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Redner und Räuber
ОглавлениеAn einem Wintermorgen zu Beginn des Jahres 630 beobachtete ein Gefangener in Yathrib, einer Stadt auf der Arabischen Halbinsel, eine Gruppe Männer, die sich schon vor Sonnenaufgang im Hof vor seiner Zelle versammelt hatte. Im schwachen Schein der Lampen war nur wenig zu erkennen. Als jedoch ihr Anführer auftauchte – er musste es sein, denn das Geflüster riss plötzlich ab – und die Männer die Reihen schlossen, schwante dem Gefangenen, dass etwas Bedeutendes vor sich ging. Ein Gedanke, eisiger als das Morgengrauen, durchzuckte ihn: „Ich glaube, sie wollen mich töten …“
Gründe dafür hätten sie gehabt. Schließlich hatte der Gefangene mehrere Vergeltungsschläge gegen die Männer aus Yathrib angeführt, die seit einigen Jahren immer wieder reiche Handelskarawanen seiner Landsleute überfielen. Es hatte viele Tote gegeben und die Blutfehde dauerte an. Erst unlängst hatten Verbündete seines Stammes ein Abkommen, das dem Blutvergießen vorübergehend Einhalt gebieten sollte, gebrochen. Was die Männer aus Yathrib nun also im Schilde führten, war wirklich nicht absehbar: Der Gruppe gehörten Mitglieder unterschiedlicher Stämme an, die von einem sonderlichen, aber charismatischen Seher angeführt wurden, einem Cousin des Gefangenen, um genau zu sein – und er hatte keine Ahnung, was sie da trieben.
Was er beobachtete, war rätselhaft. Der Seher stand vor den aufgereihten Männern, stimmte seltsame Beschwörungsformeln an, beugte sich vornüber und warf sich dann zu Boden. Die Männer taten es ihm gleich. Etwas Ähnliches hatte der Gefangene bei einem Gottesdienst der Christen auf Handelsreisen nach Syrien beobachtet. Doch die Bewegungen dieser Männer waren so exakt aufeinander abgestimmt, geradezu militärisch gedrillt, dass sie sich wie ein einziger Körper bewegten. Während er ihnen zusah, murmelte der Gefangene einen Schwur auf den alten Hauptgott seines Stammes:
Bei Allah! Niemals bin ich solch einer Disziplin wie heute ansichtig geworden, bei keinen Menschen, nicht hie, noch da, noch sonst irgendwo … Nein, weder bei den edlen Persern noch bei den Byzantinern mit ihrem geflochtenen Haar!
Der Gefangene war kein anderer als Abū Sufyān, ein Clanführer aus Mekka.2 Sein sonderlicher Cousin wurde Mohammed gerufen, und die Männer, die Abū Sufyān zur Geisel genommen hatten, nannten sich seit einigen Jahren selbst „Muslime“.
Was Abū Sufyān derart in Erstaunen versetzte, war die Einheit unter den Männern aus Yathrib (oder Madīnat Rasūl Allah, „die Stadt des Gesandten Gottes“ – kurz: al-Madīna oder Medina – wie sie den Ort zu Ehren ihres Anführers seit Kurzem nannten). Diese Menschen unterschiedlicher Abstammung waren nicht nur nicht durch Blut geeint, sondern versuchten noch nicht einmal, diesen Anschein zu erwecken, wie es bei Stammesgruppierungen sonst üblich war. Einige von ihnen gehörten sogar zu seinem eigenen Stamm der Quraisch, der sich über die letzten fünf Generationen in unterschiedliche, konkurrierende Clans aufgespalten hatte. Die meisten Männer waren jedoch mit ihren Stämmen aus Südarabien, aus al-Yaman, „dem Süden“, einer bergigen Gegend mit Schluchten, Wäldern und Feldern, fern und fremd in seinen Sprachen und Bräuchen, eingewandert und schon lange in Yathrib sesshaft. Sogar einige jüdische Landsmänner befanden sich unter ihnen. In diesem Augenblick aber bewegte sich der bunt zusammengewürfelte Haufen, als seien sie alle eins. Mohammed war also gelungen, wovon alle arabischen Möchtegernführer schon immer geträumt hatten: Er hatte die „Stimme“ vieler unterschiedlicher Männer „geeint“ – er hatte Einmütigkeit hergestellt und alle Zwistigkeiten zum Verstummen gebracht.
