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1.1 Der lange Niedergang der Osmanen

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Im September 1683 musste der osmanische Feldherr Kara Mustafa Pascha die Belagerung Wiens abbrechen. Noch einmal hatte sich Konstantinopel angeschickt, seine Machtposition auf dem Balkan zu konsolidieren und auszuweiten. Am 13. Juli begann die Belagerung von Wien. In der Schlacht am Kahlenberg am 11. September versetzte eine Allianz europäischer Armeen den osmanischen Belagerern eine vernichtende Niederlage. Das war der Beginn einer Kette von Rückschlägen; und gegen Ende des 18. Jahrhunderts war unübersehbar, dass die osmanischen Heere ihre Überlegenheit und das Osmanische Reich seinen Schrecken verloren hatten.

Die gescheiterte Belagerung brachte einige grundlegende Tatbestände auf den Punkt, die die Stärke des Reichs strukturell unterminiert hatten. Mit dem Tod Sultan Süleymans »des Prächtigen« (1520–1566) hatte es den Zenit seiner politischen Machtentfaltung, wirtschaftlichen Stärke und kulturellen Schöpferkraft erreicht. Ein innerer Niedergang setzte ein, auch wenn dieser freilich im 17. Jahrhundert wiederholt von politischer Erholung unterbrochen war. Mit den Entdeckungen der Seewege zu den östlichen Teilen der Erde durch europäische Seefahrer seit dem Ende des 15. Jahrhunderts hatten sich die Handelsströme zu verändern begonnen. Die klassischen Handelsrouten zwischen Europa und dem Mittelmeer im Westen und Asien im Osten verloren an Bedeutung. Die Schwächung der ökonomischen Grundlage hatte die Schwächung der Zentralgewalt und mithin die Stärkung zentrifugaler Kräfte im Reich zur Folge. Die Verstrickung der Prinzen und Sultane in die Intrigen des Hofes und des Harems bedeutete einen Verlust an Führungsstärke, der nur epochenweise durch kraftvolle Persönlichkeiten unter den Großwesiren aufgewogen werden konnte. Zunehmend gerieten die Sultane auch unter den Einfluss der Janitscharen, einer Truppe, die zeitweise zur Soldateska degenerierte, die kaum noch von der politischen oder militärischen Führung kontrolliert werden konnte.

Der Niedergang des Osmanischen Reichs im Verlauf des 18. Jahrhunderts war ebenso wenig ein linearer Prozess wie die Gestaltung seiner Beziehungen zu Europa. Gelegentliche militärische Siege und innere Reformen schienen den Bestand des Reichs zeitweilig zu konsolidieren. Auch werden die Beziehungen zu den europäischen Mächten keineswegs durch politische und militärische Konflikte hinreichend beschrieben. Denn in Europa eröffnete das Schwinden der »türkischen« Bedrohung neue Perspektiven auf die osmanische und islamische Kultur. Wenige Jahre nach der gescheiterten Belagerung von Wien eroberten die Erzählungen von 1001 Nacht Europa im Sturm; 1704 erschien in Frankreich die erste Übersetzung in eine europäische Sprache. Denker und Dichter des 18. Jahrhunderts brachten ihre Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in Europa im Gegenbild »orientalischer« Zustände zum Ausdruck. In der berühmten Ringparabel in Lessings Drama »Nathan der Weise« schließlich werden Judentum, Christentum und Islam als gleichwertig beschrieben. Und in seinem »West-Östlichen Diwan« flüchtet sich der Dichter Goethe in den »reinen Osten, Patriarchenluft zu kosten«.

Auf der osmanischen Seite öffneten sich Hofkultur und Architektur europäischen Einflüssen. Die »Tulpenzeit« (lale devri) unter Ahmed III. (1703–1730) war gekennzeichnet durch einen kultiviert-verschwenderischen Lebensstil. Man vertrieb sich die Tage mit Schach und Muschelspiel, ergötzte sich an Poesie und Musik. Zu den Glanzleistungen höfischer Selbstdarstellung zählte die Gartenbaukunst. Neue farbenprächtige Tulpenarten wurden gezüchtet. Wie auch im zeitgenössischen Europa wurden für Tulpenzwiebeln teilweise kleine Vermögen ausgegeben. Auch in die Architektur drangen europäische Stilelemente ein. Nach dem Muster von Versailles wurden märchenhafte Paläste und Gärten angelegt. Moscheen wurden durch europäisch-barocke Stilelemente geschmückt. 1727 wurde durch den ungarischen Renegaten Ibrahim Müteferrika offiziell der Buchdruck eingeführt. Die zahlreichen in der Folgezeit gedruckten Werke trugen nicht unwesentlich zu einem neuerlichen kulturellen Aufblühen des politisch niedergehenden Reichs bei. Aber diese lichten Momente im Prozess des Niedergangs konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kreativität und Originalität der osmanisch-islamischen Kultur der Vergangenheit angehörten.

