zur Fusion mit Nestlé führte.

Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt

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