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4.1 Selbstvergewisserung im Islam

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Tatsächlich ist diese eine erste eigenwüchsige Antwort auf die europäische Herausforderung. Ihr Kern liegt in der radikalen Zurückweisung »westlicher« Neuerungen und der Rückkehr zu einem »richtig« verstandenen Islam. In diesem Sinne stellte der Gründer der Bewegung, Muhammad ibn Abd al-Wahhab (ca. 1704–1792), die strikte Anwendung der Schari’a und das Bekenntnis zur absoluten Einheit Gottes (tauhid) in den Mittelpunkt von Lehre und Praxis des Islams. Er forderte ein wortgetreues Verständnis des Korans und der frühen Überlieferung des Propheten Muhammad (sunna). Radikal zurückgewiesen wurden alle »Neuerungen« (bida’) wie die Mystik, der Totenkult und die Heiligenverehrung. Damit schuf Abd al-Wahhab eine doppelte Frontstellung: Zum einen gegen diese selbst unter den sunnitischen Muslimen weit verbreitete Praxis der Glaubensausübung. (Die schiitische Variante des Islams, die mit der Verehrung der Imame, d. h. der unmittelbaren Abkommen des Propheten Muhammad, den Heiligen- und Gräberkult in den Mittelpunkt der religiösen Praxis stellt, galt Abd al-Wahhab und seiner Gefolgschaft dagegen schon prinzipiell als Abfall vom Glauben und als Vielgötterei [schirk], die es zu bekämpfen galt.) Die andere Front bestand in der Abwehr der europäischen politischen und kulturellen Einflüsse, die im Laufe des 18. Jahrhunderts im Osmanischen Reich fühlbar und sichtbar wurden. Die Arabische Halbinsel, der Ort des Wirkens Abd al-Wahhabs, war zu dieser Zeit Teil eben dieses Reichs. Grundlage der theologischen Erneuerung des Islams, die Ibn Abd al-Wahhab für sich beanspruchte, war die Ablehnung der kritiklosen Übernahme überkommener theologischer Überlieferungen (taqlid) und die Rückkehr zur eigenständigen Interpretation der Grundlagen des Islams durch die qualifizierten Theologen (idschtihad).

Die Lehre wäre wohl ein lokales Ereignis geblieben und hätte die Wüsten des Nadschd, seiner zentralarabischen Wirkungsstätte, nicht überschritten, hätte sie nicht eine signifikante politische Unterstützung erfahren. Muhammad ibn Sa’ud (gest. 1766), ein lokaler Stammesführer ebendort, machte sich nicht nur die Lehre zu eigen, sondern sah es zugleich als seine Aufgabe, sie zu verbreiten. Damit war ein wechselseitiges Interesse begründet: Der Reformer sah die Durchsetzung seiner Lehre durch ein weltliches Schwert und der Emir erhielt eine aus der Religion abgeleitete Legitimation seiner Führung. Auf dieser Grundlage, die als Bündnis zwischen der Al (»Familie«) Sa’ud und der Al asch-Scheich (des Begründers der Wahhabiyya) bis in die Gegenwart Bestand hat, verbreitete sich der erste saudische Staat über große Teile der Arabischen Halbinsel.

Auf die Geschichte des saudischen Staates kann hier nicht eingegangen werden. Die Bewegung der Wahhabiyya sollte einen starken Einfluss auch weit jenseits der Arabischen Halbinsel entfalten. Als Reaktion auf die Ausbreitung der europäischen politischen Dominanz und des kulturellen Einflusses fand sie Anhänger, wo immer Muslime dagegen Widerstand leisteten. Kernpunkt dieser Theologie des Widerstands war stets die Botschaft eines reinen, »unverfälschten« Islams, wie sie im Koran festgehalten und vom Propheten Muhammad und seiner frühen Gemeinde gelebt worden war. Beginnend etwa 1775 traten an sehr unterschiedlichen Teilen der islamischen Welt Bewegungen auf, die in diesem Sinne – nicht selten auch mit sufischem, d. h. islamisch-mystischem Hintergrund – sowohl zu einer Erneuerung der islamischen Religion als auch zum Widerstand gegen die voranschreitende europäische Dominanz aufriefen – so etwa in Westafrika, im Kaukasus, in Zentralasien und Südostasien.