Die Absetzung Ahmeds III. markiert das Ende sowohl der nach außen scheinbar so idyllischen Atmosphäre im Reich als auch der entspannten wechselseitigen Begegnung mit den europäischen Mächten. In den von zahlreichen Kriegen – vor allem gegen Russland und Österreich – gekennzeichneten Jahrzehnten danach hatte das Osmanische Reich trotz einiger Verluste seinen Bestand im Großen und Ganzen noch halten können. Erst mit dem Frieden von Küςük Kaynarca, der einen 1768 mit Russland ausgebrochenen Krieg beendete, musste es territoriale Einbußen und Demütigungen hinnehmen, die seinem Status als eine den europäischen Mächten ebenbürtige Großmacht ein unwiderrufliches Ende bereiteten. Die Hohe Pforte – so benannt nach dem Tor zum Sitz des Großwesirs in Konstantinopel – musste sich bereit erklären, das Khanat der islamischen Krimtataren in die »Unabhängigkeit« zu entlassen (womit es unter den Einfluss des Zarenreichs geriet). Unmittelbar nach diesem Ereignis fielen der Landstrich zwischen Bug und Dnjepr sowie mehrere Festungen (unter ihnen Asow) und ein großes Gebiet im nördlichen Kaukasus (die sog. Kabardei) unter russische Kontrolle. Dem Gesandten des Zaren in Konstantinopel wurde das Recht zugesprochen, bei der Pforte die Belange der Donaufürstentümer Moldau und Walachei zu vertreten. Ferner musste die osmanische Staatsführung Russland ein Schutzrecht für die orthodoxen Christen auf osmanischem Territorium einräumen. Ähnlich war bereits früher – in der »Kapitulation«4 von 1740 – Frankreich die Schutzherrschaft über die Katholiken und die mit Rom unierten lokalen christlichen Religionen des Reichs zugestanden worden. Zu diesem Zweck erhielt Russland das Recht, überall im Osmanischen Reich Konsulate einzurichten. Russland durfte auf dem Schwarzen Meer eine Handelsflotte unterhalten, die die Meerengen Bosporus und Dardanellen ungehindert passieren konnte.

Angesichts der mit dem Friedenvertrag sichtbar werdenden Schwäche des Reichs schien dessen anhaltender Zerfall programmiert. Wenn sich dieser noch fast anderthalb Jahrhunderte hinzog, war das nicht zuletzt den Rivalitäten geschuldet, die zwischen den vier europäischen Großmächten: England, Frankreich, Österreich-Habsburg und Russland hinsichtlich der Verteilung des Fells des Bären bestanden. Die »orientalische Frage« war gestellt; um ihre Antwort sollte bis zum Ende des Reichs gerungen werden. Auf der anderen Seite aber hat die osmanische Staatsführung immer neue Anläufe unternommen, das Reich auf allen Gebieten zu modernisieren, die ihr mit Blick auf dessen Überleben gegenüber dem Andringen der


Abb. 1: Die »Hohe Pforte« (Bab-ı ali), der Eingang zum Amtssitz des Großwesirs in Konstantinopel, zur Zeit Mahmuds II.

europäischen Mächte geboten erschienen. Insofern ist die Geschichte des Osmanischen Reichs zwischen 1774 und 1918 mehr als nur ein Abgesang. Sie lässt vielmehr erkennen, ein wie hohes Maß an Selbstbehauptungswillen sowie an Kraft zu Erneuerung und Veränderung in Staat und Gesellschaft noch steckten.

Mit dem Verlust der Herrschaft über die muslimischen Krimtataren begann die Staatsführung, die islamische Dimension in der Stellung des Großherrn aus der Familie Osman zu entdecken. Sie besann sich auf den Tatbestand, dass Selim I. (1512–1520) bei seiner Eroberung von Kairo (1517) die Würde des Kalifen, d. h. des geistig-religiösen Oberhaupts der Muslime, angenommen hatte. Nach der Eroberung Bagdads, der Hauptstadt des abbasidischen Kalifats, durch die Mongolen (1258) hatte ein Schattenkalifat in Kairo überlebt, das nun auf den neuen Herrscher überging. Zunächst sollte der Kalifenwürde in der Politik der Osmanen keine signifikante Bedeutung beigemessen werden. Mit dem Verlust immer weiterer muslimischer Teile des Reichs konnte über diese jedoch immerhin eine spirituelle Verbindung zu den ehemaligen Untertanen des Sultans aufrechterhalten werden. Wie noch darzustellen sein wird, ließ sich die Beschwörung des Kalifats instrumentalisieren, um politische Machtansprüche zu legitimieren. Die Entscheidung des Parlaments der Türkischen Republik im März 1924, das Kalifat abzuschaffen, unterstrich schließlich noch einmal den besonderen Stellenwert dieser Institution – auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt kaum mehr war als eine leere Hülle in Gestalt einer historischen Reminiszenz – in der Geschichte des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert. Damit war definitiv die islamische Staatsidee durch europäisch-nationalstaatliche politische Ordnungsvorstellungen abgelöst.

Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft

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