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4.3 Auf der Suche nach einer Synthese

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Zwischen den Extremen der theologisch rückwärtsgewandten Bewegung des Muhammad Ibn Abd al-Wahhab einerseits und der vorbehaltlosen Europäisierung des ägyptischen Khediven Isma’il andererseits tat sich ein breiter Raum auf, innerhalb dessen sich unterschiedliche Varianten von Reaktionen auf die europäische Herausforderung artikuliert haben. Sie waren von dem Bemühen gekennzeichnet, die Europa entlehnten Elemente des Fortschritts mit den eigenen Traditionen zu verschmelzen. Rifa’a Rafi at-Tahtawi verkörpert wie kein anderer diesen Typ des Modernisierers; und sein Werk ist signifikant für die – säkularen – Ansätze der Modernisierung im Raum zwischen Nordafrika (namentlich Tunesien und Ägypten) und Persien. 1801 im oberägyptischen Tahta in eine angesehene Familie geboren, hatte er eine klassische islamische Ausbildung erhalten. Nach ihrem Abschluss an der al-Azhar Universität hatte er dort eine Lehrtätigkeit aufgenommen; 1824 trat er als Geistlicher in einer der nach europäischem Vorbild ausgerichteten Nizam-Infanteriedivisionen in den Staatsdienst ein. Aufgrund seines Amtes und unterstützt durch seine Vorgesetzten wurde er für die prestigeträchtige Mission nach Paris ausgewählt, die dort die europäischen Wissenschaften studieren und nach ihrer Heimkehr die Erkenntnisse, die sie in Frankreich gewonnen hatte, bei der Reformierung ihres Heimatlandes einbringen sollte. Die Zusammensetzung dieser bunt zusammengewürfelten Gruppe von 44 Männern spiegelte die osmanische Vielfalt – noch immer war Ägypten staatsrechtlich Teil des Osmanischen Reichs – wider: Nur 18 ihrer Mitglieder waren arabischsprechende Einheimische. Der Rest sprach jenseits ihrer jeweiligen heimatlichen Idiome Türkisch; sie waren Türken, Griechen, Tscherkessen, Georgier und Armenier.


Abb. 4: Rifa’a Rafi at-Tahtawi. Vorkämpfer der nahda (Renaissance) und der Vereinbarkeit von wissenschaftlichem Fortschritt und islamischer Religion.

Fünf Jahre lang hielt at-Tahtawi in seinem Notizbuch fest, was er bemerkenswert fand. Keine Einzelheit schien ihm zu unwichtig, um sich nicht dafür zu interessieren: die Art wie die Franzosen ihre Häuser bauten, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienten, wie sie ihre Religion praktizierten; ihre Transportmittel und die Funktionsweise ihres Finanzsystems; das Verhältnis zwischen Männern und Frauen; wie sie sich kleideten und wie sie tanzten.17 Dabei lassen seine Reflexionen zu Frankreich den tiefen Spalt zutage treten: Als Muslim und als ägyptischer Osmane war er überzeugt von der Überlegenheit seines Glaubens und seiner Kultur. Er betrachtete Frankreich als ein Land des Unglaubens, wo »sich bislang kein einziger Muslim niedergelassen hatte« und dessen Einwohner »nur dem Namen nach« Christen waren. Doch aufgrund seiner persönlichen Beobachtungen bezweifelte er nicht, dass Europa in wissenschaftlicher und technologischer Hinsicht überlegen war. Daraus leitete er die Aufforderung ab, alles zu tun, diesen Vorsprung wieder aufzuholen.

Dies freilich würde nicht ohne eine tiefgreifende Änderung der Ausübung politischer Macht und der sie begründenden Institutionen möglich. Neben dem freien und unbefangenen Blick auf das Funktionieren europäischer Gesellschaften liegt im Nachdenken über die Verfasstheit eines modernen Gemeinwesens die Größe des Werkes Tahtawis. Wenn der Herrscher der Motor des Wandels sein wolle, so müsse er sich auf allen Gebieten beraten lassen. In diesem Zusammenhang maß er der Verfassung größte Bedeutung bei. In ihr liege der Kern der französischen Errungenschaften. Als ersten Schritt übersetzte er alle 74 Artikel der französischen Verfassung von 1814 und kommentierte sie. Zu den Artikeln, die ihn am meisten beeindruckten, gehörten jene, die die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und die Wählbarkeit aller Bürger für jedes Amt, ohne Ansehen ihrer Stellung, gewährleisteten. Die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs würde die Menschen ermutigen, zu lernen und zu studieren. Auf diese Weise würde die gesellschaftliche Stagnation überwunden. In diesem Zusammenhang rühmte er das französische Recht auf Meinungs- und Redefreiheit. Indem er damit auf das Vorhandensein einer »Presse« hinwies, bereitete er einer neuen, bislang nichtexistierenden Form der Kommunikation innerhalb der Gesellschaft und der – auch kritischen – Interaktion zwischen dieser und den Machthabern den Weg.