In Indien hatte sich die britische Herrschaft in Gestalt der East India Company in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kontinuierlich ausgedehnt. Inspiriert durch Schah Wali Allah ad-Dihlawi (1703–1762), einen Kommilitonen Muhammad ibn Abd al-Wahhabs aus gemeinsamen Studientagen in Medina, begann die Bewegung des »Weges Muhammads« (Tariqa-ye muhammadi) zu Beginn des 19. Jahrhunderts aktiven Widerstand gegen die Briten zu leisten. Ihr Begründer, Seyyid Ahmad Barelwi (1786–1831), zog durch Nordindien, um für seine Ideen zu werben und seine Anhänger zu organisieren. Etwa ab 1824 gingen diese daran, die Lehre in die Gestalt eines Staatswesens umzusetzen. Als Ort des Geschehens hatte man das Gebiet der Sikhs im Nordwesten Indiens gewählt. Angeblich unterdrückten die Sikhs die dort lebenden Muslime, und so sollten diese befreit werden. Anschließend würde ein wirklich islamisches Staatswesen geschaffen werden, um von jenem Kern aus die Macht über ganz Indien auszudehnen. Unter den gegebenen Bedingungen sei der dschihad zur Pflicht geworden. Nicht zuletzt, weil die örtlichen muslimischen Stämme sich der Bewegung verweigerten, hatten die Sikhs leichtes Spiel, die Bewegung 1831 zu besiegen.

Mit der Unterdrückung des großen Aufstands gegen die britische Kolonialherrschaft 1848 (mutiny oder Sepoy-Aufstand) kam die jahrhundertealte islamische Herrschaft der Mogul-Kaiser über Indien an ihr Ende. Die Gründung der theologischen Schule (Dar al-ulum) in Deoband, einer Kleinstadt im indischen Bundesstaat Uttar Pradesch, im Jahr 1866 ist in diesem Zusammenhang zu sehen: als Reaktion auf den britischen Kolonialismus und als Bastion gegen dessen – wie Teile der Geistlichkeit es sahen – zerstörerischen Einfluss auf den Islam. Ihr religiöser Puritanismus trägt wahhabitische Züge. In der indischen Unabhängigkeitsbewegung, der politischen Entwicklung Pakistans sowie im religiösen Rigorismus der Taliban hat die Schule von Deoband bis in die Gegenwart eine starke Ausstrahlung ausgeübt.

In Nordafrika findet sich wahhabitischer Einfluss in der Lehre und im Handeln von Muhammad ibn Ali as-Sanusi (1787–1859). Nahe dem algerischen Mostaganem geboren, legte er nach Jahren der Wanderung 1842 im nordlibyschen al-Baida den Grundstein zu einem Gemeinwesen, das sich rasch ausbreitete und – namentlich unter seinem Sohn und Nachfolger als Oberhaupt des Ordens, Muhammad al-Mahdi as-Sanusi (1859–1902) – Züge eines theokratischen Staates annehmen sollte. Anders freilich als der wahhabitische Staat auf der Arabischen Halbinsel bestand dieser nicht in einem mit Waffengewalt zusammengefügten Territorium. As-Sanusis Islam war nachhaltig durch die Mystik geprägt und das Glaubensleben konzentrierte sich auf klösterliche Konvente (zawiya), die er im Lauf der Jahre gründete. Organisatorisch in hohem Maße eigenständig, waren sie gleichwohl in ihrer Glaubenspraxis dem Ordensgründer auf das Engste verbunden. Schwerpunkt dieser klösterlichen Ansammlung der »Brüder« (ikhwan) wurde die Cyrenaika, der Nordosten Libyens. Die osmanische Verwaltung, die sich auf die Küstenregion konzentrierte, anerkannte sie zwar – unter der Souveränität des Sultans – in einem firman von 1856 als Gemeinschaft an. Die religiösen Differenzen aber hatten zugleich anhaltenden politischen Druck auf den Orden zur Folge. Deshalb verlegte as-Sanusi 1856 das Zentrum der Bruderschaft von al-Baida in die etwa 500 km südöstlich gelegene Oase al-Dschaghbub.

Dem Wahhabismus vergleichbar, ist auch der Puritanismus as-Sanusis, der eine strenge Auslegung der Grundlagen des Islams mit mystischen Praktiken verschmolz, als Reaktion auf die doppelte Veränderung seiner Zeit zu verstehen: das Eindringen europäischer Einflüsse in die islamischen Gesellschaften nicht zuletzt im Rahmen des Osmanischen Reichs und das imperialistische Vordringen europäischer Mächte, in diesem Falle Frankreichs. As-Sanusi suchte sich mit seiner Gefolgschaft beidem zu entziehen, indem er sich tief in die Wüste zurückzog. Zu seinen Lebzeiten umfasste der Ordensstaat etwa 80 Klöster. In ihnen widmeten sich die ikhwan dem Hauptanliegen seines Gründers, der Läuterung des Islams. Vor äußeren Einwirkungen geschützt, sollten sie ihren Unterhalt selbst verdienen und betrieben zu diesem Zweck Ackerbau, Handel und Handwerk. Auf dem Höhepunkt der Bewegung umfasste das islamische Gemeinwesen der Sanusi etwa 150 klösterliche Gemeinschaften. Angesichts des anhaltenden Drucks, der zunehmend von der französischen Expansion in der Sahara ausging, ordnete Mahmud al-Mahdi 1895 den weiteren Rückzug des Zentrums der Sanusi nach Süden, in die Oase al-Kufra an.

