Читать книгу Allgemeines Verwaltungsrecht - Thorsten Siegel - Страница 590
Оглавление§ 20 Rechtsverordnungen
I. Wesen
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Rechtsverordnungen gehören einerseits zu den Rechtsquellen des Verwaltungsrechts (s.o. Rn 68 ff), andererseits aber auch zu den Handlungsformen der öffentlichen Verwaltung[1]. Bei Rechtsverordnungen handelt es sich um abstrakt-generelle Regelungen, die von der Exekutive im Wege delegierter Rechtsetzung erlassen werden. Da sie abstrakt-generelle Regelungen treffen, sind sie als Gesetze im materiellen Sinne einzuordnen. Zugleich wird bei ihnen – in Abgrenzung zu Satzungen (dazu § 21) – die Rechtsetzungsbefugnis von der Legislative auf die Exekutive delegiert. Wegen dieses „Rollenwechsels“ bedarf es einer Ermächtigungsgrundlage, die zugleich bestimmten Anforderungen genügen muss. Der tiefere Grund für die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen liegt darin, dass fachlich spezifische Detailfragen von der Exekutive oftmals besser eingeschätzt werden können und umgekehrt der Gesetzgeber mit der Normierung von Detailfragen überlastet würde. Sie sind zugleich abzugrenzen von Allgemeinverfügungen i.S.d. § 35 S. 2 (s.o. Rn 346 ff). Allgemeinverfügungen zeichnen sich im Vergleich zu Rechtsverordnungen typischerweise durch einen räumlich-zeitlich umgrenzten Geltungsbereich aus[2].
II. Vorkommen
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Der Erlass von Rechtsverordnungen ist in vielen Materien des Besonderen Verwaltungsrechts vorgesehen. Die wohl bekannteste Rechtsverordnung ist die Straßenverkehrsordnung (StVO), welche aufgrund einer Ermächtigung im Straßenverkehrsgesetz (StVG) erlassen worden ist. Die StVO bestätigt zugleich, dass eine Rechtsverordnung einen sehr großen räumlichen und personellen Wirkungsbereich aufweisen kann. Dies gilt auch für die Baunutzungsverordnung (BauNVO), welche die Zulässigkeit der Art und des Maßes von Bauvorhaben in bestimmten Gebieten regelt. Sie wird im Rahmen der Vorlesung zum öffentlichen Baurecht behandelt[3]. Von Bedeutung für Prüfungsarbeiten sind schließlich Gefahrenabwehrverordnungen. Sie werden aufgrund spezifischer Ermächtigungen in den Polizeigesetzen erlassen und im Rahmen der Vorlesungen zum Polizei- und Ordnungsrecht ausführlicher behandelt[4]. Besondere Bedeutung haben Rechtsverordnungen zudem im Zuge der Corona-Pandemie erlangt[5]. Da die Einzelheiten regelmäßig den fachrechtlichen Sonderregelungen vorbehalten bleiben, beschränkt sich die nachfolgende Darstellung auf die allgemeinen Grundzüge beim Erlass von Rechtsverordnungen.
III. Anforderungen an die Rechtmäßigkeit
1. Ermächtigungsgrundlage
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Da es sich bei der Rechtsverordnung in funktionaler Hinsicht um delegierte Rechtsetzung handelt (s.o. Rn 840), bedarf es zunächst einer Ermächtigungsgrundlage. So ist etwa die zuvor angesprochene BauNVO aufgrund der Ermächtigung in § 9a BauGB erlassen worden. Und die Gefahrenabwehrverordnungen nach dem Polizei- und Ordnungsrecht werden auf spezifische Ermächtigungen in den Polizeigesetzen der Länder gestützt[6]. Zudem müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz bestimmt sein. Dies ergibt sich für Rechtsverordnungen nach Bundesrecht aus Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG. Die Landesverfassungen enthalten jedoch typischerweise inhaltlich identische Bestimmungen[7]. Damit sollen Pauschal- und Globalermächtigungen der Exekutive verhindert werden[8]. Deshalb werden etwa die Regelungen zu Verkehrszeichen in der StVO als abschließend erachtet[9]. Schließlich kommt insoweit der Parlamentsvorbehalt zum Tragen, wonach die wesentlichen Entscheidungen durch den parlamentarischen Gesetzgeber zu treffen sind[10]. Dieser ist durch die weit reichenden Verordnungsbefugnisse im Zuge der Corona-Pandemie zumindest stark strapaziert worden[11].
2. Formelle Rechtmäßigkeitsanforderungen
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In formeller Hinsicht ist zunächst nach allgemeinen Grundsätzen die Zuständigkeitsordnung zu wahren. Zuständig für den Erlass von Rechtsverordnungen aufgrund eines Bundesgesetzes können nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG nur die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen sein. Art. 80 Abs. 1 S. 4 GG ermächtigt unter bestimmten Voraussetzungen zur Weiterdelegation an andere Stellen[12]. Die möglichen Adressaten von Verordnungsermächtigungen aufgrund eines Landesgesetzes ergeben sich aus den jeweiligen Landesverfassungen[13].
