Читать книгу Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft - Udo Steinbach - Страница 29
4.2 »Wir sind ein Teil Europas«
ОглавлениеDer dem Wahhabismus radikal entgegengesetzte Pol im Spektrum der »Erneuerung« im 19. Jahrhundert kann mit einem Ausruf des Khediven Isma’il, des Enkels des Gründers des modernen Ägyptens, markiert werden: »Mein Land liegt nicht mehr in Afrika; wir sind ein Teil Europas geworden«.15 Der Abschottung vor dem Einfluss Europas stand eine Politik weitestgehender Öffnung gegenüber. Das offenbarte sich etwa im Erscheinungsbild Kairos und Alexandrias: Das Vorbild Paris vor Augen, entstanden europäische Stadtviertel mit Boulevards, Gasbeleuchtung und Straßenbahnen. Investiert wurde in den Ausbau der Infrastruktur des Landes, d. h. der Wasserversorgung, Bewässerungskanäle, Straßen und Brücken, Eisenbahnen, Telegraphen, Leuchttürme und Hafenanlagen. Der Bau des Suezkanals sollte die Krönung dieser Anstrengungen sein, das Land auf den Kurs des Fortschritts zu bringen. Dem materiellen Fortschritt ging die kulturelle Europäisierung einher. So wurde zeitgleich mit dem Suezkanal in Kairo ein Opernhaus eröffnet. (Giuseppe Verdis »Aida« war dafür in Auftrag gegeben werden. Da der Maestro nicht rechtzeitig liefern konnte, gelangte bei der Eröffnung »Rigoletto« zur Aufführung, bei der europäische Prominenz reichlich vertreten war – unter ihr der habsburgische Kaiser Franz Joseph und Frankreichs Kaiserin Eugénie, Gattin Napoleons III. Mit zweijähriger Verspätung kam am 24. Dezember 1871 die Erstaufführung der »Aida« in Kairo – mit ungeheurem Erfolg – dann doch noch zustande.) Noch vor der Einweihung des Opernhauses war das »Théâtre de la Comédie« – ausschließlich für das französische Theater des leichteren Genres bestimmt – fertig geworden. Es hatte die Größe des Varieté-Theaters in Paris und war luxuriös ausgestattet. Die Haremslogen für den Hof hatten Drahtgitter zum Schutz vor neugierigen Blicken; der Khedive und seine Entourage verfügten über einen privaten Eingang. Dieses Theater wurde am 4. Januar 1869 mit »La Belle Hélène« von Jaques Offenbach feierlich eröffnet.16
Was hier für Ägypten gesagt wurde, gilt naturgemäß ebenso für die Hauptstadt des Osmanischen Reichs. Auch hier wurde das Stadtbild europäisiert. Für Fahrzeuge zugängliche Straßen durch die Enge des alten Konstantinopels durchzubrechen, war ein Hauptmotiv herrschaftlicher Ideologie und zugleich eine praktische Notwendigkeit. Der Bau solcher Straßen tangierte das Selbstgefühl, weil die Fortbewegung in Wagen und Kutschen zu einem Sinnbild von gehobenem Status – nicht zuletzt bei den Frauen – geworden war. Insbesondere die überkommenen Viertel der Europäer unterlagen einem rasanten Wandel. Geschäfte, Theater und Cafés reihten sich entlang der Grande rue de Péra (heute: Istiklal Caddesi). Wohlhabende muslimische Familien begannen, die neu errichteten Appartementwohnungen am nördlichen Stadtrand zu beziehen. Ausschlaggebend dafür war der Wunsch, von den neu eingeführten Dienstleistungen, wie etwa den beleuchteten Straßen und nahegelegenen Einkaufsmöglichkeiten, Gebrauch zu machen. Für die Frauen bedeutete der Umzug eine Erweiterung ihres Aktionsradius, denn die neuen Viertel boten wohlhabenden Frauen Gelegenheit, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Auch die Aneignung europäischer Lebensformen war eine Begleiterscheinung dieser Epoche des Aufbruchs. Die Oberschicht der Gesellschaft in Istanbul, Kairo, Alexandria sowie in den Städten der Levante und Nordafrikas begann, sich europäisch zu kleiden und europäischen Lebensformen zu folgen. Die Zusammensetzung der Bevölkerung war multiethnisch und multireligiös – in ihr fanden sich neben den Einheimischen vornehmlich Engländer, Franzosen, Italiener und Griechen. Große jüdische Kolonien spielten eine erhebliche Rolle im Wirtschaftsleben.
