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Vorwort Rad und Sanduhr
ОглавлениеIch dachte weder, dass der Lauf der Zeit das Neue verschleißen, noch dass ein geeintes Volk durch Wechselfälle gespalten würde.
Dhū al-Rumma
Vor knapp 30 Jahren begann ich die Arbeit an meinem ersten Buch, einem geschichtlichen Abriss des Jemen, meinem damaligen Wohnort. Kurz zuvor, im Mai 1990, waren die zwei Teile des Landes wiedervereinigt worden – wenige Monate vor der deutschen Wiedervereinigung. Mauern stürzten ein, eiserne Vorhänge öffneten sich und inmitten der Wildnis löste man eine Grenzlinie auf. Im Jemen herrschte Optimismus. Zwar kam es 1994 zu einem erneuten Abspaltungsversuch und einem kurzen Krieg, in dessen Verlauf das ehemalige Regime im Süden beinahe so viele Scud-Raketen auf uns in Sanaa abfeuerte wie Saddam Hussein drei Jahre zuvor auf Israel, was unsere Herrscher im Norden damit beantworteten, dass sie eine Horde umherstreifender bärtiger Islamisten auf Aden hetzten, wo sie unter anderem die einzige Brauerei auf der Arabischen Halbinsel zerlegten. Doch der Jemen blieb vereinigt und es schien, als richte sich der Blick nun nach vorn.
Mein erstes Buch war eine Hommage an ein Land, das an seiner gemeinsamen Vergangenheit, seiner jahrtausendealten kulturellen Einheit festhielt. Zwischen den Zeilen war das Buch damit wohl auch eine Hommage an seine nun wiederhergestellte politische Einheit. Denn es war nicht das erste Mal im Laufe der Geschichte, dass der Jemen als geeinter Staat auftrat: Staatliche Einheit hatte es bereits in vorislamischer Zeit, dann vorübergehend im 14. und wieder kurzzeitig im 17. Jahrhundert gegeben. Vielen Jemeniten und auch mir schien (und scheint) die politische Einheit einer natürlichen Einheit zu entsprechen. Dieses Gefühl herrschte auch schon im 14. Jahrhundert: „Wäre der Jemen unter einem Herrscher geeint“, schrieb ein Berichterstatter in Ägypten, „könnte er an Bedeutung gewinnen und eine stärkere Stellung unter den herausragenden Völkern einnehmen.“1
Allerdings ist der Jemen über neun Zehntel seiner Geschichte nicht vereint gewesen – ganz im Gegenteil. Auch heute, während ich dies schreibe, ist das Land wieder im Zerfall begriffen – dasselbe gilt, wie es den Anschein hat, auch für den Irak und Libyen. Und für Syrien, dessen Zusammenhalt nur noch mit blanker Gewalt aufrechterhalten wird. Die Einheit Ägyptens ist dem Anschein nach gesichert, doch die Gesellschaft zerrissen. In diesen fünf Ländern lebt immerhin die Hälfte der Bevölkerung der arabischsprachigen Welt. Einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen zufolge sind in dieser Welt nur fünf Prozent der Weltbevölkerung beheimatet, sie verursacht jedoch 58 Prozent der Flüchtlinge weltweit und 68 Prozent aller „durch Kampfhandlungen bedingter Todesfälle“.2 Man könnte meinen, das einzige einigende Band zwischen Arabern sei ihre Unfähigkeit, friedlich miteinander auszukommen. Woher diese Uneinigkeit? Warum diese selbstzerstörerische Gewalt?
„Es liegt an der Abwesenheit von Demokratie und demokratischen Institutionen“, wird man im Westen (pragmatisch verkürzt) antworten. Klingt einleuchtend – allerdings haben die jüngsten Interventionen von außen, die angeblich auf die Stärkung von Demokratie abzielten, das Chaos wohl nur noch verstärkt. Und wenn es einmal freie und faire Wahlen gibt, gewinnen fast immer die Islamisten, mittels Militärputsch wird die Wahl für ungültig erklärt und der Westen verstummt wieder. Wenn es ums Geld geht, hat die Moral offenbar nichts mehr zu melden.
„Es liegt daran, dass der Islam nicht zu religiöser Einheit findet“, werden die Islamisten (wiederum verkürzt) antworten. Nur dass es sich bei dieser viel beschworenen Einheit des Islam von Anfang an um eine Schimäre gehandelt hat. Schließlich sind ab dem Jahr 40 der islamischen Zeitrechnung Kämpfe um Macht und Anerkennung überliefert und sie wurden keineswegs mit der Waffe des Wortes allein ausgefochten.
„Es liegt am Erbe des Imperialismus“, werden arabische Nationalisten (von denen es tatsächlich noch welche gibt) antworten. Nur dass in der postimperialen Epoche beinahe jeder Versuch, Einheit herzustellen, gescheitert ist, meist an innerarabischen Zwisten und Vorbehalten. In einer Analyse des arabisch-israelischen Krieges von 1948 schrieb ein arabischer Kommentator, dass „die Araber die Schlacht um Palästina hätten gewinnen können, wäre nicht etwas an ihnen selbst falsch und verkommen gewesen“.3 Dieses „Etwas“ bestand aus gegenseitigem Misstrauen, Argwohn und Angst. Aus dem bösen Blut, das sich durch die gesamte arabische Geschichte zieht.