Nach fünf Jahren intensiver und prägender Erfahrungen in Frankreich kehrte at-Tahtawi 1831 nach Kairo zurück; 1834 veröffentlichte er seine Aufzeichnungen. Unter der scheinbar nichtssagenden Erscheinungsform eines Reiseberichtes (und in eine ausführliche Lobrede auf den Herrscher Mehmet Ali verpackt) enthielt das Buch eine zwiefache Sprengkraft: Zum einen fanden sich für die gepriesenen politischen Neuerungen, namentlich die politischen Institutionen betreffend, keinerlei Referenzen im Koran oder der islamischen Überlieferung. Sie mussten also die konservativen Kreise unter den Theologen herausfordern. Zum anderen stellten sie geradezu einen Gegenentwurf zum autokratischen Regime unter Mehmet Ali – und seinen Nachfolgern – dar. Gleichwohl war die Veröffentlichung des Reiseberichts der Beginn einer Karriere, die at-Tahtawi zu einem wichtigen Erneuerer Ägyptens, namentlich in den Bereichen des kulturellen Lebens und des Bildungswesens, werden ließ. Seine große Stunde kam, als er im Januar 1837 zum Leiter der Madrasat al-alsun (»Schule der Sprachen«) ernannt wurde. Ihr Lehrplan umfasste – anders als der Name suggeriert – nicht nur Unterricht in Sprachen, sondern Geschichte, Geographie, Mathematik und islamisches und französisches Recht. Die Kombination von europäischem und einheimischem Wissen wurde künftig das Werk at-Tahtawis und machte die Schule zur einzigen Institution der damaligen Zeit, die nicht enges, auf Fachwissen ausgerichtetes Training, sondern wirkliche Bildung zu vermitteln vermochte. Sie brachte denn auch im Verlaufe ihres vierzehnjährigen Bestehens eine große Zahl von jungen Männern hervor, die als Lehrer und Übersetzer ihren Beitrag zur geistigen Erweckung des Landes leisteten und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zur intellektuellen Elite des neuen Ägypten zählten. 1841 übernahm at-Tahtawi die Chefredaktion der Waqa’i al-misriyya, der ersten, 1928 gegründeten arabischen Gazette. Im selben Jahr wurde er zum Direktor der Kutubkhanat Qasr al-Aini, der europäischen Bibliothek in Kairo, ernannt. Nach der Unterbrechung seiner Laufbahn unter Abbas Pascha (reg. 1849–1854) – er wurde 1850 für vier Jahre als Leiter der neu gegründeten ägyptischen Schule nach Khartum geschickt – stieg sein Stern unter Sa’id Pascha (reg. 1854–1863) und dessen Nachfolger Ibrahim Pascha noch einmal auf. In unterschiedlichen Funktionen widmete er sich insbesondere der Fortsetzung seiner Übersetzungstätigkeiten. 1863 übertrug ihm der Khedive die Leitung einer neu eingerichteten Übersetzungsstelle für europäische Gesetzestexte, wo er u. a. den Code Napoléon ins Arabische übertrug. Die Übersetzung erschien 1876; ihr war 1868 seine Übersetzung des französischen Code de Commerce (Qanun at-tidschara) vorausgegangen. Nur wenige Monate vor seinem Tod erlebte er noch die Verwirklichung eines Gedankens, den er in seinem Buch: Al-murschid al-amin fi tarbiyat al-banat wa-l-banin (»Der treue Führer in der Erziehung von Mädchen und Jungen«), das 1873 in Kairo erschien, niedergelegt hatte: Im Januar 1873 wurde in Kairo die erste Schule für muslimische Mädchen eröffnet; die Lehrfächer waren Koran, Türkisch, Zeichnen, Handarbeit, Klavier und Wäschepflege.

Rifa’a Rafi at-Tahtawi starb am 29. Mai 1873. Dass der Rektor der theologischen Azhar-Universität sowie die geistliche und intellektuelle Prominenz der Hauptstadt an seinem Begräbnis teilnahmen, ist symptomatisch: Zwar war er (wie Gleichgesinnte) ein Apostel der Errungenschaften Europas gewesen, der durchaus dessen Überlegenheit anerkannt hatte. Doch er war kein Aktivist, der die religiösen Traditionen der ägyptischen Gesellschaft revolutionär infrage gestellt hätte. Aufklärung und Erneuerung würden als kontinuierlicher Prozess daherkommen; französische Verhältnisse auf die ägyptische Gesellschaft zu übertragen, lag außerhalb seiner Vorstellungswelt. Auch die politischen Machthaber sahen sich nicht bedrohlich herausgefordert. Zwar berief der Khedive Isma’il 1866 eine Versammlung von Notabeln ein; sie hatte aber nur beratende Funktion und keinen Einfluss auf seine Entscheidungen. Mit der britischen Besetzung Ägyptens 1882 und der Niederschlagung des Orabi-Aufstands ( S. 47) richtete sich die geistige und politische Elite im Schatten der britischen Verwaltung ein. Demgegenüber nahm der Prozess der Erneuerung im Osmanischen Reich und Persien mit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konflikthafte Züge an. Dort forderte die kritische Elite die Einhegung der Macht der herrschenden Dynastien und die Beteiligung der Untertanen an der Machtausübung. Zugleich war die Frage nach der Kompatibilität der aus Europa stammenden Ideen mit den überkommenen religiösen und kulturellen Traditionen gestellt.

Auch in anderen Teilen des Vorderen Orients begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bildungswesen aus dem Schatten der Religion herauszutreten. Viele Reformer hatten selbst Erfahrungen in Europa gesammelt. Wie im Falle at-Tahtawis orientierten sich auch die Reformer in Konstantinopel und in Teheran an europäischen Curricula. Studenten wurden zu Studienaufenthalten nach Europa geschickt und europäische Lehrer an die neuen Bildungseinrichtungen berufen. In Teheran hatte Mirza Taqi Khan (Amir Kabir) 1851 mit dem Dar al-Funun eine Bildungseinrichtung gegründet, die zur Kaderschmiede der Reformer in Persien werden sollte ( S. 66). Fast zeitgleich geschah Ähnliches in Konstantinopel mit der Öffnung der Schule für Zivilbeamte (Mülkiye, 1859) und dem Kaiserlich-Osmanischen Lyzeum in Galatasaray (1868). Bereits 1847 war ein Erziehungsministerium eingerichtet worden, das den systematischen Schulaufbau in nach europäischem Vorbild eingerichteten Erziehungsstufen vorantrieb. 1900 öffnete das Darülfunun seine Tore, aus dem später die Istanbuler Universität hervorgehen sollte.

