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5.2 Sonnenuntergang oder Morgenröte? – Die »Jungtürken« an der Macht
ОглавлениеIn Russland (1905/06) und in Iran (1906) hatten konstitutionelle Kräfte der autokratischen Machtausübung ihrer Monarchen Grenzen zu setzen gesucht. Noch hatten die herrschenden Dynastien überlebt. In der Perspektive des sich anschließenden Jahrhunderts aber bedeutete das Jahr 1906 für beide Länder eine Zäsur.
Auch der Sultan in Konstantinopel konnte sich den Zeichen der Zeit nicht entgegenstellen. Mit der Schließung des Parlaments in Konstantinopel (1878) war eine »bleierne Zeit« eingeleitet worden; alle Regungen von Opposition im Lande wurden unterdrückt. Liberale politische und geistige Kräfte konnten sich nur als Geheimzellen organisieren oder im Ausland überleben und von dort aus ins Reich hineinwirken. Im Jahr 1889 fand sich an der militärmedizinischen Akademie in Istanbul unter der Bezeichnung Gesellschaft für Osmanische Einheit (Ittihad-i Osmani Cemiyeti) eine als Geheimzelle organisierte Oppositionsgruppe zusammen. Anders als im Falle vorangegangener Reform- und Putschversuche, die von Offizieren bzw. Geistlichen (ulema) getragen waren, gaben diesmal Studenten den Ton an. Bald fanden sie an anderen Militärschulen Nachahmer. Unter der Bezeichnung »Jungtürken« sollten in den kommenden Jahren höchst unterschiedliche Gruppen und Denkrichtungen zusammengefasst werden, die gegen das Regime von Abdülhamit II. opponierten. Unter dessen Druck sahen sich nicht wenige unter ihnen gezwungen, das Land zu verlassen. In Paris trafen sie auf dort lebende Exilanten; zusammen gründeten sie das – zunächst bescheidene – Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihat ve Terakki Cemiyeti).In der in türkischer und französischer Sprache erscheinenden Zeitschrift Meşveret (»Beratung«) propagierten sie ab 1895 ihre zentralen Ziele: die Wiedereinsetzung der Verfassung und Wahlen zu einem neuen Parlament.
Nur langsam erholte sich die Bewegung von einem gescheiterten Putschversuch 1896, doch gelang es trotz der Wachsamkeit der Spitzel des Sultans, die Aktivitäten im Lande zu verstärken. Die Bewegung spaltete sich jetzt in zwei programmatisch unterschiedliche Flügel: in einen zentralistisch-säkularen und einen eher liberal-pluralistischen. Ein Kongress in Paris 1902 ließ diese Spaltung zutage treten. Der Führer der Liberalen, Prinz Sabahettin (1879–1948), der osmanischen Familie entstammend, gründete 1906 die Gesellschaft für Private Initiative und Dezentralisierung (Teşebbüs-ü Şahsi ve Adem-i Merkeziyet Cemiyeti). Führer des zentralistischen Flügels der Bewegung war demgegenüber Ahmet Rıza (1858–1930), bis zu seinem Gang ins Exil Beamter in der osmanischen Verwaltung. Er stand mit der Osmanischen Freiheitsgesellschaft (Osmanlı Hürriyet Cemiyeti) in Verbindung, die 1906 von Bürokraten und Offizieren in Salonika (heute Thessaloniki) gegründet wurde. Eine aktive Rolle spielte hierbei Mehmet Talat, Beamter am dortigen Post- und Telegraphenamt. Ein zweiter »Jungtürken-Kongress« führte 1907 noch einmal die wichtigsten Exilvertreter zusammen. In einer gemeinsamen Erklärung forderten sie den Sturz des Sultans, die Wiedereinsetzung der Verfassung und die Öffnung beider Kammern des Parlaments.
