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Das wiedererweckte Wort
ОглавлениеDoch auch diese lang anhaltende Epoche der Anonymität wurde durch das Wort beendet. Ebenso wie die Deutschen und die Italiener ihre nationale Identität zunächst in der Literatur entdeckten, bevor sie sich an deren politische Umsetzung machten, so ertönte auch der arabische Weckruf zunächst aus dem Mund von Dichtern. So etwa bei Ibrahim al-Yāzidschī im Jahr 1868:
Erwacht, o Araber, und erhebet euch!
Des Unglücks Fluten umspülen eure Knie.22
Dabei war der Weg zu nationaler Einheit ein sehr steiniger. Im 19. Jahrhundert entstand aus bereits vorhandenen europäischen Vorstellungen eines linguistisch-ethno-territorialen Nationalismus die Nahda, das „Erheben“ oder „Erwachen“ (in westlichen Quellen häufig auch als „Renaissance“ bezeichnet, was nicht ganz zutreffende Assoziationen weckt). Es erwachten allerdings zunächst vor allem die Intellektuellen; die überwiegende Mehrheit der Araber schlief weiter. Ein weiteres Problem stellte das dritte – territoriale – Element des europäischen Modells dar. Denn für al-Yāzidschī und seine intellektuellen und dichtenden Zeitgenossen waren Araber im Wesentlichen alle Menschen, denen die arabische Muttersprache gemeinsam war. Diese protonationalistischen Schriftsteller betrachteten sich selbst als Demiurgen: Mit dem einen Bein standen sie in der Tradition von europäischen Denkern wie Herder, mit dem anderen in der fernen vorislamischen Vergangenheit, der Zeit ethnischer Selbstfindung. Was damals auf der Halbinsel möglich gewesen war und sich jetzt in Europa vollzog, erwies sich jedoch in der arabischsprachigen Welt, die sich im Zuge der islamischen Eroberungen ausgedehnt hatte und inzwischen über ein Viertel des Erdballs erstreckte, als ungleich schwerer. Die Arabosphäre war einfach zu groß und vor allem auch wirtschaftlich zu disparat, um ein stabiles Ganzes zu bilden; das Osmanische Reich war nach den kräftezehrenden jahrhundertelangen Bemühungen, über große Teile dieses riesigen Territoriums zu gebieten, erschöpft zusammengebrochen. Auch die weitere Zerstückelung der von ihm übrig gebliebenen Reste durch die Siegermächte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs trug nicht eben dazu bei, die Hoffnungen auf territoriale Einheit zu beflügeln. Hinzu kam noch der durch das zionistische Projekt qualvoll ins Herz der arabischen Welt getriebene Keil und die Entdeckung riesiger Ölquellen in einigen der entlegensten Winkeln der Landkarte – und schon wurden Grenzen und Krummdolche gezogen.
Der Nationalismus erwies sich damit als unbrauchbar, um die arabische Stimme oder die arabische Welt zu einen. In jüngerer Zeit hat es daher Versuche gegeben, einen anderen Pfad einzuschlagen, um den Traum von der Einheit wahrzumachen – und zwar denselben Pfad, der so erfolgreich in den Islam mündete. Zwar sind auch heute noch Sprache, Identität und das Einheitsideal so eng miteinander verflochten wie zu Zeiten der vorislamischen Lobpreisdichtung und der Offenbarung des Koran – ʿarabiyya, die Hochsprache, „gilt den meisten Arabern als das wichtigste, die arabische Welt einigende Band“23 –, nur spricht kein Mensch heute dieses klassische Hocharabisch oder hat es jemals als Muttersprache gesprochen, jedenfalls nicht seit den unvordenklichen Zeiten, in denen es sich entwickelte. Allenfalls wird es noch (mit wechselndem Erfolg) als Schriftsprache verwendet. Hocharabisch ist also ein imaginiertes Band, aber auch eine Fessel – ein unerreichbares Ideal, das auf einen freien Schreibfluss und Ausdruck eher hemmend wirkt. Die Wirklichkeit hingegen besteht aus Dialekten und Uneinigkeit. Eine Einigkeit unter Arabern hat es weder sprachlich noch anderswie gegeben – außer in Sonntagsreden und auf dem Papier.
Dennoch berufen sich mehr als 400 Millionen Menschen auf Hocharabisch als die idealisierte literarische Form ihrer gesprochenen Sprache (und weitere 1,4 Milliarden Muslime auf Hocharabisch als liturgische Sprache). In der Praxis sieht es jedoch so aus: Selbst in einem relativ kleinen Land wie Tunesien mit seinen elf Millionen Einwohnern gibt es vier unterschiedliche dialektale Wörter für „Ich“ (auf Hocharabisch ʾanā): anī, ʾanī, nā und nāy.24 Einen weiteren Extremfall stellt (mit einer Fläche von 750 Quadratkilometern) der winzige Inselstaat Bahrain dar, wo die schiitische Mehrheit – die „Bahārna“ beziehungsweise einheimischen Bahrainer – einen „sesshaften“ Dialekt spricht, die herrschende sunnitische Minderheit – die „Araber“, wie sie seit ihrer Machteroberung im Jahr 1783 hier immer noch genannt werden – hingegen einen „beduinischen“.25 Vom Konfessionalismus einmal abgesehen: Welche Hoffnung auf Einheit kann es geben, wenn schon die Bewohner eines Königreichs, das kleiner ist als die Isle of Mull, zwei unterschiedliche Sprachen sprechen?