Aus Abū Sufyāns Vergleich mit den Byzantinern und Persern lassen sich Rückschlüsse ziehen. Dem erfahrenen Kaufmann im Fernhandel waren die benachbarten Großreiche nicht fremd. Ihm war indes bewusst, dass in diesen Reichen aller selbstbekundeten inneren Einheit zum Trotz politische Unstimmigkeiten und sektiererische Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen an der Tagesordnung waren. Umso erstaunlicher war der Anblick der Szene, die sich vor seinen Augen, im Herzen der ewig zerstrittenen Arabischen Halbinsel, abspielte: ein mustergültiges Beispiel von Einheit – Einstimmigkeit, dem geeinten Wort –, das im Unterschied zu der lediglich vorgetäuschten Einigkeit der überheblichen imperialen Nachbarn tatsächlich überzeugend wirkte.
Es war zu schön, um von Dauer zu sein. Kaum 30 Jahre später hatte sich zwischen Abū Sufyāns Sohn und Mohammeds Schwiegersohn bereits ein blutiger Machtkampf entsponnen – um die Macht über Menschen und die Kontrolle von Steuereinnahmen in geradezu schwindelerregender Höhe. Dieser Konflikt hält bis heute an, nur sind die Summen, um die es geht, inzwischen tatsächlich ins Schwindelerregende gestiegen und die Begleitumstände unendlich viel komplexer geworden. Um das zu übertünchen, wird so getan, als handele es sich um konfessionellen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten, aber in Wahrheit hat der Glauben damit wenig zu tun. Es geht immer noch um sehr irdische Macht: Macht über Ressourcen, Macht über Menschen, Macht über Macht.
Doch zurück zu Mohammed. Er hatte die beiden Schlüssel zur Pforte der Eintracht gefunden. Der erste Schlüssel war, wie die geschlossenen Reihen der Betenden verdeutlichen, die ungeteilte Treue gegenüber einem einzigen Gott. Trotz des christlich anmutenden Gebets mitsamt den Niederwerfungen hatte Mohammeds Gottheit nicht sehr viel gemein mit dem Gott der Byzantiner und Äthiopier, deren Gezänk über das Wesen dieses Gottes kein Ende nehmen wollte. Ebenso wenig glich Er dem Gott der Juden, wobei sich die Dinge auch in diese Richtung hätten entwickeln können. Doch war die große Mehrheit der Juden in Yathrib bei Mohammeds Ankunft in der Stadt nicht auf seine Avancen eingegangen. Daher nahm Er den Namen des kultischen Hochgotts von Mekka an, der Stadt, aus der Mohammed stammte, eine der letzten Bastionen des Polytheismus in einem überwiegend christianisierten und judaisierten Nahen Osten. Was Sein Wesen betraf – ein minimalistisches, aller Attribute entledigtes Wesen, über das kein Streit entbrennen konnte –, so war es wie die Gottheiten aus Wüstensteinen, die die Beduinen entlang ihrer Wanderrouten aufstellten, einfach und in sich gekehrt. Ein Gott, von dem man sich im Grunde kein Bild machen konnte, allenfalls im Spiegel Seiner Schöpfung und durch Sein an Seinen Propheten offenbartes Wort. In täglichen Gebeten bestärkte dieses Wort den durch die Gottheit gestifteten Bund. Und es knüpfte eine sehr viel umfassendere, tiefere Einheit, die nicht auf Verwandtschaft beruhte, sondern auf Frömmigkeit.