Die nach der saudisch-wahhabitischen spektakulärste Gründung eines theokratischen Staates erfolgte gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Sudan. Der Sanusi Mahmud trug zwar den Beinamen »al-Mahdi«, der auf den endzeitlichen Erlöser weist, aber er behauptete nie, dieser zu sein. Anders war es im Falle seines sudanesischen Zeitgenossen Muhammad Ahmad bin Abdallah (1844–1885); er gab sich in der Tat 1881 als der – von vielen Gläubigen erwartete – Mahdi aus. Auch in diesem Schritt kamen die Spannungen der Zeit zum Ausdruck, die bereits im Zusammenhang mit den anderen Erneuerungsbewegungen seit dem Auftreten Ibn Abd al-Wahhabs angedeutet wurden. Über Jahrhunderte war der Islam im Sudan in Gestalt eines breiten Stroms des Sufismus dahergekommen. Mit der ägyptischen Eroberung durch die Armee Mehmet Paschas nach 1821 und dem Aufbau einer türkisch-ägyptischen Verwaltung (die mit der britischen Besatzung Ägyptens 1882 noch stärker europäische Züge erhielt) wuchsen die Spannungen zwischen diesen auswärtigen Einflüssen und den überkommenen Traditionen der sudanesischen Völker. Zu den Umwälzungen in der sudanesischen Wirtschaft und der Infragestellung der traditionellen Stammes- und Hierarchiestrukturen trat eine Religionspolitik, die bemüht war, die Stellung des sunnitischen Islams im Sinne der al-Azhar Universität in Kairo gegenüber den Vertretern der sufischen Bruderschaften zu stärken. Die Erwartung mahdistischer Erlösung war seit langem ein Bestandteil sufischer Lehre im Sudan, in der auch Muhammad Ahmad aufgewachsen war. Von seinem Lehrer ermächtigt, einen eigenen sufischen Weg (tariqa) zu predigen, ließ er sich 1871 auf der Aba-Insel im Weißen Nil südlich von Khartum nieder und baute dort eine Moschee. Seine Predigten, in denen er einen reformierten Islam der Rückkehr zu den Werten des Korans forderte, fanden dort eine breite Anhängerschaft. Kernpunkte seines politisch-religiösen Programms waren ein Leben in Austerität, die Rückkehr zum Islam des Propheten Muhammad und der dschihad gegen die Ungläubigen (gemeint war in erster Linie die türkisch-ägyptische Verwaltung).

1881 erklärte sich Muhammad Ahmad selbst zum Mahdi; nach dem islamischen Kalender war es das Jahr 1300, mithin der Beginn eines neuen Säkulums. Bereits in der Vergangenheit waren Jahrhundertwenden chronologische Einschnitte gewesen, zu denen Verkünder eschatologischer Botschaften aufgetreten waren (so geschah es auch ein Jahrhundert später wieder in Saudi-Arabien, S. 336). In einer Botschaft an die ägyptische Regierung erläuterte er seine Mission: Nicht nur der Sudan und Ägypten, sondern das gesamte Osmanische Reich sollten in einen islamischen Staat nach dem Vorbild der muslimischen Gemeinschaft des 7. Jahrhunderts umgewandelt werden. Vom Standpunkt europäischen Militärwesens beurteilt, war seine Gefolgschaft (die sich nach dem Vorbild der frühen Anhänger des Propheten als ansar, »Unterstützer«, bezeichnete), ein zusammengewürfelter Haufen: Neben Stämmen, die das religiöse Anliegen des Mahdi teilten, handelte es sich um mit der turko-ägyptischen Verwaltung Unzufriedene, berufsmäßige Sklavenhändler, denen die Engländer das Handwerk gelegt hatten, aber auch Abenteurer und Beutelustige. Die Bewaffnung bestand zu Beginn des Aufstands zumeist aus Speeren und Knüppeln; erst mit den militärischen Erfolgen modernisierte sie sich mit Gewehren und Kanonen. Die ägyptische Verwaltung, aber auch die Briten, die seit den siebziger Jahren ihre politische und militärische Stellung im Sudan ausgebaut hatten, unterschätzten die Schlagkraft der Truppe; die Folge war eine Reihe von Niederlagen. Im März 1884 hatten die Aufständischen Khartum eingeschlossen und begannen mit der Belagerung. Am 26. Januar 1885, wenige Tage bevor die britische Entsatztruppe die Stadt erreichte, wurde sie von 50 000 Mahdisten gestürmt. Dabei fand der britische Generalgouverneur Charles George Gordon den Tod. Der Mahdi erklärte Omdurman zur Hauptstadt. Er sollte seinen Triumph nicht lange überleben: Er starb am 22. Juni 1885.

