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Оглавление§ 22 Verwaltungsvorschriften
I. Wesen
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Verwaltungsvorschriften sind abstrakt-generelle Regelungen (oder Anordnungen) einer „höheren“ Verwaltungsstelle gegenüber nachgeordneten Verwaltungsstellen[1]. Sie ergehen damit regelmäßig innerhalb eines hierarchischen Behördengefüges und unterscheiden sich von Rechtsverordnungen und Satzungen dadurch, dass sie keine unmittelbare Außenwirkung gegenüber dem Bürger entfalten. In Abgrenzung zu den ebenfalls im staatlichen Binnenbereich angesiedelten Weisungen (zum Begriff s.o. Rn 332) betreffen sie aber keinen Einzelfall, sondern enthalten abstrakt-generelle Regelungen.
II. Erscheinungsformen
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Verwaltungsvorschriften sind in Prüfungsarbeiten nur begrenzt relevant (dazu insbes. Rn 867), haben jedoch in der Verwaltungspraxis eine ausgesprochen große Bedeutung. Denn sie prägen einerseits das staatliche Binnenrecht durch Vorgaben für die Organisation und das Verfahren, steuern andererseits das Verwaltungshandeln nach außen. Dabei ist in der Praxis eine terminologische Vielfalt anzutreffen: Verwaltungsvorschriften werden teilweise auch als Erlass, Verfügung, Dienstanweisung, Ausführungsbestimmung, Richtlinie oder Anleitung bezeichnet. Kategorisiert man sie, so können sie in Organisations-, Verfahrens- und Dienstvorschriften sowie in entscheidungslenkenden Verwaltungsvorschriften eingeteilt werden. Bei Letzteren ist wiederum zwischen gesetzesinterpretierenden, normkonkretisierenden, ermessenslenkenden sowie gesetzesvertretenden Verwaltungsvorschriften zu unterscheiden[2].
1. Organisations-, Verfahrens- und Dienstvorschriften
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Organisations-, Verfahrens- und Dienstvorschriften betreffen die innere Organisation, die internen Dienstabläufe (zB Bearbeitungsfristen), die Dienstzeit oder Ähnliches. Im parlamentarischen Bereich werden solche den inneren Ablauf steuernden Regelungen oftmals als Geschäftsordnungen bezeichnet.
2. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften
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Demgegenüber beziehen sich norminterpretierende Verwaltungsvorschriften auf die Steuerung des Verwaltungshandelns. Hier kann die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe Unsicherheiten hervorrufen. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften zielen auf eine einheitliche Interpretation dieser unbestimmten Rechtsbegriffe ab.
Beispiel:
die Interpretation der Begriffe der Gefahr und der öffentlichen Sicherheit durch die Verwaltungsvorschrift des Landes Brandenburg zum OBG Brandenburg[3].
Bezugspunkte norminterpretierender Verwaltungsvorschriften sind unbestimmte Rechtsbegriffe ohne Beurteilungsspielraum. Nach dem zum Beurteilungsspielraum Gesagten ist im Regelfall bei unbestimmten Rechtsbegriffen jedoch kein Beurteilungsspielraum anzuerkennen (s.o. Rn 196).
3. Gesetzes-/normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften
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Auch normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften setzen bei unbestimmten Rechtsbegriffen auf der Tatbestandsseite an. Im Unterschied zu norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften (s.o. Rn 858) beziehen sie sich jedoch auf unbestimmte Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum. Klassische Beispiele für normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften bilden die Technische Anweisung Lärm (TA Lärm) und die Technische Anweisung Luft (TA Luft). Sie konkretisieren den Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkungen“ im Sinne des anlagenbezogenen Immissionsschutzrechts, indem sie bestimmte Lärmgrenzwerte in Form von Dezibelangaben und bestimmte Schadstoffgrenzwerte in Form von Konzentrationsangaben vorgeben. Begründet wurde dieser abstrakt-generelle Beurteilungsspielraum damit, dass die zugrundeliegende Norm des § 48 BImSchG einen gesetzgeberischen Konkretisierungsauftrag enthalte[4]. Darin wird zugleich deutlich, dass eine normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift im Vergleich zur norminterpretierenden die Ausnahme bildet. Im Gegensatz dazu hat etwa das OVG Berlin-Brandenburg der Bestimmung des § 14 LImSchG Bln keine entsprechende normative Ermächtigung entnommen und die darauf gestützte Ausführungsvorschrift des Landes Berlin nicht als normkonkretisierend anerkannt[5].