Selbstverständlich haben Araber kein Monopol auf Uneinigkeit. Auch die europäische Landkarte etwa bestand bis in die Neuzeit aus einem schillernden Mosaik von Kleinstaaten. Die deutsche Wiedervereinigung von 1990 – die ja selbst Folge eines gegenläufigen Prozesses, des Zerfalls der Sowjetunion, war – stellte eine Einheit wieder her, die zuvor gerade einmal zwei Generationen gewährt hatte. Damals war Europa ein zentraler Schauplatz von Kriegen gewesen, die zum gewaltsamen Zerfall des Osmanischen Reiches und Österreich-Ungarns geführt und den etwas weniger gewaltsamen Zusammenbruch des Britischen Empire eingeleitet hatten – immerhin entstanden daraus die Vereinten Nationen und die Europäische Union (beides bekanntlich Bastionen des friedlichen Miteinanders). Die ganze Welt ist ein Schmelztiegel, in dem vorübergehend stabile Gebilde wieder zerfallen und neue geformt werden. Ohne diesen steten Wandel gäbe es keine Entwicklung. Vereinigung und Spaltung sind zwei Seiten derselben Medaille. So erklärt sich auch das erste diesem Buch vorangestellte Zitat aus Lanes Arabic-English Lexicon:
Schaʿb: … Ansammlung oder Vereinigung; ebenso Trennung, Teilung oder Uneinigkeit … Nation, Volk, Rasse oder Menschheitsfamilie …4
(Wie kann ein einziges Wort so viel Widersprüchliches bedeuten? Bei näherer Betrachtung wird es etwas klarer: schaʿb bedeutet neben „Volk“ und all den anderen aufgeführten Begriffen auch die Schädelnaht, also die Stelle, an der die beiden Schädelknochen aufeinandertreffen und sich teilen. Die Knochen selbst werden qabīlas genannt, was sich auch mit „Stämme“ übersetzen lässt. In der arabischen Sprache zeichnet der menschliche Schädel mit seinen „Völkern“ und „Stämmen“ demnach gleichsam ein Bild der Menschheit als Ganzes.)
Und doch: Ist es nicht so, dass die Araber in vieler Hinsicht einen Sonderfall darstellen? Das beginnt damit, dass wir sie – und sie sich selbst – einfach als „die“ Araber bezeichnen, so als seien sie eine eigenständige und klar abgegrenzte Gruppe mit eindeutigen Merkmalen. Angenommen, das stimmt – wie genau sehen diese Eigenschaften dann aus? Und woher rührt der Eindruck, dass diese Gruppe sich so leicht spalten lässt, so schnell in Aufruhr zu versetzen ist? Sollte es nicht zumindest so etwas wie eine Arabische Union oder gar Vereinigte Arabische Staaten geben? … Aber halt! Auch wenn es in den meisten Geschichtsbüchern unerwähnt bleibt: Es hat tatsächlich die Vereinigten Arabischen Staaten (VAS) gegeben. Sie bestanden aus einer Konföderation der Vereinigten Arabischen Republik (VAR) – einer politischen Union zwischen Ägypten und Syrien während der kurzen Blütezeit des Panarabismus – mit dem damaligen Königreich im Nordjemen. Diese Konföderation der drei Staaten hielt ganze 44 Monate, von 1958 bis 1961.
Nun ließe sich einwenden, politische Einheit sei nicht per se ein erstrebenswertes Gut. Aber ich glaube, zumindest in einem weiteren Sinn des Wortes – nämlich verstanden als Harmonie, Abwesenheit von Zwietracht, friedliche Koexistenz und Kooperation – sind Einheit und Zusammenhalt für die Menschheit besser als Zersplitterung und der Kampf gegeneinander. Es ist die einzige Hoffnung für uns auf diesem kleinen Planeten mit zu vielen Menschen und zu wenigen Ressourcen, insbesondere in dicht bevölkerten Ländern wie Syrien, Ägypten und Jemen. Es sei denn, wir ziehen es vor, uns gegenseitig umzubringen und noch einmal ganz von vorn anzufangen.
***
Historische Studien über Araber setzen für gewöhnlich mit dem Islam ein oder begnügen sich allenfalls mit knappen Vorbemerkungen über die Vorgeschichte. Sicherlich brachte der Islam eine bestimmte Gruppe von Menschen in einem großen Augenblick der Geschichte zusammen. Doch die Einheit, die dadurch entstand, war nur eine scheinbare, und hat nie wirklich Bestand gehabt. Traditionellen Berichten zufolge kamen die Stämme Arabiens im Jahr 630/631 zusammen, dem Jahr der Gesandtschaften, als Stammesvertreter den Propheten Mohammed aufsuchten, um ihm und dem von ihm gegründeten Staat die Treue zu schwören. Nur zwei Jahre später, nach Mohammeds Tod, waren die meisten dieser Stämme allerdings zu ihrer vormaligen Eigenständigkeit und ihren alten Zwistigkeiten zurückgekehrt. Die Risse zwischen ihnen ließen sich vorübergehend übertünchen, weil die aufsehenerregenden Eroberungen von Arabern außerhalb Arabiens einen wundersamen – um nicht zu sagen gottgegebenen – Korpsgeist unter ihnen entstehen ließen. Doch die unterschwelligen tribalen Verwerfungen vermochte auch das nicht zu heilen. Schon 300 Jahre später lebte die geeinte arabische Herrschaft nur noch in Erinnerungen fort, und in den folgenden rund 1000 Jahren standen die untereinander zerstrittenen Araber fast ausnahmslos unter der Herrschaft von Türken, Persern, Berbern, Europäern und anderen Völkern. Ihr eigenes Reich war ihnen wie durch Amputation abhandengekommen. Mit der Zeit klang der Schmerz ab, bestand in der Erinnerung jedoch als Phantomschmerz fort.
Das hat zur Folge, dass große Teile der zeitgenössischen Literatur zur politischen Geschichte der Araber sich ab etwa dem Jahr 900 n. Chr. unmerklich zu einer arabischen Kulturgeschichte wandeln, bevor sie sich der Geschichte anderer Völker zuwendet – dabei verschwanden Araber mitnichten von der Bildfläche. Ein Grund dafür ist das Wort „Araber“ selbst. Diese Benennung ist wie jedes Wort nicht identisch mit dem, was es bezeichnet, sondern eine Art Etikett. Etiketten sind nützlich, aber manchmal auch irreführend. Mit ihnen lassen sich alle möglichen Unterschiede verschleiern, Risse verdecken und sogar Lügen verbreiten. Mit der Zeit verblassen sie und werden überschrieben, sodass ihre ursprüngliche Bedeutung – falls es je eine einzige Bedeutung gab – in Vergessenheit gerät. Tatsächlich sind wir alle wie die Reisekoffer früherer Zeiten mit vielen Aufklebern versehen, voller geografischer, genetischer, sprachlicher und vieler anderer Bezeichnungen (so bin ich etwa Brite, Engländer, Schotte, Angelsachse, Kelte, Europäer, Indoeuropäer, Jemenit, Bewohner der Arabischen Halbinsel, Araber …) – auch wenn nur wenige andere Gruppen mit so vielen Etikettierungen versehen worden sein dürften wie das weitgereiste Volk der Araber. Doch auch an ihnen bleibt, wie an den meisten von uns, letzten Endes nur ein einziges Etikett haften. Je weiter es gefasst ist, umso haltbarer erweist es sich.