Neben dem Erziehungs- wurde das Rechtswesen ein signifikantes Feld der Modernisierung. Auch auf ihm ging es wesentlich um die Herauslösung aus islamischen Traditionen bzw. um deren Verbindung mit europäischem Recht. Hunderttausende von Europäern lebten in den Grenzen des Osmanischen Reichs, Ägyptens und Persiens und auf den Gebieten von Handel, Wirtschaft und Finanzen verschmolzen die Beziehungen zunehmend. Da die Europäer als Nicht-Muslime die Zuständigkeit der Schari’a-Gerichtshöfe nicht anerkannten, mussten neue Lösungen gefunden werden. So entstanden in den Bereichen des Zivil-, Straf- und Handelsrechts säkulare gemischte Gerichte, die für Muslime und Nicht-Muslime zuständig waren. Starke Impulse für eine Systematisierung des Zivilrechts gingen von der erwähnten Übersetzung des Code Napoléon durch at-Tahtawi aus. Hart umstritten war dabei die Frage, inwieweit französisches Recht unverändert übernommen bzw. mit herkömmlichem Recht zu einer Synthese verschmolzen werden solle. Auch die Zuständigkeit für die Rechtsreform blieb umkämpft: das säkulare Justizministerium oder das Amt des Scheich al-islam (Şeyhülislam), das für die religiösen Dinge am Hof des Kalifen zuständig war? Schließlich begann eine »wissenschaftliche Gesellschaft« (Dscham’iyat-e ilmiyye) – von anhaltenden Widerständen und Kontroversen begleitet – mit der Arbeit. 1876 war das Werk als Mecelle-ye ahkam-e adliyye (»Buch der gesetzlichen Bestimmungen«, Abk.: Mecelle) abgeschlossen. Tatsächlich präsentierte es sich als Synthese: Auf der einen Seite gründete es auf der Schari’a. Wie nachhaltig immer europäisches Recht die Gesetzgebung etwa im Bereich von Handel und Seefahrt bestimmen würde, im Bereich des Zivilrechts würde für die Bürger des Reichs das islamische Recht Geltung haben. Auf der anderen Seite waren Anordnung und Systematik des Stoffes der Mecelle von europäischem Rechtsdenken geprägt; ihre Durchsetzung wurde in die Hände des weltlichen Justizministeriums gelegt.

Im Prozess politischer, gesellschaftlicher und kultureller Reformen stand unabweisbar – ausgesprochen oder nicht – der Islam gleichsam als Referenzpunkt aller Erneuerung im Raum. Inwieweit waren die Maßnahmen mit diesem vereinbar? Wie war der Islam zu verstehen und zu leben? Was war zu tun, um ihn wieder zu einer Kraft zu machen, die Probleme der Gegenwart zu lösen und –vor allem – auf Augenhöhe mit den Nicht-Muslimen zu gelangen, die sich in Gestalt der europäischen Mächte immer intensiver und direkter in die Geschicke der Muslime einmischten? Die Antworten, die an den Rändern der islamischen Welt bzw. in den wüstenhaften Rückzugsgebieten auf der Arabischen Halbinsel von den Wahhabiten, in der nordöstlichen Sahara von den Sanusi und im Sudan von den Anhängern des Mahdi gegeben wurden, ließen sich nicht auf die Gesellschaften Nordafrikas, des Vorderen Orients oder Persiens übertragen. Ein Ausstieg aus der weltpolitischen Großwetterlage konnte keine Lösung für Gesellschaften sein, deren Kommunikation und Verflechtung mit Europa auf allen Gebieten von Jahr zu Jahr intensiver wurde. Die »Neuerungen« (bida, Sg. bid’a) zurückzuweisen, war keine zukunftweisende und erfolgversprechende Strategie. Vielmehr würde es darum gehen, diese als Ferment des dynamischen Wandels in einem islamischen Kontext fruchtbar zu machen.

Das Geschehen einer religiösen bzw. religiös-politischen Erneuerung musste sich mithin an den Zentren theologischer Forschung und Lehre und zugleich politischer Macht vollziehen. Im Vorderen Orient gelten gemeinhin zwei Persönlichkeiten als Schlüsselfiguren für die Auseinandersetzung mit dem Westen in religiöser bzw. religiös-politischer Dimension: Muhammad Abduh und Dschamal ad-Din al-Afghani. Beide waren von unterschiedlichem Temperament; in ihrer Strategie, die islamische Welt politisch und geistig zu erneuern und auf die Höhe Europas zu führen, setzten sie unterschiedliche Schwerpunkte. Beide aber verband die starke Überzeugung, dass der Islam als Religion dieser Erneuerung nicht im Wege stehe. Der im Kern im Koran aufgezeigte rationale Weg, sich Gott und der Welt zu nähern, befähige die Muslime im Prinzip, sich der Elemente europäischer Moderne zu versichern, ohne ihre religiöse Identität aufzugeben. Abduh hat die theologische Erneuerung systematischer vollzogen als al-Afghani, der als politischer Agitator immer wieder Konzessionen machen, ja sich in Widersprüche verwickeln musste. Obwohl etwa ein Jahrzehnt jünger, und gerade als junger Mann von al-Afghani inspiriert sei Abduh seinem Mentor hier vorangestellt.