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Aus dem Wesen der TA Lärm und der TA Luft ist abzuleiten, dass die dort normierten Grenzwerte grundsätzlich für Verwaltung und Gerichte verbindlich sind. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn eine atypische Fallgestaltung vorliegt oder nachgewiesen wird, dass ein normierter Grenzwert überholt ist[6]. Wegen der grundsätzlich auch im Verhältnis zum Bürger verbindlichen Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe entfalten normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften insoweit unmittelbare Außenwirkung.
4. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften
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Ermessenlenkende Verwaltungsvorschriften steuern das auf der Rechtsfolgenseite angesiedelte Ermessen (s.o. Rn 208 ff). Zum Ausdruck kommt dies nicht selten bereits in einer Bezeichnung als „Ermessensrichtlinie“[7]. Fraglich ist auch hier, ob eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift stets verbindlich ist für die von ihr erfassten Stellen oder ob Ausnahmen zulässig sind. Mit der Einräumung von Ermessen betont der Gesetzgeber das Erfordernis der Einzelfallgerechtigkeit. Dies spricht dafür, in atypischen Konstellationen eine Abweichung von der Bindungswirkung zuzulassen[8].
5. Gesetzesvertretende Verwaltungsvorschriften
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Schließlich sind auch gesetzvertretende Verwaltungsvorschriften anzutreffen. Sie bezwecken die Steuerung der Verwaltung außerhalb gesetzlicher Regelungen. Ansatzpunkt ist die vermeintlich „gesetzesfreie“ Verwaltung. Bereits an anderer Stelle wurde aber darauf hingewiesen, dass zum einen weite Bereiche der Verwaltungstätigkeit durchnormiert sind und zum anderen auch beim Fehlen einfach-gesetzlicher Handlungsmaßstäbe stets höherrangige Handlungsmaßstäbe zu beachten sind, so etwa der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (s.o. Rn 24).
III. Anforderungen an die Rechtmäßigkeit
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Regelmäßig werden Verwaltungsvorschriften innerhalb eines Verwaltungsträgers erlassen (zum Begriff s.o. Rn 114 f). In solchen Fällen bedarf es keiner Ermächtigungsgrundlage. Vielmehr ergibt sich die Befugnis zum Erlass einer Verwaltungsvorschrift aus der Organisationshoheit der übergeordneten Verwaltungsstelle. Anders verhält es sich bei einer Verwaltungsvorschrift zwischen verschiedenen Verwaltungsträgern. Hier bedarf es einer Ermächtigungsgrundlage, da in den Hoheitsbereich eines anderen Verwaltungsträgers „übergegriffen“ wird. Entsprechende Ermächtigungen finden sich im Verhältnis zwischen Bund und Ländern etwa in Art. 84 Abs. 2 und Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG[9].
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Zudem ist auch beim Erlass von Verwaltungsvorschriften der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu beachten (s.o. Rn 181 f). Nach dem Vorrang des Gesetzes muss eine Verwaltungsvorschrift in Einklang mit den einschlägigen rechtlichen Vorgaben stehen. Insbes. muss eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift die unbestimmten Rechtsbegriffe zutreffend interpretieren. So dürfte eine Verwaltungsvorschrift zum polizeirechtlichen Begriff der „Gefahr“ diesen nicht dahingehend interpretieren, dass auch eine Gefahrenvorsorge erfasst sei. Der Vorbehalt des Gesetzes hat zur Folge, dass Grundrechtseingriffe nicht auf Verwaltungsvorschriften gestützt werden können, sondern einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedürfen[10].