„Araber“ ist ein weit gefasstes Etikett, das sehr gut haftet (es ist nun schon beinahe 3000 Jahre in Umlauf) und doch aufs Glatteis führt. Zu unterschiedlichen Zeiten haben unterschiedliche Menschen sehr Unterschiedliches darunter verstanden. Es hat so viele Bedeutungsverschiebungen und Wandlungen erfahren, ist verblasst und hat immer wieder neue Konturen angenommen, dass es höchst irreführend wäre, von „den Arabern“ zu sprechen – weswegen im vorliegenden Buch auch darauf verzichtet wird. Der Begriff ist so schillernd wie der vielgestaltige Proteus – und der Versuch, ihn zu definieren, wäre ebenso aussichtslos wie das Unterfangen, die wahre Gestalt des Meeresgottes zu bestimmen. Dennoch lässt sich so viel festmachen: Das Wort bezeichnet, soweit wir in die Geschichte zurückblicken können, meist tribale Gruppen fernab sesshafter Gesellschaften. Diese Lebensform trifft aller Wahrscheinlichkeit nach auf Araber aus der Zeit vor dem Islam und mit Sicherheit auf Araber aus dem 2. Jahrtausend n. Chr. zu. Bei beiden Zeitspannen spricht vieles dafür, den Begriff wie einen kursiv zu setzenden Eigennamen zu behandeln und nicht als Bezeichnung für eine eigenständige Volksgruppe: als ʿarab, nicht als „Araber“. Es überrascht, dass jene randständigen, umherziehenden, zahlenmäßig unbedeutenden Stämme – die es nie zu einem Großbuchstaben, geschweige denn zu einer Großstadt gebracht haben – eine so identitätsstiftende Rolle gespielt haben. Denn gemeinhin beziehen Gesellschaften ihr Selbstverständnis aus der Abgrenzung zum Nomadischen, Unzivilisierten und Barbarischen, angefangen bei den griechischen Stadtstaaten im 5. Jahrhundert v. Chr. über das chinesische Reich bis hin zu den europäischen Kolonialmächten der jüngeren Zeit. Nur bei Arabern rührt sowohl ihr Name als auch ihre Sprache, das einzige ihnen allen gemeinsame Merkmal, aus dem Nomadentum und der Ungebundenheit schlechthin: aus den tribalen ʿarab.
Was wir heute als „Araber“ bezeichnen, ist ein ethnisches Konglomerat, das auf semitischsprachige nomadische oder halbnomadische ʿarab-Stämme einerseits, sesshafte Volksgruppen in Südarabien andererseits zurückgeht, die vermutlich einen gemeinsamen prähistorischen Ursprung im Fruchtbaren Halbmond in der nördlichen Region der Arabischen Halbinsel haben und im Laufe der Zeit unterschiedliche Sprachen und Lebensweisen ausprägten: Die Bewohner der Südhalbinsel entwickelten sich auf der Grundlage von Bewässerungssystemen und Landwirtschaft zu sesshaften Gesellschaften (oder haben sich auch mit vor ihnen dort ansässigen Völkern vermischt), während ʿarab als Weidewirtschaft betreibende Hirten auf der Suche nach Wasserstellen und Niederschlag umherzogen und auf Raubzüge gingen. Wechselseitige Interessen, sowohl kommerzieller als auch politischer Natur, brachten beide Gruppierungen in den Jahrhunderten vor der Entstehung des Islam enger zueinander. In der frühislamischen Zeit wurde der Zusammenhalt dieses Konglomerats, da man gemeinsam an der Errichtung eines Großreichs beteiligt war, vorübergehend noch enger – zugleich aber auch komplizierter, weil in dem Völkergemisch nun auch Menschen von außerhalb der Arabischen Halbinsel aufgingen. Im Laufe dieser langen Entwicklung wurden die ʿarab-Stämme jedenfalls zu einem Teil – oder vielmehr zum eigentlichen Herzstück – der im weitesten Sinn als Volksgruppe verstandenen Araber. Das sind sie, ungeachtet ihrer geringen Zahl, bis auf den heutigen Tag geblieben. Allerdings haben sie auch einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass die arabische Geschichte voll innerer Widersprüche ist. Denn die Spannungen zwischen sesshaften und nichtsesshaften Elementen innerhalb des Konglomerats haben zwar viele positive Kräfte freigesetzt, aber auch für verheerende Instabilität gesorgt. In den folgenden Kapiteln werden wir diese positiven und negativen Entwicklungen näher untersuchen.