Der zweite Schlüssel war noch wichtiger, denn erst durch ihn konnte der erste funktionieren: Es war Mohammeds Gebrauch der Sprache – nicht der Alltagssprache, sondern des besonderen, orakelhaften, fast magischen Hocharabischen, das den traditionellen arabischen Sehern von Dämonen und vertrauten Geistern eingeflößt wurde. Mohammeds Worte hingegen wurden ihm von einem Engel eingegeben und kamen von dem abstrakten Gott, der ihn zu seinem „edlen Gesandten“3 erwählt hatte. Er hatte das Wort Gottes empfangen und vereinte die Worte der Menschen. Dennoch war ihm bewusst, dass die Einheit, die er stiftete, einmalig und dem Untergang geweiht war. Auch wenn er, was umstritten ist, nicht selbst vorhergesagt hat „Diese Gemeinde wird sich in 73 Konfessionen spalten“,4 so wusste er doch nur allzu gut aus seinem Koran, der Sammlung der von Gott herabgesandten und von ihm, Mohammed, verkündeten Rezitationen, dass Uneinigkeit eine Tatsache war:
Bei der Nacht, wenn sie bedeckt,
Beim Tag, wenn er erstrahlt,
Bei Ihm, der Mann und Frau erschuf,
Sage ich euch, euer Streben ist verschieden.5
Auch ein weiteres Dilemma konnte er nicht übersehen. Die orakelhafte, göttlich gewordene Botschaft aus seinem Munde war in erster Linie an die Menschen gerichtet, die am ehesten in der Lage waren, sie auch zu verstehen – seine auf der Halbinsel verstreut lebenden Landsleute, die des Hocharabischen der Seher und Dichter mächtig oder zumindest dafür empfänglich waren. Und das waren vor allem die in Stämmen lebenden Araber. Das mag banal erscheinen, doch im Koran selbst wird immer wieder darauf hingewiesen. Hier sei nur eine Stelle angeführt: „Wir haben ihn herabgesandt als einen arabischen Koran, damit ihr verstehen möget.“6
Doch ausgerechnet diese Menschen, die im Koran als Araber bezeichnet werden – diejenigen also, die am ehesten empfänglich für die Botschaft und ihren spirituellen Gewinn waren – beherzigten die Verkündigung am wenigsten:
Die aʿrāb sind in Unglauben und Heuchelei am Schlimmsten,
und neigen am Wenigsten dazu, die Vorschriften anzuerkennen,
die Allah auf seinen Gesandten herabgesandt hat.7
Göttliche Worte also, die auf taube Ohren stießen. Aber: „Unter den aʿrāb finden sich einige, die an Allah und an das Jüngste Gericht glauben.“8
Gewiss, mit der Pluralform aʿrāb (während ʿarab ein Kollektivum bezeichnet, dies nur als kleine Spitzfindigkeit am Rande) werden in der Regel ausschließlich die Stämme mit einem nomadischen Lebensstil bezeichnet, die in Mohammeds Welt der sesshaften Händler zu den Randgruppen zählten. Auf ihrem räuberischen Ethos jedoch beruhte die militärische Schlagkraft der neuen Gemeinschaft, mit der sie sich im Laufe der Zeit gegen die umliegenden altersschwachen Reiche durchzusetzen gedachte. Die Nomaden mit ihrem Raubinstinkt mussten also in die Gemeinschaft der Gläubigen einbezogen werden.
Dem ältesten Buch auf Arabisch, dem Koran, zufolge weist das Arabertum also zwei Facetten auf – die Zungenfertigkeit des Hocharabischen sowie das Ungestüm derjenigen, unter denen sich diese Sprache entwickelte. Araber können mithin begnadete Redner, aber auch Räuber sein. Blickt man auf die arabische Geschichte vor und nach Mohammed, klingt das überzeugend. Diese machtvolle Kombination aus Rhetorik und Raubzügen treibt den Kreislauf aus Zusammenschluss und Zersplitterung seit jeher und bis in unsere Gegenwart an.
Echte, anhaltende Einigkeit, das war Mohammed bewusst, war ohne absolute Gleichheit vor Gott unerreichbar. Denn um Teil einer größeren Einheit zu werden, mussten die einander bekämpfenden, aufsässigen Stämme und Clans in Arabien Macht abgeben. Keiner anderen Macht als der eines allmächtigen Gottes hätten sie sich unterwerfen können, ohne zugleich eine Niederlage oder Demütigung zu erleiden. Aber auch unter dem einen Gott hat sich das Prinzip der Gleichheit, eines der wichtigsten Fundamente des Islam, auf Erden nicht dauerhaft etablieren lassen. Und Einheit ebenso wenig: Sie schimmert als Fata Morgana am Horizont auf, während Anführer mit wortgewandter, überzeugender oder einfach nur sehr lauter Stimme vorübergehend alle Stimmen zeitweise einen und so einen bedrohlichen Gleichklang erzeugen, der sich dann unweigerlich im Getöse konkurrierender Stimmen verliert. Harmonie – der Zusammenklang vieler verschiedener Stimmen, die alle gleichberechtigt zu Wort kommen dürfen und das gleiche Recht haben, gehört zu werden – ist eine ausgesprochene Seltenheit.
