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4 Die Erneuerung in Kultur und Lebenswelten
ОглавлениеDer militärische Zusammenstoß unter den Pyramiden 1798 und die zunächst nur kurze französische Besetzung Ägyptens markierten den Beginn einer umfassenden europäischen Dominanz im gesamten Raum Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens. Wie dies geschah und in welcher Weise die herrschenden Eliten vor dem Hintergrund ihrer jeweils unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Traditionen darauf reagierten, ist vorstehend beschrieben worden. Die Herausforderung aber war nicht nur politischer Natur. Die europäische Überlegenheit stellte auch die geistigen Wurzeln und Grundlagen infrage, auf denen die politischen und gesellschaftlichen Ordnungen im Raum zwischen Marokko und Afghanistan (und darüber hinaus; aber das ist nicht unser Thema) beruhten. Bereits al-Dschabartis Geschichtswerk ( S. 43) zeugt von der Spannung, die das Geschehen im Bewusstsein eines Vertreters der geistigen Elite Ägyptens (als Teil des Osmanischen Reichs) erzeugte. Die militärische und mithin politische, bald auch wirtschaftliche Überlegenheit der europäischen Mächte warf die Frage nach den Ursachen auf. Sie sollte die Muslime bis in die Gegenwart umtreiben.
Von Beginn an freilich sahen sie sich in ihrer Antwort in einem fundamentalen Dilemma. In Europa war die Emanzipation des politischen Raumes aus der Vereinnahmung durch die Religion einer der wichtigsten Schritte im Prozess der mit der Neuzeit einsetzenden rasanten Dynamik auf den Gebieten von Politik, Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft, Technik und auch Wirtschaft gewesen. Diesen Schritt nachzuvollziehen, war einem Muslim kaum möglich: Denn der Islam war der Referenzrahmen all seines persönlichen privaten und öffentlichen Handelns – unmöglich, ihn »außen vor« zu lassen. Die Religion beruhte auf dem ewigen Wort Gottes. Sie war seit ihrer Verkündigung durch den Propheten Muhammad die Grundlage, der grandeur des Erscheinungsbildes der umma in der Welt gewesen. Woher also der Niedergang, der sich jetzt so dramatisch offenbarte? Die Ursache würde bei den Gläubigen zu suchen sein; sie hatten den Pfad des rechten Glaubens verlassen. Nun würde dieser wieder zu suchen und neu zu beschreiten sein. Wie das zu geschehen hätte, war strittig: Unzählig sind die Stimmen der Muslime seither, die sich zu Wort gemeldet haben. Wie viel europäische Moderne würde zu übernehmen sein, um auf Augenhöhe mit Europa zu gelangen, ohne die Religion als Grundlage der persönlichen und öffentlichen Existenz über Bord zu werfen?
Der Untergang des Osmanischen Reichs mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und die direkte Machtausübung europäischer Mächte »radikalisierten« Teile der Eliten und ließen in ihnen die Überzeugung reifen, dass der Weg zur Augenhöhe eben doch nur über eine scharfe Trennung des politischen Raums von der Religion führen würde. Diese Überzeugung spricht sich in dem Motto aus, das vor dem Anıtkabir,dem Mausoleum Mustafa Kemal Atatürks, auf einem Stein zu lesen ist: »hakimiyet şartsız, kayıtsız milletindir« (»Die Souveränität liegt bedingungs- und vorbehaltlos bei der Nation«). Damit aber war nicht das Ende der Geschichte eingeläutet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kämpften radikale Gruppen unter den Muslimen für die Anerkennung der Souveränität (hakimiyya) Gottes. 2014 gründeten sie einen Staat, der eben darauf beruhte ( S. 480). Er sollte suggerieren, die Würde der Muslime wiederhergestellt und die Herausforderung durch den Westen erfolgreich bestanden zu haben. Ihren geistigen Nährboden fanden sie in der Bewegung der Wahhabiyya, einer islamischen Erneuerungsbewegung im 18. Jahrhundert.