Muhammad Abduh wurde 1849 im Nildelta geboren. Sein Vater war Bauer von mittlerem Besitzstand, doch bestand in seiner Familie eine Tradition der religiösen Bildung. Nur zögerlich betrat er die Laufbahn des Theologen. Erst mit seinem Eintritt in die Azhar-Universität waren die Weichen gestellt. Die Begegnung mit al-Afghani 1871 war ein prägendes Erlebnis und der Beginn einer engen Verbindung. Als er 1877 seine Studien abschloss, war er über seinen Lehrer mit islamischer Philosophie, die im Lehrbetrieb der Azhar keinen Platz hatte, ebenso vertraut wie mit europäischer philosophischer und wissenschaftlicher Literatur. Es waren bewegte Zeiten und Abduh, der zum Mitherausgeber des Staatsanzeigers Al-waqa’i al-misriyya berufen worden war, konnte sich ihnen nicht entziehen. Ägypten war unter europäische Schuldenverwaltung gestellt worden und der auf Druck Londons eingesetzte Khedive Tawfiq Pascha (reg. 1879–1892) hatte al-Afghani des Landes verwiesen. Die Protestbewegung um Oberst Orabi und die britische Besetzung des Landes (1882) zogen auch Abduh in ihren Bann. Drei Jahre nach seinem Mentor wurde er 1892 ausgewiesen; nach einem Aufenthalt in Beirut schloss er sich 1894 al-Afghani in Paris an.

Die im gleichen Jahr gemeinsam herausgegebene Zeitschrift Al-urwa al-wuthqa (»Der stärkste Halt«; Koran 2.256 und 31.22) reflektiert die doppelte Botschaft: eine reformorientierte Neuinterpretation des Islams und den Aufruf zum Widerstand gegen die britische Kolonialmacht in Ägypten. Die Muslime sollten sich unter ihrer Religion gegen die Fremdherrschaft vereinen und zum ursprünglichen Islam der frommen Vorväter (As-salaf as-salih) finden. Die Zeitschrift erschien über sieben Monate in insgesamt achtzehn Ausgaben. In Ägypten und Indien wurde sie sofort verboten. Ende des Jahres 1884 ließ sich Abduh wieder in Beirut nieder; 1888 wurde seine Verbannung aufgehoben und er kehrte nach Ägypten zurück.

Damit nahm Abduh nicht nur von der Politik Abschied; mit Lord Cromer, dem britischen Generalkonsul, verband ihn sogar eine Freundschaft. Nach Jahren der Tätigkeit im Justizwesen wurde ihm 1899 mit der Bestallung zum mufti das höchste religiöse Amt in Ägypten übertragen. Im gleichen Jahr wurde er in den Gesetzgebenden Rat berufen, eine beratende Körperschaft, deren Mitglieder in der Mehrzahl von der Regierung ernannt wurden. Neben den Bemühungen, das System der religiösen Bildung und des Justizwesens zu erneuern, stand die Erneuerung des Islams


Abb. 5: Al-Azhar in Kairo, die älteste Universität der islamischen Welt (gegr. 970/71); Wissenschaft und Lehre nach traditionellen Inhalten. Postkarte um 1900.

selbst im Mittelpunkt seines Wirkens – dies in dem Sinne, wie er selbst und al-Afghani sie in ihrer Zeitschrift umrissen hatten: Es galt, die Vereinbarkeit traditioneller und moderner, säkularer Institutionen nachzuweisen und letztlich alle Aspekte eines modernen Lebens aus der Lehre des Islams heraus zu begreifen und mit ihr in Übereinstimmung zu bringen.

Die Forderung nach der Besinnung auf den Islam der Altvorderen beinhaltete naturgemäß zunächst, als Fehlentwicklungen und Missverständnisse gebrandmarkte Tatbestände zu beseitigen, die sich über die Jahrhunderte in die Auslegung und Praxis des Islams eingeschlichen hatten. Die Öffnung der Religion für den idschtihad, d. h. die selbstständige Auslegung der Quellen des Islams durch die Theologen, brachte Abduh zwar in die Nähe des wahhabitischen Purismus. Dies aber nicht als verengende Rückbesinnung auf die vergangenen Zustände der frühen Gemeinde; vielmehr sollte die Eliminierung »fremder« – nicht zuletzt auch sufischer – Elemente den Islam als einen rationalen Glauben befreien, innerhalb dessen die Errungenschaften einer europäischen Moderne ihren Platz finden würden. Zwischen der reinen Nachahmung Europas und dem unbeweglichen Beharren auf den Traditionen würde ein Mittelweg zu beschreiten sein: Der »wahre Islam« enthalte die Grundlage der neuen und nur scheinbar fremden Gesetze und Einrichtungen und die Werte der bürgerlichen Gesellschaft im Europa des 19. Jahrhunderts seien auch die Werte des modernen Islams.

Der Kernbegriff im Denken Abduhs war der »wahre Islam«. In diesem Zusammenhang konnte er sich der Diskussion der großen Themen seiner Zeitgenossen nicht verweigern: der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Religion oder Wissenschaft und Religion. Zwar weisen seine Werke auf diesem Gebiet einen gewissen Eklektizismus auf, der sich auf ein breites Wissen auf den Gebieten der islamischen und europäischen Kultur gründet. Der rote Faden aber, der bei allem Eklektizismus seines Denkens sichtbar wird, ist die Übereinstimmung von Offenbarung und Vernunft. Der Islam sei eine Religion, die an die Vernunft appelliere, und der Koran ermahne den Menschen dazu, seinen Verstand zu gebrauchen. Wenn Aussagen der religiösen Quellen gelegentlich der Vernunft zu widersprechen scheinen, so seien die Texte symbolisch auszulegen. Einen zukunftweisenden Weg beschritt er auch in seinem Verständnis des Unterschieds zwischen den religiösen (ibadat) und jenen Pflichten der Schari’a, die sich mit den Beziehungen der Menschen untereinander befassen (mu’amalat). Während erstere in Koran und Überlieferung (hadith) klar und eindeutig niedergelegt seien, enthielten letztere nur allgemeine Grundsätze. Diese könnten den konkreten Umständen entsprechend so ausgelegt werden, dass sie gesellschaftlich und sittlich förderlich (maslaha) seien. Dies aber solle nach dem Ermessen der Vernunft geschehen. An dieser Stelle berührte sich die Kompetenz des Theologen mit den konkreten täglichen Entscheidungen, die er als Staatsmufti auf Anfragen zu treffen hatte. So machte Abduh in religiöser Dimension den Weg frei für eine umfassende Diskussion politischer und gesellschaftlicher Erneuerung vor dem Hintergrund des Drucks europäischer Mächte und wachsender Abhängigkeit der Staaten und Gesellschaften im Vorderen Orient von ihnen. Abduh starb im Juli 1905.


