Читать книгу Arab - Tim Mackintosh-Smith - Страница 15
Arabesken
ОглавлениеAber es gibt noch eine andere Form der Einheit, nicht nur die rhetorisch erzeugte Solidarität und Gemeinschaft, und sie hat sich tatsächlich als wesentlich beständiger erwiesen und größere Kreise gezogen. Eine Anekdote aus dem frühen 9. Jahrhundert mag das verdeutlichen.
Ibn Arabī, der „Sohn des Beduinen“ (sein Name besteht aus dem Singular von aʿrāb, den Nomaden der oben zitierten Koranverse), ein anerkannter Experte für die reine arabische Sprache seiner beduinischen Namensvettern sowie Verfasser zahlreicher Werke über die Geschichte und Abstammung der arabischen Stämme, die arabische Poesie, die Stammbäume arabischer Pferde, den Anbau von Dattelpalmen und vieles andere mehr, pflegte im irakischen al-Kufa regelmäßig einen literarischen Salon abzuhalten. Einer seiner Schüler, der dem Salon schon über zehn Jahre beiwohnte, bemerkte einmal, er habe Ibn Arabī in all den Jahren nicht ein einziges Mal mit einem Buch in der Hand gesehen, wohl aber ganze „Kamelladungen an Werken“ aus dem Gedächtnis diktieren hören.
Bei einem Treffen des Salons fielen Ibn Arabī zwei Fremde auf, die in eine Diskussion über seinen Vortrag vertieft waren, und er fragte sie, woher sie kämen: Wie sich herausstellte, war der eine aus Turkistan angereist, nahe der Grenze zum China der Tang-Dynastie, der andere aus al-Andalus im fernen europäischen Westen. Ibn Arabī hielt auch für diese Gelegenheit ein passendes Zitat bereit:
Zwei Freunde, weit getrennt, hat uns das Schicksal geeint.
So treffen weithin Getrennte zusammen und werden sich freund.33
Diese Verse bezogen sich auf zwei Männer aus entgegengesetzten Ecken Arabiens, während die beiden Bewunderer der arabischen Kultur in Ibn Arabīs Salon aus den gegenüberliegenden Enden Eurasiens kamen, zwischen denen beinahe 7000 Kilometer lagen. Noch erstaunlicher als diese beeindruckenden geografischen Entfernungen ist aber vielleicht die Herkunft des Beduinensohnes selbst. Er stammte weder von einem Nomaden noch von einem ethnischen Araber ab, sondern war Sohn eines Sklaven aus Sindh – eine Region im heutigen Pakistan. Sein Name verdankte sich also nicht seinem Vater, sondern seinen außergewöhnlichen Kenntnissen des Arabischen.
Die größte Kulturleistung von Arabern ist nicht die kurzlebige Einigung ihrer Stimme, sondern vielmehr deren Zerstreuung. Seit über 1000 Jahren ist die Diaspora über den ganzen Globus verteilt. Der symbolische Rednerstab bildet somit auch den Grundstock einer im antiken Arabien verwurzelten Kultur, die sich horizontal durch den Raum und vertikal durch die Zeit ausgebreitet hat. Sie wächst in ihrer Gestalt wie eine Pflanze, wie eine dreidimensionale Ataurique oder Arabeske, die unablässig neue Triebe entwickelt, aber deren Wurzeln tief hinein in andere Kulturen wachsen und so auf dem Weg nach Andalusien, Turkistan, Sindh und weit darüber hinaus immer neue Kreuzungen hervorbringt.
Als Sprache einer weltweiten Kultur ist das Arabische genauso wichtig gewesen wie Latein und Englisch. Das arabische Alphabet wird, was seine geografische Verbreitung anbelangt, nur noch vom lateinischen übertroffen. Womöglich war es immer schon dazu bestimmt, es weit zu bringen. Die Hauptbedeutung des arabischen Wortes für Schrift, chatt, ist: Linie, Reiseroute, Pfad. Das geschriebene arabische Wort ist also ebenso dazu angetan, neue Wege einzuschlagen wie Texte zu weben. Für seine arabischen Urheber, deren Identität wie die Vermählung von Odysseus und Penelope das Wandernde mit dem Webenden, das Umherstreifende mit dem Sesshaften verbindet, ist das geradezu bezeichnend. Und wie das arabische Wort durch Schriftgelehrte und Reisende Verbreitung fand, so breitete sich im gleichen Zuge die zugrundeliegende sozioreligiöse Ordnung aus. Auch hierbei kam es zu hybriden Kreuzungen, bis schließlich fernab der nach Arabien reichenden Wurzeln die Frucht des arabischen Geistes, von der als erstes Mohammed inspiriert worden war, zum Tragen kam: Harmonie, eine Frucht, die vielen Arabern versagt geblieben ist. Die Ironie der Geschichte will es, dass Araber, mit Ausnahme von zwei kurzen Jahrhunderten der Solidarität und Herrschaft, von Mohammeds Botschaft selbst scheinbar am wenigsten profitierten. Die Einheit, die Abū Sufyān in Medina so beeindruckt hatte, erwies sich als kurzlebige Schimäre.
Die anhaltende Jagd nach dieser Schimäre hat Araber zuweilen an wilde und einsame Orte geführt, fernab der reichen Kultur, für die sie die Saat gelegt haben. Das gängige arabische Wort für „Einheit“ lautet wahda; etymologisch verwandt mit wāhid, „eins“. Die älteste belegte Bedeutung ist jedoch „Isolation, Exklusion, Abgeschiedenheit“: wahda ist Eins-sein, aber eben auch Einsamsein. Damit ist nicht die Isolation eines heroischen Einzelgängers gemeint, sondern die einer heroisch abgeschiedenen Gesellschaft. Auf einem übervölkerten Planeten wie dem unseren gibt es nicht mehr viele Orte, an denen eine ganze Gesellschaft in kultureller Autarkie leben könnte. Utopia ist längst zugebaut. Nichtsdestotrotz geben einige die Suche danach nicht auf. Das Königreich Saudi-Arabien (zugegebenermaßen ein Extrembeispiel) lehnt viele der im Rest der Welt gültigen Normen ab, nicht zuletzt demokratische Prinzipien und Meinungsfreiheit. Als im Jahr 2018 zum ersten Mal Kinos öffneten und Frauen die Erlaubnis erhielten, Auto zu fahren und Fußballspiele zu besuchen, wurde das geradezu als Riesenfortschritt gepriesen. In gewisser Weise ist es das auch für eine Gesellschaft, die so selbstbewusst darauf besteht, anders zu sein. Zahllose andere Verbote bestehen jedoch fort.
Vielleicht hat das alles damit zu tun, dass Araber ursprünglich ein Inselvolk sind, was ja auch ihrem kulturellen Selbstbild entspricht. Doch die Wirklichkeit ist weniger schlicht und viel interessanter: Denn die Ursprünge sind mannigfach, das Volk ist kein Volk, und die Insel nicht einmal eine Insel.