Der Staat des Mahdi aber bestand fort. Unter drei Prätendenten setzte sich bald Abdullahi bin Seyyid Muhammad (1846–1899) durch. Er war der engste Vertraute des Mahdi gewesen und hatte die Armee bei der Belagerung von Khartum kommandiert. Nunmehr war er der khalifa, der Stellvertreter des Mahdi, in dessen Namen er den Auftrag, den islamischen Staat auszudehnen, fortzuführen suchte. Die Widerstände, die der »Kalif« unerbittlich niederschlug, waren zu stark und vielfältig. Auch fehlte dem Gottesstaat eine tragfähige wirtschaftliche Grundlage. Der Todesstoß aber kam von außen. Die Legende vom »Heldentod« Gordons in Khartum hatte weitergelebt; sie bedeutete zugleich einen schmachvollen Fleck auf den »ehrenhaften« Zielen des kolonialistischen England, den es zu tilgen galt. Auch musste London fürchten, dass Frankreich, der kolonialistische Rivale im Nordosten Afrikas, sich mit dem Staat des Mahdi und Äthiopien gegen britische Interessen verbünden würde. 1896 wurde deshalb ein britisch-ägyptisches Expeditionskorps unter Lord Kitchener zur Rückeroberung in Marsch gesetzt. Diesem unterlag Abdullahi ibn Muhammad in der Schlacht von Omdurman am 2. September 1898. Er wich nach Süden aus. In der Schlacht von Umm Diwaykarat in der Provinz Kordofan unterlag er am 24. November 1899 und fand den Tod.

Die Sudan-Provinzen wurden künftig als gemeinsames anglo-ägyptisches Herrschafts- und Verwaltungsgebiet (Kondominium) regiert. Für viele Sudanesen aber wurde Abdullahi ibn Muhammad zu Abu l-istiqlal, dem »Vater der Unabhängigkeit«. Er hatte die Stämme des Sudan auf der Grundlage eines islamischen Gemeinschaftsgefühls geeint, fremde Herrscher vertrieben und die Grundlage für die Unabhängigkeit gelegt. Religiös erscheint er als mudschaddid: als »Erneuerer« der Religion nach dem Vorbild des Propheten Muhammad – und als endzeitlicher Mahdi (Erlöser) von einer korrupten und ungerechten Herrschaft.

Tatsächlich hat der Aufstand des Mahdi in den Geschichtsbüchern als erstes erfolgreiches Aufbegehren gegen den Kolonialismus in Afrika seinen Platz gefunden. Seine Durchschlagskraft hatte er aus einer Auslegung des Islams gewonnen, die im 20. Jahrhundert als »fundamentalistisch« bezeichnet worden ist. Seinen geistigen und politischen Ursprung sowie seine radikalste Ausformung hatte dieser »Fundamentalismus« in der wahhabitischen Bewegung auf der Arabischen Halbinsel seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Mit dem Ende des Mahdi-Staates (bei gleichzeitiger Auflösung des zweiten saudischen Staates) auf der Arabischen Halbinsel war eine Strömung in der Auseinandersetzung der Muslime mit Europa bis auf Weiteres an ihr Ende gekommen, die – bei allen religiösen und politischen Differenzierungen und Unterschieden – in der radikalen und puristischen Rückbesinnung auf den »reinen« Islam des Korans und die vorbildliche Lebensführung der muslimischen Gemeinde um den Propheten Muhammad den Ausgangspunkt des politischen Wiederaufstiegs der umma und der Beendigung der Vorherrschaft der europäischen Mächte sah. In den folgenden Jahrzehnten sollten andere Kräfte, Weltanschauungen und Ideologien das Erscheinungsbild der Staaten und Gesellschaften zwischen Marokko und Afghanistan prägen. Erst mit deren Schwächung, ja deren Scheitern traten wieder Persönlichkeiten und Bewegungen hervor, die ihre Strategie der »Renaissance« der islamischen Welt auf ein dem Wahhabismus angenähertes Islamverständnis gründeten. In diesem Zusammenhang sollte dieser eine enorme – destruktive – Wirkungsmacht entfalten.

Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft

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