Mit Mohammed, Abū Sufyān und dem Islam befinden wir uns unversehens mittendrin in der arabischen Geschichte. Dabei habe ich noch im Vorwort gesagt, die Zeit davor gerate zu oft aus dem Blick – so schnell kann es gehen. Es handelt sich allerdings auch um einen (wahrscheinlich den) „lichten Augenblick“ der arabischen Geschichte, wenn es so etwas überhaupt geben kann. Er wirft ein Licht auf das, was davor war und was folgen wird. Auch Medina liegt in der Mitte: Es hat eine Mittlerposition inne zwischen dem nomadischen Nord- und Ostarabien und dem sesshafteren Südarabien, zwischen ʿarab-Stämmen und südarabischen Völkern – den beiden Grundelementen, die sich zaghaft zu einem „arabischen“ Ganzen fügten. Dabei war Medina keineswegs das einzige Zentrum in Arabien. Und Mohammed war zwar der größte Stimmenvereiniger, aber nicht der erste. Der Blick zurück auf die Anfänge dieser langen Suche nach Einheit bedeutet daher auch, die arabische Geschichte zum Teil zu ent-islamisieren und den Scheinwerfer auf Menschen zu richten, statt uns von der prächtigen und Aufmerksamkeit erheischenden Kulisse des Islam ablenken zu lassen. Es bedeutet auch, die Geschichte des Islam – und der Araber selbst – zu re-arabisieren, den Islam also nicht nur als die Weltreligion zu sehen, die er heute ist, sondern auch als eine einheitsstiftende Nationalideologie mit dem arabischen Nationalhelden Mohammed.9
Noch etwas anderes wird beim Blick auf die Anfänge klar. In seiner umfangreichen, alten (aber weiterhin lesenswerten) History of the Arabs bezeichnet Philip Hitti die arabische Sprache als die „dritte Etappe in einer Reihe von Eroberungen“10 durch Araber, der die militärische Eroberung und der Eroberungszug des Islam vorausgegangen seien. Tatsächlich gehört die arabische Sprache aber an die erste Stelle, nur dass sie nicht von Arabern erobert wurde, sondern Letztgenannte von ihr erobert wurden. Ohne diesen Vorgang hätte es die militärische und die islamische Eroberung nie gegeben. Nicht einmal eine arabische Geschichte hätte ohne sie irgendwer zu Papier bringen können.
Al-Masʿūdī, einer der vorzüglichsten frühen arabischen Historiker, verglich die Aufgabe, die arabische Geschichte niederzuschreiben, einmal mit der Aufgabe, „eine Menge verstreut liegender Perlen aller möglichen Formen und Farben aufzuspüren, sie zu sortieren, aufzufädeln und in eine wunderschöne Halskette zu verwandeln“.11
Elfhundert Jahre später ist dieser Schatz an Edelsteinen um einiges angewachsen und um einiges bunter, die Aufgabe jedoch ist die gleiche geblieben. Die Chronologie gibt grob vor, in welcher Reihenfolge die Steine aneinandergereiht werden müssen; die endgültige Gestalt der Halskette hängt aber davon ab, wie der Historiker die verschiedenen Formen und Farben aneinanderfügt, und zu einem gewissen Grad auch vom Zeitgeschmack. Ob das fertige Schmuckstück die Zeiten überdauert, hängt auch von der Stärke des verwendeten Fadens ab. Mein Faden ist die arabische Sprache, das „wichtigste Merkmal dessen, was ‚Araber zu seinʼ bedeutet“.12 Auf den nächsten Seiten werden wir die 3000 Jahre kurz Revue passieren lassen, ehe wir die oft eigenartigen, glanzvollen und verwirrenden Ereignisse auffädeln. Der verborgene Faden ist die Sprache, das Wort: das Band, entlang dessen sich die arabische Einheit am häufigsten zusammengefunden hat.