Vom Vordringen europäischer Macht und von der Notwendigkeit getrieben, die Ereignisse einem sich verbreiternden Publikum zu vermitteln, gingen starke Impulse auf das Entstehen des Druckerei- und Pressewesens aus. Im Osmanischen Reich hatte erst 1729 die erste Druckmaschine ihre Arbeit aufgenommen; in Ägypten 1821 und in Persien erst 1883. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts steckte das Druckereiwesen insgesamt also noch in den Kinderschuhen. Die ersten Zeitungen waren kaum mehr als offizielle Chroniken der Ereignisse und sozusagen »von oben« ins Leben gerufen worden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber setzte ein Prozess nachhaltiger Emanzipation des Pressewesens von der Kontrolle der Regierungen ein. Einzelne Persönlichkeiten oder Gruppen gründeten Zeitungen und Journale. Neben der Berichterstattung der Ereignisse entwickelten sich viele von ihnen zu Foren, auf denen Ideen und Programme zur Zukunft der nahöstlichen Gesellschaften in großer Breite und Freizügigkeit erörtert wurden. Wo die Herausgeber auf Unterdrückung seitens der Herrschenden stießen, verlegten sie den Erscheinungsort ins Ausland. London, Paris und Genf wurden Zentren oppositioneller osmanischer Veröffentlichungen. Diese konnten aber auch nach Kairo oder Beirut ausweichen, wo sie britischer bzw. französischer Einfluss der Verfolgung durch die Behörden des Sultans entzog. London – nach Beginn des Ersten Weltkriegs auch Berlin – wurde Erscheinungsort oppositioneller persischer Journale. Auch in Tiflis, dem geistigen Zentrum des von Russland 1813 annektierten Transkaukasus, sowie in Kalkutta, der Hauptstadt Britisch-Indiens, wurden oppositionelle Blätter gedruckt, die dann heimlich ins Bestimmungsland gebracht wurden. Wie weitreichend der Einfluss der Presse selbst in einem relativ traditionsverhafteten Land wie Afghanistan sein konnte, wird unten am Beispiel der Zeitung Seradsch al-akhbar dargestellt ( S. 121).
Periodisch erscheinende Journale waren auch Foren für die Erneuerung von Literatur und Kunst; dabei übten französische Vorbilder sowie die französische Sprache einen überwältigenden Einfluss aus. Die Lyrik orientierte sich an zeitgenössischen französischen Vorbildern. In der Prosa wurden die Erzählungen, insbesondere aber der Roman neue Genres im literarischen Schaffen. Letzterer ist bis in die Gegenwart das wirkungsmächtigste und aussagekräftigste literarische Genre geblieben, in dem sich die komplexen Herausforderungen an die Menschen und ihre Gesellschaften in der Gegenwart umfassend spiegeln.
Auch die Malerei erfuhr starke Impulse aus Europa. Bereits im 18. Jahrhundert hatte die osmanische und persische Malkunst europäische Einflüsse erkennen lassen. Aber erst mit dem 19. Jahrhundert konnte neben der überkommenen auch die europäische Kunsttradition umfassend praktiziert werden. Aber noch immer dominierten Angehörige christlicher Minderheiten, insbesondere Armenier, sowie von ausländischen Botschaften vermittelte europäische Maler den Kunstbetrieb. Für die Malerei im Osmanischen Reich bedeutete das Jahr 1870 einen Wendepunkt: Mit der Rückkehr Şeker Ahmet Paşas (1841–1907), Osman Hamdi Beys (1842–1910) und Süleyman Seyyids (1842–1913) von ihren Studienaufenthalten in Paris veränderte sich die Istanbuler Kunstwelt. Şeker malte hauptsächlich Landschaftsbilder, Osman widmete sich – unterstützt von der Fotographie – figürlichen Darstellungen und Süleyman bevorzugte Stillleben. 1873 und 1875 organisierte Şeker erste große Kunstausstellungen wichtiger zeitgenössischer osmanischer Maler in Istanbul. Sie hatten die mehr oder weniger höfische Kunst hinter sich gelassen. Ihre Bilder waren nunmehr zugleich kritische und provozierende künstlerische Reflexionen, die ihrer Generation den Weg einer neuen und freien Weltsicht öffnen sollten. 1882 gründete Osman Hamdi Bey den Vorläufer der heutigen Mimar Sinan Universität der Schönen Künste.
Auch Theater und Schauspiel unterlagen europäischer Einwirkung. Dabei konnte an traditionelle Formen der Darstellung angeknüpft werden: an das Schattenspiel (karagöz) in der türkischen und an die jährliche dramatische Vergegenwärtigung des Martyriums Imam Husains im Monat Muharram (ta’ziyeh) in der schiitischen Überlieferung. In Ägypten hatte das Theater im Volks- bzw. Straßentheater – oft derben und satirischen Inhalts – eine Art Vorläufer. Damit war der Boden bereitet für die Aneignung des europäischen Dramas, zuerst in Gestalt von Übersetzungen, wobei die französischen Dramatiker, etwa der Tragödienschreiber Racine (1639–1699) und der Komödienschreiber Molière (1622–1673) an der Spitze der Beliebtheitsskala standen. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts widmeten sich auch türkische, arabische und persische Autoren – unter ihnen auch Angehörige christlicher Minderheiten – der Abfassung von Bühnenstücken. Dass es nicht selbstverständlich war, Frauenrollen auch mit Frauen zu besetzen – das stieß nicht selten in konservativen Kreisen auf Proteste –, ist ein Indiz für die gesellschaftlichen Spannungen, unter denen sich der Prozess des kulturellen Aufbruchs unter europäischen Vorzeichen vollzog. Einen Großteil des Publikums stellten die in den Metropolen des Vorderen Orients ansässigen Kolonien europäischer Bürger. Unter den Einheimischen war die Teilnahme naturgemäß auf eine schmale städtische Oberschicht beschränkt. Die breite Öffentlichkeit in Gestalt sowohl der unteren Schichten in den Städten als auch der Bevölkerung auf dem Lande hatte daran keinen Anteil.