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Die Verkündung einer Verwaltungsvorschrift in einem Amtsblatt o.Ä. ist grundsätzlich nicht erforderlich. Denn regelmäßig beschränkt sich die Wirkung einer Verwaltungsvorschrift auf den Binnenbereich. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn eine Verwaltungsvorschrift ausnahmsweise unmittelbare Außenwirkung entfaltet. Dies ist insbesondere bei normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften der Fall (s.o. Rn 859). Hier korrespondiert mit der unmittelbaren Außenwirkung eine Publikationspflicht[11].
IV. Rechtswirkungen
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Adressaten einer Verwaltungsvorschrift sind grundsätzlich nur die nachgeordneten Verwaltungsstellen. Hier folgt aus der Weisungsgebundenheit eine Pflicht, die Vorgaben der Verwaltungsvorschrift zu beachten[12]. Dies gilt zumindest grundsätzlich auch dann, wenn ein Bediensteter eine Verwaltungsvorschrift für rechtswidrig hält, weil sie nach seiner Ansicht nicht in Einklang mit dem geltenden Recht steht (s.o. Rn 863 ff). In einem solchen Fall muss sich der Bedienstete an seinen Vorgesetzten wenden und diesen auf die Rechtswidrigkeit hinweisen (sog. Remonstration)[13].
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Von der Bindungswirkung nach innen zu unterscheiden ist die Rechtswirkung nach außen. Da sich Verwaltungsvorschriften grundsätzlich nur an die nachgeordneten Verwaltungsstellen richten, entfalten sie regelmäßig keine unmittelbare Außenwirkung. Etwas anderes gilt ausnahmsweise bei normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften (s.o. Rn 859). Sonstige entscheidungslenkende Verwaltungsvorschriften entfalten jedoch eine mittelbare Außenwirkung. Denn durch die Anwendung der Verwaltungsvorschrift wird zugleich eine bestimmte Verwaltungspraxis begründet. Diese muss sich wieder am allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG messen lassen: Der Bürger hat in nachfolgenden Entscheidungssituationen einen grundsätzlichen Anspruch auf Gleichbehandlung. Allerdings darf die Verwaltung nach allgemeinen Grundsätzen bei Vorliegen eines sachlichen Grundes von der bisherigen Verwaltungspraxis abweichen. Zudem besteht kein Anspruch auf Gleichheit im Unrecht. Beim ersten Anwendungsfall einer Verwaltungsvorschrift ist auf die „antizipierte Verwaltungspraxis“ abzustellen: Es ist davon auszugehen, dass die Verwaltung künftig so verfährt, wie in der Verwaltungsvorschrift vorgesehen ist[14].
V. Rechtsschutz
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Aus der regelmäßig fehlenden unmittelbaren Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften ist auch abzuleiten, dass grundsätzlich keine Rechtsschutzmöglichkeit gegen Verwaltungsvorschriften als solche besteht. Insbes. können sie nicht Gegenstand einer prinzipalen Normenkontrolle sein. Denn eine solche ist nach § 47 VwGO nur bei Rechtsvorschriften mit Außenwirkung statthaft[15]. Etwas anderes muss konsequenterweise auch hier gelten, wenn einer Verwaltungsvorschrift ausnahmsweise unmittelbare Außenwirkung zukommt. Vom Rechtschutz gegen die Verwaltungsvorschrift als solche zu unterscheiden ist der Rechtsschutz gegen einen Vollzugsakt, der maßgeblich von einer Verwaltungsvorschrift gesteuert wird. Dieser richtet sich nach den allgemeinen Grundsätzen. Insbes. kann ein belastender VA mit einer Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1, 1. Alt. VwGO angegriffen werden. Dessen Rechtmäßigkeit ist grundsätzlich nur an den Rechtsvorschriften mit Außenwirkung zu messen, zu denen aber auch Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. der Verwaltungspraxis gehört.
Ausbildungsliteratur:
Jarass, Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften, JuS 1999, 105; Muckel, Unterschiedliche Vorgaben zur Haartracht für Frauen und Männer in der Bundeswehr, JA 2019, 635; Reimer, Grundfragen von Verwaltungsvorschriften, JURA 2014, 678; Voßkuhle/Kaiser, Verwaltungsvorschriften, JuS 2016, 314.