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Das Verfahren zum Erlass von Rechtsverordnungen richtet sich nicht nach dem VwVfG. Denn § 9 begrenzt den sachlichen Anwendungsbereich des Gesetzes auf VAe und örVe (s.o. Rn 171). Die Anforderungen ergeben sich hier zunächst aus Art. 80 Abs. 2 GG[14] und den vergleichbaren Regelungen auf Landesebene[15]. Rechtsstaatlich fundiert ist darüber hinaus das Erfordernis einer Verkündung, das etwa in Art. 82 Abs. 1 S. 2 GG geregelt ist. In formeller Hinsicht bedeutsam ist zudem das Zitiergebot. Es ist in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG sowie den vergleichbaren Bestimmungen der Landesverfassungen geregelt und besagt, dass die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage in der Rechtsverordnung angegeben wird. Es dient der Selbstkontrolle der Verwaltung, der externen Richtigkeitskontrolle sowie der Normenklarheit[16].
3. Materielle Rechtmäßigkeitsanforderungen
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In materieller Hinsicht muss die Rechtsverordnung nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung die Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage einhalten und darf insbes. den dort vorgegebenen Rahmen nicht überschreiten. So muss etwa zum Erlass einer Gefahrenabwehrverordnung eine abstrakte Gefahr für die polizeilichen Schutzgüter vorliegen[17]. Im Übrigen kommt dem Verordnungsgeber eine Gestaltungsfreiheit zu. Dabei müssen nach allgemeinen Grundsätzen die höherrangigen Vorgaben beachtet werden, insbes. der Bestimmtheitsgrundsatz sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Das beim Erlass von Rechtsverordnungen bestehende normative Ermessen ist jedoch weiter gefasst als bei der Ermessenausübung im Einzelfall und wird von der Rechtsprechung oftmals lediglich daraufhin überprüft, ob schlechterdings unvertretbare Ergebnisse erzielt werden (s.o. Rn 221)[18].
IV. Fehlerfolgen
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Werden die zuvor genannten rechtlichen Anforderungen nicht eingehalten, so führt dies zunächst zur Rechtswidrigkeit der Rechtsverordnung. Anders als beim VA (s.o. Rn 542) gilt jedoch bei Rechtsverordnungen grundsätzlich das Nichtigkeitsdogma. Danach führt die Rechtswidrigkeit zugleich zur Unwirksamkeit der Rechtsverordnung[19]. Dies gilt auch für einen Verstoß gegen das Zitiergebot[20]. Etwas anderes gilt dann, wenn der Gesetzgeber die Beachtlichkeit eines Verstoßes explizit eingrenzt. So kann er geringfügige Verstöße für von vornherein unbeachtlich erklären oder für unbeachtlich nach Fristablauf. Dies ist bei Rechtsverordnungen aber nur ausnahmsweise der Fall. Ein Beispiel bilden etwa Bebauungspläne in den (echten) Stadtstaaten, die dort anstelle von Satzungen erlassen werden und nach Maßgabe der §§ 214 f BauGB unbeachtlich sein können[21]. Darüber hinaus sollen nach der Rechtsprechung des BVerfG Verfahrensfehler grundsätzlich nur bei Evidenz zur Nichtigkeit führen[22].
V. Rechtsschutz
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Die VwGO sieht in § 47 VwGO eine Normenkontrolle gegen materielle Gesetze vor[23]. Da sich der Rechtsschutz hier gegen die Norm als solche richtet, wird die Normenkontrolle nach § 47 VwGO auch als prinzipale Normenkontrolle bezeichnet. Kraft Bundesrechts besteht die Möglichkeit einer solchen prinzipalen Normenkontrolle aber gemäß § 47 Abs. 1 Nr 1 VwGO nur bei Satzungen nach dem BauGB oder den diesen nach § 246 Abs. 2 BauGB gleichgestellten Rechtsverordnungen. Dies ist etwa in Berlin der Fall, wo Bauleitpläne in der Rechtsform einer Rechtsverordnung erlassen werden[24]. Im Übrigen – und damit bei den meisten Rechtsverordnungen – ist eine prinzipale Normenkontrolle gemäß § 47 Abs. 1 Nr 2 VwGO nur dann möglich, wenn Landesrecht dies bestimmt. Die Bundesländer haben von dieser Möglichkeit sehr unterschiedlich Gebrauch gemacht[25].
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Insbes. – aber nicht nur – dann, wenn keine Möglichkeit einer prinzipalen Normenkontrolle besteht, kommt eine inzidente Normenkontrolle in Betracht. Bei dieser wird nicht die Norm als solche angegriffen. Der Rechtsbehelf richtet sich vielmehr gegen einen Vollzugsakt, der aufgrund der Rechtsverordnung erlassen wurde, etwa einen VA. Im Rahmen eines solchen Klageverfahrens – etwa einer Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1, 1. Alt. VwGO – wird dann inzident überprüft, ob die zugrunde liegende Rechtsverordnung rechtswirksam ist[26].
Ausbildungsliteratur:
v. Danwitz, Rechtsverordnungen, JURA 2002, 93; Eibenstein, Grundfälle zur prinzipalen Normenkontrolle nach § 47 VwGO, JuS 2021, 218; Meßerschmidt, Rechtsverordnungen: Rechtmäßigkeit und Rechtsschutz, JURA 2016, 747; Voßkuhle/Wischmeyer, Die Rechtsverordnung, JuS 2015, 311.