Abb. 6: Dschamal ad-Din al-Afghani – ein streitbarer Theologe gegen europäische Dominanz.

War Abduh nach seiner Rückkehr nach Ägypten zur theologisch-konzeptuellen Speerspitze der religiösen Erneuerung geworden, blieb Dschamal ad-Din al-Afghani, sein etwa zehn Jahre älterer Mentor und Mitstreiter in Paris bei der Arbeit an Al-urwa al-wuthqa, sein Leben lang eher ein politischer Agitator. Viele der Gedanken, die Abduh zu einem systematischen Gebäude zusammenzubringen bemüht war, sind bei al-Afghani eher Versatzstücke einer immer auch politischen Propaganda. Zu unterschiedlichen Gelegenheiten und vor unterschiedlichem Publikum vorgetragen, sind sie nicht frei von Widersprüchen. Ausdruck bewusster Mystifizierung ist bereits sein Beiname, der eine afghanische Herkunft suggerieren soll. Tatsächlich aber wurde er 1838 in Asadabad, in der Nähe der westiranischen Stadt Hamadan, also in einem schiitisch-persischen Milieu, geboren. Seine frühen Lehrjahre als Theologe sahen ihn in Qazwin, Teheran und ab 1852 in den Zentren der schiitischen Lehre im Irak (damals unter osmanischer Herrschaft). Mit Blick auf sein späteres Lebensziel, die Muslime zum aktiven Widerstand gegen die europäische, namentlich britische Dominanz aufzurütteln, schien ihm der schiitische Ruch hinderlich; »Afghani« sollte die Zugehörigkeit zum sunnitischen Mainstream suggerieren. In einem frühen Stadium seines rastlosen und umtriebigen Lebens hielt er sich in Afghanistan auf, wo er den Emir Schir Ali ( S. 119) zu einer antibritischen Politik zu bewegen versuchte.

Es ist schwer (und an dieser Stelle erlässlich), sein Itinerar nachzuzeichnen. Großräumlich liegen dessen Stationen zwischen Indien im Osten und London im Westen. 1889 taucht er auch in Russland auf, wo er den Zaren von einem Militärschlag gegen England (vergeblich) zu überzeugen sucht. Fruchtbar wird sein achtjähriger Aufenthalt in Kairo in den siebziger Jahren, bei dem das geistige Band zu seinem Schüler Abduh geknüpft wird. Hier tritt er übrigens der Freimaurerloge »Stern des Ostens« (Kaukab asch-scharq) bei, die zur angelsächsischen Großloge gehört. Als seine englandkritischen Umtriebe dort auf taube Ohren stoßen, verlässt er sie und richtet eine unabhängige, nationale Loge ein, in welcher auch politisches Engagement statthaft ist.

Unter britischem Druck wird er 1879 vom Khediven ausgewiesen – ein Geschick, das ihm bereits mehrfach zuteil geworden war und auch künftig werden sollte. Er geht nach Indien. Dort veröffentlicht er u. a. eine Abhandlung unter dem Titel: »Die Wahrheit über die Naychari-Sekte« (oder »Die Widerlegung der Materialisten«). Dabei handelt es sich im Kern um eine Polemik gegen den indischen Reformer Sir Sayyid Ahmad Khan (1817–1898), einen Bewunderer der Briten, der für eine vorbehaltlose Übernahme der europäischen Kultur und Zivilisation durch die Muslime eintritt. In Ahmad Khans Denken nimmt der Begriff der »Natur« (nature) einen zentralen Platz ein: Im Unterschied zur traditionellen islamischen Theologie, die keine Naturgesetze im Sinne europäischer Naturwissenschaften anerkennt, sondern diese als »Gewohnheiten Gottes« versteht, von denen er auch abweichen kann, vertritt Ahmad Khan die Auffassung, die Naturgesetze seien fest und unwandelbar. Vordergründig wendet sich al-Afghani gegen dessen Lehre (ohne freilich den Autor beim Namen zu nennen). Hintergründig sucht er Ahmad Khan als Ketzer zu brandmarken, in der Absicht, ihn unter den indischen Muslimen ins Zwielicht zu setzen.

1882 reist al-Afghani nach Europa. In Paris, London und St. Petersburg sucht er Unterstützung für seine – meist wirklichkeitsfremden – Pläne. Bemerkenswert an seinem Aufenthalt in Paris ist nicht nur die bereits erwähnte Zusammenarbeit mit Muhammad Abduh an der Zeitschrift Al-urwa al-wuthqa; auch kommt es zu einem berühmt gewordenen Gedankenaustausch mit dem französischen Philosophen Ernest Renan (1823–1892). Dieser hatte am 29. März 1883 an der Sorbonne einen Vortrag über das Verhältnis des Islams zur Wissenschaft gehalten. Darin hatte er den Islam für wesentlich unvereinbar mit der Wissenschaft erklärt; der »Muselmann« (so die zeitgenössische deutsche Übersetzung) hege »die tiefste Verachtung vor der Bildung, der Wissenschaft, vor Allem, was wir das europäische Geistesleben nennen«.18 Des Weiteren leitete er daraus die Unterlegenheit der islamischen Welt gegenüber Europa ab. Mehr noch: Unverhohlen rassistisch hatte er insbesondere der »arabischen Rasse« die Befähigung zur Wissenschaft abgesprochen. Von einer »arabischen Wissenschaft« zu sprechen, sei irreführend; die meisten »arabischen« Wissenschaftler seien gar keine Araber gewesen.

