Читать книгу Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft - Udo Steinbach - Страница 22
3 Das Jahrhundert der Reformen
ОглавлениеDer imperialistische Zugriff der europäischen Mächte auf den Nahen Osten seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat einen langen Prozess tiefstgreifender politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und geistig-kultureller Natur angestoßen. Man bezeichnet ihn verkürzend als Modernisierung. Die unübersehbare Tatsache, ja die für breite Teile der Gesellschaften schockierende Wirklichkeit europäischer Dominanz ließen zwangsläufig die Frage nach deren Ursache aufkommen. Was war falsch gelaufen? Die Antwort war komplex und facettenreich: Sie richtete sich auf die Institutionen des Staates; unabweisbar waren davon auch die überkommenen gesellschaftlichen Strukturen berührt. Und in allertiefster Dimension richtete sich auch auf die Tragfähigkeit der kulturellen und religiösen Grundlagen, auf denen die traditionellen Ordnungen beruht hatten. Nach Lage der Dinge war »Europa« die Messlatte und die zu erreichende Augenhöhe. Was wäre zu tun, um auf diese Augenhöhe zu kommen und dem europäischen Herrschaftsanspruch die Stirn bieten zu können? Damit war die Modernisierung zunächst gleichbedeutend mit Europäisierung. Am Beispiel Ägyptens unter Mehmet Ali war dieses Motiv vorstehend ja bereits angeklungen. Zugleich aber hatte das Beispiel Ägyptens deutlich werden lassen, dass die europäischen Mächte die Erneuerung nicht nur nicht förderten, sondern als Einfallstor für die Realisierung von Machtansprüchen und wirtschaftlichen Interessen instrumentalisierten.
Nicht zuletzt deshalb musste die Formel »Modernisierung gleich Europäisierung« von Anfang an umstritten sein; musste »Modernisierung« bis in die Gegenwart ein offenes Projekt bleiben. Dies gilt nicht nur für die Institutionen von Staat und Gesellschaft, sondern in besonderer Weise für die geistig-kulturellen Grundlagen derselben. Durch das 19. Jahrhundert hindurch verlief dieser Prozess zögerlich und widersprüchlich; die Eliten experimentierten mit zahlreichen Kompromissen. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts suchten sie radikalere Lösungen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist unübersehbar, dass auf die Herausforderung der »Modernisierung« weithin noch immer keine Antwort gefunden worden ist. Die Herausforderung liegt darin, die Synthese zu finden, welche die Tradition mit den Gegebenheiten der Gegenwart verbindet, die von der Mehrheit der Bürger als legitim akzeptiert wird und eine Existenz auf Augenhöhe im Rahmen der internationalen Gemeinschaft gewährleistet.