Das Zustandekommen und der Erhalt dieses Völkergemischs verdanken sich mehr als allem anderen einer besonderen Kraft: der arabischen Sprache – nicht der Alltagssprache, sondern dem reichen, merkwürdigen, subtilen, hypnotischen, märchenhaft verzaubernden, wahnwitzig schwierigen „Hoch“-Arabisch, das die tribalen Wahrsager und Dichter auf ihren Zungen trugen. Es hat über weite Strecken und womöglich von Anfang an die Ausbildung einer umspannenden arabischen Identität ermöglicht und beschleunigt. Ethnische Identität kommt ohne eine gemeinsame Sprache nicht aus. Sie ist der Versuch, die von Gott geschaffene babylonische Sprachverwirrung rückgängig zu machen, die zu unüberwindlichen Verständigungsschwierigkeiten geführt und die Menschheit auseinandergebracht hat. Arabern dient ihre Sprache nicht nur als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, sondern sie macht sie vielmehr erst zu dem, was sie sind. „Es heißt“, so lautet ein Sprichwort, das bereits im 9. Jahrhundert n. Chr. altbekannt war, „dass göttliche Weisheit in Form dreier Körperteile vom Himmel auf die Erdenmenschen niederkam: dem Gehirn der Griechen, den Händen der Chinesen sowie der Zunge der Araber.“5
Auch daher spielen in der arabischen Geschichte anders als in der Geschichtsschreibung im Allgemeinen weniger die Taten großer Männer eine Rolle als wortgewaltige, sprachgewandte Männer (und einige Frauen) – Dichter, Prediger, Rhetoriker, Schriftsteller, allen voran der Verfasser (beziehungsweise für Muslime der Verkünder) des ersten auf Arabisch verfassten Buches, des Koran. Diese Personen und ihre Worte sind es, um die es in diesem Buch vor allem gehen wird. Denn ihnen ist es zu verdanken, dass Identität gestiftet, Einheit geschaffen und der Gang der Geschichte vorangetrieben wurde. Um zu überprüfen, inwiefern sie mit ihrer Sprache den Fortschritt der Geschichte befördert oder gehemmt haben, werden wir hin und wieder eine Zwischenbilanz ziehen. Denn noch ist es nicht vorbei mit den Fort- und Rückschritten. Aktuelle Ereignisse (nicht zuletzt der „Arabische Frühling“ und das Chaos, das auf ihn folgte) haben gezeigt, dass die Geschicke der arabischen Welt nach wie vor maßgeblich von der Sprache gelenkt werden – von Slogans, Gesängen, Propaganda, Lügen, Desinformation, dem von alters her faszinierenden Zauber von Schwarz und Weiß. Oder vielmehr: die Geschicke der arabischsprachigen Welt, der Arabosphäre. Denn auch heute ist die Sprache der Araber nicht nur einfach ihre Sprache, sondern das, was sie ausmacht. Es wäre daher präziser, nicht von „Arabern“ zu sprechen, sondern von „Arabisch sprechenden“ Menschen. Denn will man die Bevölkerung, die auf dem Gebiet zwischen der Straße von Gibraltar bis zur Straße von Hormus lebt, unter dem Begriff „Araber“ zusammenfassen, könnte man mit Fug und Recht auch alle Einwohner Nord- und Südamerikas, Australiens, Irlands und Großbritanniens ungeachtet ihrer Herkunft als „Engländer“ bezeichnen – oder vielmehr als „Angeln“, denn auch diese waren schließlich umherwandernde Stämme, deren Sprache als einziges Zeugnis eines längst untergegangenen Imperiums überdauert hat.
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Um zu verstehen, woraus sich die arabische Identität speist – die ja bei aller Uneinigkeit und Differenz zwischen Arabern der Anlass dafür ist, dass sie das Traumgespinst von politischer Einheit wahrzumachen versuchen –, müssen wir darum auf ihre Sprache hören und weit in die Zeiten vor der Entstehung des Islam zurückgehen. Über die vorislamische Vergangenheit, die nur spärlich erforscht ist, wissen wir in der Regel wenig. Sie umfasst jedoch einen Zeitraum, der nach Quellenlage ebenso lang ist wie die Epoche seit dem schicksalhaften Beginn des Islam in Arabien. Die früheste bekannte Inschrift, in der Araber erwähnt sind, datiert auf das Jahr 853 v. Chr.6 Wir schreiben das Jahr 2017 n. Chr., als ich mit der Niederschrift dieses Manuskripts beginne. Zwischen dem Jahr 582 n.Chr., als nach islamischer Überlieferung zum ersten Mal prophetische Zeichen in Mohammed erkannt worden sein sollen, und dieser antiken Inschrift liegt damit exakt die gleiche Anzahl von Jahren wie zwischen dem Jahr 582 n. Chr. und heute.
Der Islam setzte mit einem Blitz ein, der uns die Sicht auf das, was davor war, nimmt. Seine enorme Strahlkraft erstreckte sich zudem über alle nachfolgenden Ereignisse und hat vieles davon in den Schatten getaucht. Um uns ein Gesamtbild von den historischen Ereignissen zu machen und dabei für ausgeglichene Lichtverhältnisse zu sorgen, müssen wir versuchen, den Blickwinkel zu erweitern: Denn die Ereignisse nach dem Beginn der islamischen Zeitrechnung machen nur die Hälfte des Bildes aus.
Was der Islam, und damit einhergehend das vermeintlich einheitliche arabische Narrativ, tatsächlich in Gang setzte, war die Entwicklung arabischer Kommunikationstechnik. Mit anderen Worten: Es bildeten sich neue Methoden im Umgang mit der Sprache und ihrer Kontrolle heraus und mit ihnen ein Identitätsgefühl. Während in der vorislamischen Zeit Literatur, Kultur, Geschichte und Identität überwiegend mündlich überliefert wurden, lösten die mit dem Islam aufkommenden Technologien so gut wie alle wichtigen Entwicklungen der arabischen Geschichte aus. Wir werden diese Technologien der Reihe nach genauer betrachten. Fürs Erste mag es reichen, eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie wichtig diese Technologien für unsere Untersuchung sind. Im frühen 7. Jahrhundert erscheint, vergleichsweise spät, das erste Buch arabischer Sprache – der Koran: Über Nacht (gemessen an den 3000 Jahren, mit denen wir uns hier beschäftigen) werden damit eine Sprache und die Menschen, die sie sprechen, zum ersten Mal sicht- und lesbar. Plötzlich sind sie präsent, schwarz auf weiß. Eine Vergangenheit haben sie bereits, jetzt betreten sie ihre historische Gegenwart mit einer Energie, die ihnen ein großes Reich bescheren wird.
Um das Jahr 700, als man kurzerhand die Amtssprachen Griechisch und Persisch zugunsten des Arabischen über Bord wirft, wird dieses Reich mit all seinen Bewohnern in rasender Geschwindigkeit arabisiert: Arabisch ist das neue Latein. Im 8. Jahrhundert hängt das arabische Papierhandwerk das im Pergamentzeitalter eingemummelte Europa meilenweit ab und ein Strom an Worten und Ideen bricht sich auf Arabisch Bahn. Sieben Jahrhunderte später holt Europa mit dem Buchdruck auf. Die arabische Kursivschrift funktioniert nicht wirklich mit beweglichen Lettern, arabischer Bleisatz wird in den eigenen Landen misstrauisch beäugt wie Dosenspaghetti in Italien. Als zu guter Letzt im 19. Jahrhundert dann doch arabische Buchpressen langsam ihre Arbeit aufnehmen, geht damit eine arabische Renaissance einher, die Nahda beziehungsweise das „Erwachen“. Hundert Jahre später verbreiten grenzüberschreitende Transistorradios einen neuen, mitreißenden panarabischen Nationalismus über den Äther. Eine Generation später finden arabische Schriftsetzer endlich ein Gegenmittel zum Fluch der Kursivschrift – Textverarbeitungsprogramme. Zur gleichen Zeit startet das Satellitenfernsehen, Worte fliegen immer weiter und schneller. Mit dem Aufkommen der sozialen Medien im 21. Jahrhundert kann sich dann eine ganz neue, subversive Sprache Gehör verschaffen – zumindest bis die Reaktionären Facebook ebenfalls für sich entdecken. Jetzt sind es die digitalen Dinosaurier, die alles daran setzen, die Medien und Gedanken unter ihre Gewalt zu bringen.