Nachdem dieser Vortrag im Journal des Débats abgedruckt worden war, nahm ihn al-Afghani zur Kenntnis. Dort wurde auch dessen arabisch verfasste Antwort übersetzt ins Französische veröffentlicht. Im Tonfall äußersten Respekts vor dem französischen Denker räumte er zwar die europäische Überlegenheit ein, wollte aber eine essentielle Unfähigkeit »des Islams«, wissenschaftlich zu denken, nicht akzeptieren. Im Vergleich zum Christentum sei der Islam die jüngere Religion; mithin habe er die Chance, sein Verhältnis zur Wissenschaft noch zu verändern, wie das in Europa geschehen sei. »In Wahrheit hat die mahomedanische Religion die Wissenschaft zu ersticken und ihre Fortschritte zu hindern sich bemüht«, aber das sei auch im Raum der christlichen Religion geschehen. »Und die verehrten Häupter der katholischen Kirche haben meines Wissens die Waffen noch nicht niedergelegt.« Renan hat im Journal des Débats vom 18. Mai – ebenfalls mit größtem Respekt – darauf geantwortet. Die Denkweise des »aufgeklärten Asiaten« bringe ihn zu der »Überzeugung, dass wenn die Religionen die Menschen trennen, die Vernunft sie einander nähert, und dass es im Grunde nur eine und dieselbe Vernunft gibt«. Schließlich sei der »Scheik Djemmal Eddin ein Afghane, der von den Vorurtheilen des Islam völlig frei geworden; er gehört jenen kräftigen Rassen des oberen, an Indien grenzenden Iran an, in denen der arische Geist noch so energisch unter der dünnen Hülle des officiellen Islam fortlebt.« So frei und unverblümt konnte sich al-Afghani nur auf einem Forum äußern, von dem er annehmen konnte, dass es nur eingeschränkte Aufmerksamkeit im islamischen Raum erfahren würde. Vor der breiten Öffentlichkeit der Muslime, die er panislamisch zu inspirieren und mobilisieren suchte, musste er andere Töne anschlagen.

1889 von Nasir ad-Din Schah (reg. 1848–1896) nach Teheran eingeladen, kam es bald zum Konflikt: Wie üblich scharte al-Afghani eine Anzahl junger Intellektueller um sich, mit denen er nicht nur seine reformerischen und antibritischen Pläne schmiedete, sondern in diesem Falle auch Möglichkeiten erörterte, die Regierung des Schahs zu stürzen. Anfang 1891 wurde er außer Landes gebracht. 1892 setzte er von London aus seine Kampagne gegen den Schah fort; dabei blies er Wind in das Feuer der Proteste, die in Persien im Zusammenhang mit der Vergabe von Konzessionen an britische Unternehmer ausgebrochen waren ( S. 69). 1897 wurde der Schah von einem Anhänger al-Afghanis ermordet.

In London erhielt er eine Einladung des osmanischen Sultans Abdülhamit II., als sein Gast nach Istanbul zu kommen und dort zu bleiben. Al-Afghani hoffte wohl, der Sultan wollte sich seiner Dienste versichern, um seine panislamische Außenpolitik zu verwirklichen. Dazu freilich ist es nie gekommen. Wahrscheinlich war es eher dessen Absicht, den umtriebigen Geistlichen besser unter Kontrolle zu haben. Seine letzten Jahre verbrachte dieser wie ein Gefangener. Trotz mehrerer Gesuche, ihm das Verlassen des Landes zu gestatten, ließ ihn der Sultan nicht gehen. Er ist 1897 in Istanbul gestorben.

Es fällt nicht leicht, die Lehre al-Afghanis zusammenzufassen. Zahlreich sind die Widersprüche und Umschwünge in seinen Äußerungen – ein Umstand, der eben nicht zuletzt der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass er sich als Agitator und Propagandist jeweils dem Publikum und den Umständen anpassen musste, unter denen er handelte und sprach. In seinem vorstehend zusammengefassten Disput mit Renan konnte er sich freier äußern als vor einer muslimischen Öffentlichkeit. Klar tritt sein Bestreben zutage, die islamische Welt in die Lage zu versetzen, der kolonialen Expansion Europas Widerstand zu leisten. Mit Blick darauf galt es, auf die Einheit der umma hinzuwirken. Bereits darin aber lag ein Widerspruch: Denn auf der einen Seite bildeten die Muslime selbst diese Gemeinschaft, die ihr Geschick in die Hand zu nehmen hatte. Auf der anderen Seite waren nun einmal die Machthaber die bestimmenden Akteure – sowohl in der islamischen Welt als auch in Europa. Wie andere Reformer seiner Zeit zog es auch al-Afghani vor, im Zusammenwirken mit Regierungen und Eliten seine Ziele zu erreichen.

Neben dem Widerspruch in Strategie und Taktik tut sich eine Ambivalenz den Inhalt des Erneuerungsprozesses selbst betreffend auf. Al-Afghani hatte begriffen, dass die Quellen der Überlegenheit Europas ebendort zu suchen seien. Diese – so glaubte er – gründete auf Rationalität und Unternehmungsgeist – Tugenden, die zur Entwicklung der europäischen Wissenschaft und Technik geführt hätten. Wie Muhammad Abduh sah er diese Tugenden und Werte auch im Islam verankert: Der »wahre Islam« sei seinem Wesen nach eine Religion, die mit der menschlichen Vernunft nachvollziehbar ist und deren Gebrauch anregt. Durch die Ausübung des idschtihad und das erneute Durchleuchten der Quellen könne der Islam von unechten Auswüchsen befreit werden. Das Dilemma, das bereits im Falle von Strategie und Taktik des Handelns sichtbar wurde, zeigt sich auch an dieser Stelle: Die panislamische Ausrichtung seines politischen Denkens sollte seine Spielräume einschränken, tiefgreifende, ja radikale Reformen zu propagieren. Wollte er einen möglichst großen Teil der umma erreichen und politisch mitnehmen, musste er, um nicht unorthodox zu erscheinen, seine Argumente zur Neuauslegung des Islams verwässern. Tatsächlich hat das schillernde Erscheinungsbild seiner theologischen und politischen Positionen Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit aufkommen lassen und ihn dem Vorwurf ausgesetzt, Agnostiker zu sein.19