Über alldem sollten wir aber nicht vergessen, dass auch die vorislamische Hälfte der Geschichte ihre sozialen Medien und Wortführer hatte. Auch damals flogen bereits Worte, wenn auch die meisten mit dem Winde davon. Doch einige hat man eingefangen – auf Stein, im Gedächtnis – und mit etwas Anstrengung können wir sie immer noch hören.
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Eine zeitgenössische Geschichte der arabischen Welt, die exakt in der Halbzeit einsetzt, also mit dem Beginn des Islam, stammt von dem berühmten Orientalisten Albert Hourani. Um seine Leser an die Vergangenheit heranzuführen, beginnt er seine Geschichte der arabischen Völker mit dem Porträt des großen arabischen Historikers Ibn Chaldūn aus dem 14. Jahrhundert n. Chr.7 Ibn Chaldūn hatte sich, der unablässigen Intrigen und Machtkämpfe müde geworden, die sein Leben über Jahrzehnte beherrscht hatten, nach Algerien in ein von Mauern geschütztes Dorf zurückgezogen, um sich dort in Ruhe seinen Studien zu widmen. Aufgrund eingehender Betrachtung der gesellschaftlichen Konflikte in seiner unmittelbaren Umgebung entwickelte er, mit „Worten und Ideen, die in meinem Kopf wie der Rahm in einem Butterfass aufsteigen“,8 wie er es ausdrückte (wie beneidenswert!), ein Modell für den Aufstieg und Fall von Dynastien. Demzufolge führt die ʿasabiyya – was wörtlich so viel wie „Zusammengehörigkeit“ bedeutet, aber häufig auch mit „Stammessolidarität“ übersetzt wird – unter Nomadenstämmen dazu, dass sie militärische Stärke erlangen, mit Gewalt die Herrschaft eines etablierten Staatsgebildes übernehmen und neue Dynastien begründen: Damit gelangen vormals randständige, frei umherziehende Stämme ins Zentrum und werden sesshaft. Im Laufe der Zeit allerdings – im Normalfall innerhalb von drei Generationen – zehrt das schöne Leben am Eifer einer Dynastie, woraufhin ein neues Herrschergeschlecht, das noch die nomadische Vitalität in sich trägt, an ihre Stelle tritt.
Hourani war Wissenschaftler, ein Mann der Bücher aus dem Umfeld des St. Antonyʼs College in Oxford. Mit seinem akademischen Blick sah er in Ibn Chaldūn den Repräsentanten eines Zeitalters und einer Kultur. Als ich beide Autoren in meinem Wohnturm im Jemen einer neuerlichen Lektüre unterzog, wurde mir etwas bewusst: Hier, mittendrin, von Mörsern und Raketen am Schlaf gehindert (mein dritter bewaffneter Konflikt), Tag und Nacht mit Parolen, Predigten und Gedichten – politischen, keinen poetischen – bombardiert, sah ich in Ibn Chaldūn in seinem stillen Kämmerlein in Algerien meinen Leidensgenossen. Während um uns herum Stämme und Dynastien sich bekriegen, Intrigen schmieden und immer wieder neue Machtkämpfe austragen, schöpfen wir beide unsere Geschichtsphilosophie aus der unmittelbaren Erfahrung. Setzte Hourani Ibn Chaldūn als literarisches Mittel ein, so finde ich mich unbeabsichtigt als dessen Wiedergänger wieder. Mit anderen Worten erlebe ich Geschichte in situ, an Ort und Stelle. Ihre Überreste liegen genau unter mir, denn der Turm, in dem ich wohne, steht auf den Ruinen des vorislamischen Sanaa – eine der großen Städte Sabas beziehungsweise Schebas –, auf den Ruinen des Palastes des abbasidischen Statthalters und Gott weiß von was noch. In situ also und in Echtzeit: Ich muss nur aus dem Fenster schauen, um zu sehen, woraus Geschichte gemacht wird. (Gerade eben ist eine Gruppe Kinder vorbeigezogen, die „Tod Amerika!“ skandierten, begleitet von Trommelschlägen und dem Geknatter von Feuerwerkskrachern und einer hoch in die Luft gehaltenen roten Kiste mit einem weiteren Märtyrer darin. Erbärmlich klein ist die Kiste.)
Die Geschichte unserer Zeit wird aus Stahl und Blei geschmiedet. Als ich neulich mit einer leeren Autobatterie liegen blieb und mir ein Autofahrer zu Hilfe kommen wollte, wir aber kein Überbrückungskabel hatten, kam uns beiden gleichzeitig dieselbe zündende Idee: Wir stoppten einen Wagen mit Stammeskriegern und liehen uns ihre AK47-Sturmgewehre aus, um die Batterien damit zu verbinden. Das Auto sprang beim ersten Versuch an. Fantastisch! „Also sind die Dinger doch für was gut“, sagte ich freudestrahlend, als ich die Waffen zurückgab. „Ja“, pflichtete mir einer der Stammeskrieger bei, „zum Töten.“
Was soll man dazu sagen? Man muss es möglichst auf die leichte Schulter nehmen. Zu sehen, wie das Land, das ich liebe, auseinanderfällt, gleicht, mit ansehen zu müssen, wie ein alter, geliebter Freund den Verstand verliert und langsam aber sicher Selbstmord begeht.