Die Nachwirkung der beiden Reformer im arabischen Raum des 20. Jahrhunderts – und darüber hinaus – kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Al-Afghanis Aufruf zum Widerstand einer geeinten umma gegen den europäischen Kolonialismus sollte – zum Teil in simplistischer Reduktion (auch auf die Anwendung von Gewalt) – bei jenen Persönlichkeiten und Strömungen nachklingen, die in der politischen Emanzipation und der Befreiung von westlicher Dominanz die Voraussetzung einer umfassenden Erneuerung und eines dynamischen Wiederaufstiegs der islamischen Welt gesucht haben. Abduh hat jenseits der theologischen Dimension auf vielen Feldern Anstöße zu politischer und gesellschaftlicher Erneuerung gegeben. Salafistische Kräfte verbündeten sich mit den jungen Nationalbewegungen. Bezeichnend dafür ist das Beispiel Algeriens, wo sich der Widerstand gegen die Kolonialmacht und deren Assimilierungspolitik mit dem Streben nach der Behauptung einer eigenen algerisch-islamischen Identität verband. Das Freilegen einer eigenständigen, vom Islam durchdrungenen Kultur – in der vom Reformislam geprägten Ausformung – entsprach den Bedürfnissen eines nicht unerheblichen Teils der gebildeten Muslime in Algerien. Zu den Persönlichkeiten, die die Ideologie der Salafiyya-Bewegung in Algerien verankerten, zählte Abd al-Hamid ibn Badis (1889–1940). Er gründete mit Gleichgesinnten 1931 die Vereinigung algerischer muslimischer Gelehrter (Dscham’iyyat al-ulama al-muslimin al-dschaza’iriyyin). Selbst wenn sich diese als rein religiös und kulturell definierte, entwickelte sie eine nachhaltige Dynamik in der nationalistischen Bewegung.

Ein weites Feld der gesellschaftlichen Erneuerung betraf die Stellung der Frau in den vom Islam geprägten Gesellschaften. Arabische Christen (und Christinnen) gaben erste Anstöße der Veränderung. Der Ägypter Rifa’a at-Tahtawi hatte in seinem Todesjahr (1873) anlässlich der Eröffnung der ersten staatlichen Mädchenschule in Kairo ein umfängliches Werk zu diesem Thema publiziert. Als erste muslimische Frau forderte die ägyptische Dichterin A’ischa Taimuriyya (1840–1902) seit 1892 in den jungen ägyptischen Zeitschriften und Zeitungen mehr Frauenbildung sowie die Reform familienrechtlicher Bestimmungen und Bräuche, die Frauen in das »häusliche Gefängnis« sperrten. Muhammad Abduh griff diese Impulse auf und suchte durch eine neue Interpretation der einschlägigen Verse des Korans den Weg der Frau in Richtung auf ein modernes (sprich von europäischen Vorbildern geprägtes) Verständnis ihrer Rolle in Familie und Gesellschaft zu öffnen.

Von Abduh beeinflusst war auch Qasim Amin (1863–1908), der zum bekanntesten Anwalt der Sache der Frauen um die Jahrhundertwende wurde. Während seines Rechtsstudiums in Montpellier von 1881 bis 1885 war mit Abduh in Kontakt getreten. In seinem Buch »Die Befreiung der Frau« (Tahrir al-mar’a, 1899) übte er heftige Kritik an den Zuständen in Ägypten. Für seine Reformvorschläge stützte er sich auf Abduhs Neuinterpretationen des Korans und der Schari’a. Der politische Despotismus im Vorderen Orient habe die jahrhundertelange Unterdrückung der Frau bewirkt; Mann und Frau seien gleich geschaffen. Amin forderte eine am praktischen Leben mit seinen Verantwortlichkeiten orientierte Mädchenbildung. Ein Volk könne sich nur progressiv entwickeln, wenn es Frauen nicht nahezu alle Bildungsmöglichkeiten und die Teilnahme am öffentlichen Leben versage.20

Im Überblick ist der Verlauf der Geschichte des Vorderen Orients im 19. Jahrhundert durch zwei zunächst gegensätzlich und widersprüchlich erscheinende Eckpunkte gekennzeichnet: die Überwältigung von außen auf der einen und die Erneuerung im Inneren auf der anderen Seite. In der zweiten Hälfte beschleunigten sich die Prozesse des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandels zwischen Nordafrika und dem Hindukusch; Ähnliches wird sich unten von den Ländern des Kaukasus, insbesondere dem islamisch geprägten Aserbaidschan sagen lassen. Den roten Faden in der Darstellung des Kapitels bildet eine Aufbruchsstimmung, in die die Gesellschaften im Vorderen Orient in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eingetreten waren. Die Araber haben dieser Epoche den Namen der »Erhebung« oder »Wiedergeburt« (an-nahda) gegeben. Ihre Charakterisierung durch Sadik Dschalal al-Azm (1934–2016), einen der bedeutendsten arabischen Philosophen nach dem Zweiten Weltkrieg, trifft im Kern auf die gesamte Region zu: Das arabische Leben sei »von einer großen liberalen und freidenkerischen Reformbewegung erfasst« worden, für die sich »diverse Bezeichnungen eingebürgert haben: Erwachen, Renaissance (an-nahda), Reformation, liberales Experiment, islamischer Modernismus, liberales Zeitalter des modernen arabischen Denkens und so weiter. Und tatsächlich war diese Bewegung alles zugleich: eine theologisch-rechtliche Reformation, eine literarisch-intellektuelle Renaissance, eine rational-wissenschaftliche Aufklärung und ein politisch-ideologisches Aggiornamento.«21 In vielfältiger – und durchaus kontroverser und widersprüchlicher – Weise wurden die Wurzeln für die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzungen gelegt, die das Erscheinungsbild des Vorderen Orients und Nordafrikas durch das 20. Jahrhundert hindurch prägen sollten. Die Grundstimmung war optimistisch: Die Antwort auf die Frage, ob der Islam mit dem säkularen Humanismus oder der Moderne vereinbar sei, ist für al-Azm ein »bedenkenloses Ja«.

Von Anfang an aber war nicht zu übersehen, dass mit der Dynamik der Erneuerung eine kulturelle Dualität in der Gesellschaft der muslimischen Völker aufgebrochen war. Neben den neuen Gesetzbüchern und Gerichtshöfen bestanden die Schari’a-Gerichte fort und die neuen, nach europäischen Vorbildern eingerichteten Schulen ließen die klassische madrasa nicht verschwinden. Das blieb nicht ohne Folgen für die Gesellschaft, denn natürlich waren die modernen Absolventen im Vorteil, wenn es um die Besetzung der Posten in den Staatsapparaten ging, die sich ihrerseits neu aufstellten. Während die modernen Eliten in Politik, Gesellschaft und Kultur die Richtung bestimmten, fand sich der traditionelle Sektor zunehmend im Abseits.

Neben der politischen und kulturellen vertiefte sich auch die wirtschaftliche Kluft. Die ägyptischen Bauern erfuhren die gesellschaftliche Transformation in erster Linie als forcierte Einziehung in die Armeen Mehmet Alis oder in die Arbeitsbrigaden, die für die Durchführung der öffentlichen Arbeiten Isma’il Paschas aufgebracht wurden. Auch in den Kernländern des Osmanischen Reichs und in Iran drückten die Bauern Abgaben und wachsende Verschuldung. Vor dem Hintergrund der immer stärkeren Einbeziehung des Agrarsektors des Vorderen Orients in die Weltwirtschaft nahm die Zahl der Bauern zu, die gezwungen waren, ihr Land aufzugeben und sich für geringen Lohn dem wachsenden Heer derer anzuschließen, die als Landarbeiter auf den Gütern der neuen Schicht privater Großgrundbesitzer schufteten.

Die Gründe dafür, dass der geschilderte Aufbruch eben nur ein Aufbruch bleiben und nicht zu einer tiefgreifenden und stabilen Neuordnung des Vorderen Orients und Nordafrikas führen sollte, sind zahlreich. Entscheidend aber sollte hinzukommen, dass die Politik eines Europa, welches mit einer für die Eliten so anziehenden Kultur und mit so verheißungsvollen und vielversprechenden Idealen und Werten daherkam, im Zeitalter dieses Aufbruchs ausschließlich und brutal von eigenen ökonomischen und machtpolitischen Interessen geleitet war. Die Feindseligkeiten und Kriege gegen das Osmanische Reich hörten nicht auf. Europäische Mächte mischten sich in vielfältiger Weise in die inneren Angelegenheiten der nahöstlichen und nordafrikanischen Staaten ein; bewusst wurde ihnen die Schuldenfalle gestellt, die bald zuschnappte und die Regierungen zwischen Nordafrika und Iran einer europäischen Schuldenverwaltung unterstellte.

Die Umwälzungen in Iran und im Osmanischen Reich, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzten, eröffneten den Gesellschaften neue Perspektiven, in modernen Ordnungen zu leben. Sie hätten den finalen politischen Ausdruck des Modernisierungsprozesses des vergangenen halben Jahrhunderts bedeuten können. Aber die Verfassungsrevolution in Iran (1906) wurde von England und Russland gewaltsam blockiert. Und die neuen Eliten, die mit der jungtürkischen Machtübernahme in Konstantinopel (1908) das verbliebene Reich auf eine neue Grundlage zu stellen entschlossen waren, wurden durch den europäischen Imperialismus, der nicht abließ, das Reich zu zerstören, delegitimiert und verführt, sich nach innen zu radikalisieren. Während des Ersten Weltkriegs, an dessen Ende wiederum die Chance eines Neubeginns bestanden hätte, teilten europäische Mächte den Nahen Osten nach eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen auf. Das Recht auf Selbstbestimmung, das insbesondere durch den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zur Grundlage eben dieser Neuordnung hätte gemacht werden sollen und auf das sich die nahöstlichen Führer beriefen, wurde durch sie unter den Teppich gekehrt. In den folgenden Jahrzehnten waren die Eliten in den Gesellschaften des Vorderen Orients dann mehr damit beschäftigt, sich der Fremdherrschaft zu erwehren als sich der drängenden Herausforderungen der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erneuerung zu stellen.

So hat Europa wesentlich dazu beigetragen, dass die beharrenden und rückwärtsgewandten Kräfte, mit denen sich die Modernisierer seit dem 19. Jahrhundert auseinanderzusetzen hatten, nie von der Bildfläche verschwanden. Sie traten zeitweise weit in den Hintergrund, um sich umso nachdrücklicher wieder zu Wort zu melden, wenn ihnen die Schwäche der Modernisierer Freiraum dafür bot. Am Ende des 20. Jahrhunderts schließlich sollte der mittlerweile zu »dem Westen« mutierte Teil der Welt in einer Allianz mit den reaktionärsten Kräften des Vorderen Orients seinen Interessen am wirkungsvollsten gedient sehen. Damit stellte er eine der vielen Weichen für den Zusammenbruch der Ordnung im Nahen Osten zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft

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