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Meiner Meinung nach hat Ibn Chaldūns Modell, sein elegantes Paradigma, weiterhin Bestand. Wollen wir es jedoch auf drei Jahrtausende arabischer Geschichte anwenden, bedarf es einer gewissen Verfeinerung. Der zentrale Begriff bleibt ʿasabiyya, jene kollektive Kraft, die eine vorübergehende Einheit herbeiführt:
Sie bildet die Grundlage für
… erfolgreiche Raubzüge, Eroberungen oder, mutatis mutandis, Umstürze;
… infolge von Raubzug/Eroberung/Umsturz und dem daraus resultierenden Monopol auf Ressourcen (Kamele, Steuern, Erdöl und -gas) erlebt die Stammesgruppe einen florierenden Aufschwung;
… entweder reichen die Ressourcen für den stetig wachsenden Stamm nicht aus, und/oder die Anführer geraten über die Verteilung des Wohlstands in Streit, sodass die Einheit zerfasert.
Letztendlich wird sich eine neue ʿasabiyya herausbilden und der Vorgang wiederholt sich.
Wie Ibn Chaldūn bin ich der Meinung, dass der Wandel von Nomaden ausgeht. Ich würde sogar so weit gehen – so seltsam es auch klingen mag –, zu behaupten, dass sich das bis heute nicht geändert hat, obwohl es nur noch verschwindend wenige Araber gibt, die nomadisch leben. Die beiden von Ibn Chaldūn herausgearbeiteten Grundformen menschlicher Lebensweise trifft man aber noch heute an:
Erstens: hadarī oder „sesshaft“, politische Gemeinschaften, (relativ) statische Systeme, die sich durch hadāra auszeichnen, ein Begriff, der häufig mit „Zivilisation“ im Sinne einer Ansiedlung von Menschen, einer Stadt (lat. civitas, griech. pólis) übersetzt wird; zweitens: badawī oder „beduinische“, apolitische Gemeinschaften, dynamische Systeme, in denen Menschen außerhalb ziviler Gemeinwesen leben, und die auf der „Institution“ ghazw, was „Raubzug“ (oder „Eroberung“ oder „Umsturz“) bedeutet, beruhen.
Worauf ich hinaus möchte: Auch wenn Beduinen selbst vom Aussterben bedroht sind, so passen doch zahllose große Akteure und deren Vorgehen im arabischen Politikbetrieb in diese zweite, beduinische Kategorie. Beide Systeme, sesshafte Völker und beduinische Stämme, finden in einem berühmten Koranvers Erwähnung:
O ihr Menschen, Wir erschufen euch aus Mann und Frau und machten euch zu Völkern und Stämmen, auf dass ihr einander kennet.9
Dieser Dualismus, der nicht immer unbedingt auch einen Gegensatz darstellt, ist bereits in den ersten dokumentierten Quellen der arabischen Zeit belegt. Die erste Erwähnung eines Arabers stammt aus dem Jahr 853 v. Chr. und betrifft einen gewissen Gindibu („Heuschrecke“), einen arabischen Stammesführer, der im Besitz großer Kamelherden war, und vom assyrischen Staat als Zwischenhändler beauftragt wurde: ein Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen sesshafter und beduinischer Gesellschaft zu beiderseitigem Nutzen. Sehr viel später verdankt sich der Erfolg des Propheten Mohammed bei der Errichtung des ersten islamischen Staates unter anderem seinem Geschick, sesshafte und beduinische Elemente zu verbinden. In jüngster Zeit wiederum ist das beinahe vollständige Scheitern der gefeierten demokratischen Revolutionen von 2011 nicht zuletzt auf das Wiedererstarken des beduinischen Systems und seine Auflehnung gegen sesshafte Strukturen zurückzuführen. Bis zum Sommer 2014 galt der Jemen als Erfolgsstory des Arabischen Frühlings, also des Versuchs, eine stabile zivile Gesellschaft aufzubauen. Seither ist der Norden des Landes in einen bewaffneten Aufstand verwickelt, in dem eine alte, über tausendjährige Fehde wiederauflebt, ein Bürgerkrieg ist ausgebrochen, in dem die Nachbarstaaten (die in der Terminologie Ibn Chaldūns von Beduinen-Dynastien beherrscht werden) mitmischen. Geschichte, wie ich schon sagte, in Echtzeit. Kriege gehören zum Schlimmsten, was die Geschichte zu bieten hat, und Bürgerkriege zur übelsten Form des Krieges: Sie werden nicht nur innerhalb der Zivilgesellschaft, sondern gegen sie geführt. Ibn Chaldūn kannte in der Frage nach den Hauptschuldigen keine Zweifel: „Überall dort“, so schrieb er, „wo die Beduinen gesiegt haben, bricht die Zivilisation zusammen.“10
Natürlich ist es heutzutage nicht so, dass tatsächlich Nomaden auf Kamelen staatliche Institutionen aus den Angeln heben, demokratische Aufstände kapern oder Bürgerkriege entfachen. Dennoch scheint das zentrale nomadische Verhaltensmuster – der Raubzug, der ghazw – immer noch ziemlich lebendig zu sein. Vielleicht war deswegen das Bild von den kamelreitenden Regimeanhängern, die 2011 unter den auf dem Tahrir-Platz in Kairo Protestierenden Angst und Schrecken verbreiteten, so wirkmächtig. Andernorts entfalten die neuesten, mit großkalibrigen Maschinengewehren bestückten Toyota-Pickups dieselbe Wirkung.
Das Wort Raubzug ist natürlich mit allen möglichen negativen Assoziationen aufgeladen. Es trägt den Beigeschmack von Piraterie, Barbarei, vom Unzivilisierten im negativsten Sinne. Dabei sind Raubzüge durchaus ein bewährtes Mittel zur gerechteren Umverteilung von Vermögen. Die Art und Weise, wie diese Umverteilung umgesetzt wird, mag den ethischen Anschauungen mancher Menschen zuwiderlaufen, wobei sie bei nüchterner Betrachtung eigentlich rational sind: Du hast zu viel, ich habe zu wenig, also nehme ich mir, was du nicht brauchst.
Es ist wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Denkweisen haben. Auch Kannibalen haben, wie Kulturforscher von Michel de Montaigne bis Marshall Sahlins herausstellten, ihre eigenen rationalen Denkweisen.11 Im Wesentlichen sind die Menschen auf der ganzen Welt gleich, doch sind sie es auf unterschiedliche Weise.
Die arabische Geschichte zeichnet sich über weite Strecken durch die Koexistenz zweier unterschiedlicher Denkweisen aus. Sie ist geprägt von der scheinbaren Dichotomie zwischen Sesshaften und Beduinen, Völkern und Stämmen, vom ständigen Wechselspiel zwischen Streit und Umarmung, Liebe und Hass, Yin und Yang. Welche der beiden Denkweisen ist „typisch arabisch“? Diese Frage bringt das Problem der arabischen Identität auf den Punkt: Wie ich schon sagte, bezeichnet der Begriff „Araber“ im Wesentlichen tribale Gruppen, die abseits sesshafter Gemeinschaften und außerhalb ihrer zivilen Institutionen leben. In gewisser Weise sind Araber demnach umso weniger „arabisch“, je mehr sie sich in zivile Gesellschaften einfügen und je mehr sie infolgedessen von ihrem eigenen Ethos aufgeben. Im globalisierten Einerlei einer zunehmend urbanisierten Welt ist die Aussicht auf den dauerhaften Verlust eines wichtigen Aspekts der arabischen Identität äußerst schmerzhaft.
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Mit Völkern und Stämmen ist allerdings noch nicht alles über die arabische Geschichte gesagt. Treten wir einen Schritt zurück, um die Landkarte als Ganzes und im Wandel der Zeit zu erfassen, sehen wir sofort, dass sich der gerade geschilderte historische Kreislauf aus Zusammenschluss und Spaltung innerhalb riesiger Imperien abspielt – in Assyrien, Rom, Persien, Byzanz und im Osmanischen Reich, in Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist nicht unbedingt ein Teufelskreis, aber ein Zahnrad mit Zähnen: Manchmal greifen Zähne und imperiale Interessen perfekt ineinander – wie im Falle der beiden Fruchtbaren Halbmonde (mehr dazu später) oder von Ägypten und Iran; manchmal verhaken sie sich. Jedes Mal aber entsteht dabei Reibung, Hitze oder ein Flächenbrand: Der Kreislauf ist eigentlich ein Feuerrad, das ebenso schöpferisch wie zerstörerisch die arabische Identität im Laufe von 3000 Jahren zum Schmelzen gebracht und neu geformt hat.
Im Verlauf unserer arabischen Erzählung werden wir jene scheinbar ewig wiederkehrende, häufig tragische Abfolge aus Einheit und Fragmentierung näher betrachten. Ebenso wie die Kraft, die das Feuer nährt, Revolutionen entfacht und charakteristischer für Araber ist als ihre im Laufe der Geschichte häufig wechselnden und immer wieder neuen Identitäten: die arabische Sprache. Sie spielt eine entscheidende Rolle in allen wichtigen, auf Informationstechnologie beruhenden historischen Entwicklungen im Laufe der arabischen Geschichte, angefangen bei der schriftlich festgehaltenen wörtlichen Offenbarung Gottes über die Textverarbeitung bis hin zur Bewusstseinsmanipulation durch die autoritären Regime der jüngeren Zeit. Wie ein roter Faden zieht sich die Sprache durch alle Versuche arabischer Möchtegernmachthaber, ʿasabiyya zu schaffen, „Zusammengehörigkeit“ oder Einmütigkeit, um die Stimme der Völker und Stämme „zu einen“, wie es auf Arabisch heißt.
Das vorliegende Buch ist eine Geschichte der Araber, nicht des Arabischen. Dennoch lässt sich kaum besser und facettenreicher analysieren, was es heißt, „Araber zu sein“, als wenn man diesen roten Faden verfolgt. Die Sprache ist das einzige Bindeglied, das ein dauerhaftes Band zwischen Arabern geknüpft, ihnen eine gemeinsame Identität gegeben und Einheit gestiftet hat. Selbst die Einheit, die der Islam brachte, basierte letzten Endes auf Worten. Die drei großen Elemente, die die Macht der europäischen Zivilisation begründet haben, sind laut Thomas Carlyle „Schießpulver, Buchdruck und die protestantische Religion“. Für Araber sind es Worte, Reime und Rhetorik.
Problematisch dabei ist, dass Worte sowohl entzweien als auch verbinden können. Eben das geschieht im Jemen, genauso wie in vielen anderen arabischen Ländern, weswegen der Traum von der arabischen Einheit auch weiterhin eine Schimäre bleiben wird. Warum das so ist und sich wie ein Leitmotiv durch die gesamten 3000 Jahre arabischer Geschichte zieht, ist das Thema dieses Buches.
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Ein letztes Wort in eigener Sache möchte ich noch vorausschicken, bevor wir uns den Stimmen der arabischen Welt zuwenden. Auf den folgenden Seiten werden nicht nur Menschen zu Wort kommen, sondern gelegentlich auch Objekte in Augenschein genommen. Man könnte auch von tangibilia sprechen, weil sie uns ermöglichen, in direkte Berührung mit der Geschichte zu kommen. In ihnen wird eine Zeit oder ein Zeitraum in verdichteter, metaphorischer Form anschaulich und Komplexes leichter verständlich. Manche dieser Objekte sind groß wie ein aus Ruinenresten zusammengefügtes Gebäude – eine Moschee, für deren Bau Steine aus heidnischen und christlichen Bauwerken verwendet wurden –, manche so klein wie eine in den englischen Midlands von König Offa geprägte arabische Münze. Einige geben Rätsel auf, wie ein Amulett mit Allah auf der einen und Krischna auf der anderen Seite, andere sind voller Ironie, wie der Colt, auf den der Name eines US-Präsidenten aus der Zeit des Kalten Krieges eingraviert ist. Es sind Objekte, die Jorge Luis Borges „Zahir“ genannt hat und damit einen alten arabischen Begriff neu prägte: ein eindringlicher, unvergesslicher Gegenstand, der je nach Ort und Zeit eine andere Gestalt annimmt.12
Weitere, literarischere Metaphern werden mir auf den folgenden Seiten einen nützlichen Dienst leisten. Eine davon ist das Feuerrad, ein aus der Mythologie und Literatur bekanntes Symbol für Leid – sowohl Ixion, der sich an der göttlichen Ordnung vergangen hat, als auch König Lear, der sein eigenes Königreich teilt, sind „gebunden / Auf einem Feuerrad“. Räder eignen sich natürlich grundsätzlich gut als Metapher in der Geschichtsschreibung: Sie bewegen sich linear vorwärts in der Zeit und drehen sich dabei zugleich im Kreis um sich selbst – ein Symbol für den Wandel und die Wiederkehr des immer Gleichen. Für die arabische Geschichte empfiehlt es sich jedoch, auch noch ein anderes Bild im Hinterkopf zu behalten.
In meinem ersten Buch schrieb ich, im Jemen sei die Vergangenheit allgegenwärtig. Mir war zu dem Zeitpunkt nicht bewusst, dass der Kolonialbeamte und Arabienreisende Harold Ingrams in seinem Jemenbuch fast wortgleich geschrieben hatte: „Es ist ein Land, in dem die Vergangenheit allgegenwärtig ist.“13
Obwohl ein Menschenalter und ein oder zwei Revolutionen zwischen unseren Aussagen liegen, war die Vergangenheit, über die wir beide schrieben, nicht nur ein und dieselbe, sondern auch gleichermaßen gegenwärtig. Das ist sie noch heute, eine Generation und ein paar Revolutionen später. Und nicht nur uns britischen Beobachtern kommt es so vor, als wolle die jemenitische Vergangenheit nicht vergehen. Auch der syrische Dichter und Literaturwissenschaftler Adonis bemerkt in seinem Werk Stillstand und Wandel, es sei in der arabischsprachigen Welt verbreitet, „das Vergangene allgegenwärtig zu halten“.14 Die Allgegenwart der Vergangenheit wiederum verleitete den scharfsinnigen Berichterstatter Jan Morris dazu, 1955 das Königreich Saudi-Arabien „eine altertümliche Autokratie“15 zu nennen – gerade einmal zwei Jahre nach dem Tod seines Gründungsautokraten.
Was sich daraus ergibt, ist eigentlich eine Binsenwahrheit: In einer Vergangenheit, die immerzu gegenwärtig bleibt, ist auch die Zukunft bereits enthalten, und zwar im doppelten Wortsinn: Sie besteht aus der Vergangenheit, wird aber auch von ihr begrenzt. Die positiven Folgen sind feste Verwurzelung, die negativen die geringe Offenheit für Neues. Dann wird die Vergangenheit zu einem Dämon, der uns die Luft abschnürt und den wir wie einen Untoten durchs Leben schleppen. Ein aktuelles Beispiel dafür sind die Ereignisse des Arabischen Frühlings, in denen sich die revolutionären Hoffnungen einer jungen Generation Bahn brachen – und beinahe überall von den reaktionären rückwärtsgewandten Kräften erstickt wurden.
Die arabische Geschichte zu ergründen, heißt folglich, dass man ab und an die lineare Chronologie verlassen muss, um einen Blick sowohl zurück als auch nach vorne zu werfen. Denn wie T. S. Eliot wusste:
Zeit Gegenwart und Zeit Vergangenheit
Sind vielleicht beide in Zeit Zukunft gegenwärtig,
Und Zeit Zukunft enthalten in Vergangenheit.16
Dass Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion nicht schön sortiert aufeinanderfolgen wie die Seiten eines Buches oder ein Jahr auf das andere, macht allen Historikern das Leben schwer, aber jemanden, der über arabische Geschichte schreibt, kann es zur Verzweiflung bringen. Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende können vergehen, bis Ursachen, Umstände oder Schwachstellen, die vor sich hin schlummern, plötzlich zutage treten und – wenn überhaupt – einer Lösung zugeführt werden können. Ein vielleicht extremes Beispiel dafür ist eine kleine Begebenheit, die sich Mitte des 20. Jahrhunderts ereignete, als ein Dorfscheich von den britischen Kolonialbehörden in Aden forderte, sie sollten für die Ausgrabung und Instandsetzung eines alten Brunnen aufkommen. Als Argument brachte der Scheich vor, der Brunnen sei von einem römischen Expeditionskorps im Jahre 26 v. Chr. zugeschüttet worden und die Römer seien wie die Briten schließlich auch „Franken“ – was Europäer bedeutet.17 Ein ernsteres Beispiel ist die seit 1400 Jahren regelmäßig zu blutigen Auseinandersetzungen führende Frage, wer im nachmohammedanischen Staat die legitime Macht innehat und in welcher Form sie weitergereicht wird. Daran wird deutlich, dass wir außer der Metapher des Rades, das unbeirrt der Zeitläufte entlangtrudelt, noch ein anderes Bild benötigen: eines, das für Wiederholung steht, aber auch für einen unbestimmten Ausgang.
Wie so oft hilft die Dichtung uns weiter. Der syrische Dichter Nizār Qabbānī beschrieb die allgegenwärtige arabische Vergangenheit als „die Sanduhr, die dich verschluckt,/ bei Nacht und bei Tag“.18
Die Vergangenheit ist dabei der Sand, der am Boden des Stundenglases liegt, bis es von den Ereignissen umgedreht wird. Qabbānī wusste, dass Geschichte nicht nur Zeit ist, die vergeht oder die wir uns vertreiben, sondern dass sie auch selbst aktiv werden kann, oft zu unserem Schaden. Die Geschichte gleicht einer Sanduhr, die die Zeit anzeigt, ohne sie zu messen – bis sie ein weiteres Mal umgedreht wird und sich zeigt, dass die Sandkörnchen Menschenleben waren oder vielmehr Tote. Denn wir Menschen sind sowohl der Treibsand wie auch dessen Opfer. Die Sandkörnchen lassen sich zählen: In meiner Wahlheimat hat der Krieg 6600 Opfer in der Zivilbevölkerung gefordert und mindestens 50 000 Kämpfer getötet, darunter viele beinahe noch Kinder. Schätzungsweise 85 000 Kinder und Kleinkinder sind still und leise verhungert, denn Krieg und Armut gehen Hand in Hand. Diese nackten Zahlen entnehme ich den Statistiken von UN, ACLED19 und Save the Children von 2018.