Die Initiative zu handeln aber war zu diesem Zeitpunkt bereits auf Offiziere der im europäischen Teil des Reichs stationierten Dritten (Makedonischen) und Zweiten (Thrakischen) Armee übergegangen, die dem Komitee für Einheit und Fortschritt verbunden waren. Im Mai 1908 brachten sie den ausländischen Konsulaten in Salonika gegen den Sultan gerichtete Flugschriften zur Kenntnis. Das Treffen des Zaren Nikolaus II. mit dem englischen König Edward VII. in Reval (heute Talinn) im Juni beschleunigte die Aktion des Militärs, weil man weitere Aufteilungspläne durch die europäischen Mächte fürchtete. Kurz darauf kam es zur offenen Meuterei in Makedonien. In der Dritten Armee schloss sich eine Einheit nach der anderen den jungen Offizieren an. Der Sultan reagierte mit der Entsendung von in Kleinasien stationierten Truppen zur Niederschlagung des Aufstands; dies erwies sich als Fehlschlag. Albanische Truppenteile, in der Vergangenheit eine solide Unterstützung des Regimes in Konstantinopel, versagten die Gefolgschaft. Am 24. Juli erklärte Abdülhamit II. unter dem Druck der Aufständischen die Suspendierung der Verfassung für beendet.
Erste Reaktionen darauf waren überwältigende Erleichterung und offen ausgetragener Jubel auf den Straßen Konstantinopels. Das »bleierne Zeitalter« schien beendet. Der Weg zu einem neuen Miteinander der verschiedenen Völker und Religionen auf der Grundlage der Verfassung und im Rahmen eines Parlaments, in dem alle wesentlichen (männlichen) Gruppen der Gesellschaft vertreten sein würden, schien geöffnet.
Das neu gewählte Parlament hatte 288 Sitze. In der ersten vierjährigen Legislaturperiode waren Türken (147), Araber (60), Albaner (27), Griechen (26), Armenier (14), Juden (4) und Slawen (vor allem Bulgaren) vertreten. Fast alle Abgeordneten standen dem Komitee nahe. Die einzige Gruppierung, die sich daneben noch zu behaupten und in Erscheinung zu treten vermochte, war die von Prinz Sabahettin gegründete Partei der Osmanischen Liberalen (Osmanlı Ahrar Fırkası). Sie gewann nur einen Sitz. Die überwältigende Mehrheit im Parlament kontrollierte in der Folgezeit die Regierung. Jenseits aber dieser politischen Dominanz von Ittihat ve Terakki war ein hohes Maß an Freiheit und Vielfalt der Meinungsäußerung gegeben; es kam zu einem geradezu explosionsartigen Erscheinen gedruckter Publikationen jeglicher couleur. Das soeben noch erstarrte Reich erschien von neuem vielfältigem Leben erfüllt.
Die Aufbruchsstimmung ließ verkennen, dass die neue Ordnung doch auf recht tönernen Füßen stand. Von Beginn an sollte die alleinige Machtausübung durch das Komitee und seinen säkular-zentralistischen Flügel einen Schatten auf die Zustimmung zu der Revolution werfen. Die liberalen Elemente unter den Jungtürkenfühlten sich marginalisiert. Auch waren die überkommenen politischen Kräfte und Machtstrukturen nicht überwunden. Der Sultan war nicht nur weiterhin an der Macht. Es gelang ihm auch, die Wiedereinsetzung der Verfassung als eine Gnade seinerseits gegenüber dem Volk der Osmanen darzustellen – mithin hatte er sich also eine gewisse Popularität bewahren können. Breite Kreise unter den Religiösen schließlich – insbesondere unter dem niederen Klerus – machten Stimmung gegen die »unislamischen« Freiheiten unter dem neuen Regime, darunter nicht zuletzt das freizügigere Erscheinungsbild der Frauen in der Öffentlichkeit.
Gleichwohl bedeutete der Putschversuch vom 12. April 1909 eine Überraschung. Mit der Forderung der Rückkehr zum Islam und zur Schari’a und begleitet von Softas (Studenten an den traditionellen Medresen, den religiösen Schulen) marschierten dem Sultan ergebene Truppenteile zum Parlament. Zu ihren Forderungen gehörten auch die Entlassung des Großwesirs und anderer Mitglieder des Kabinetts sowie der Rücktritt des dem Komitee nahestehenden Parlamentspräsidenten (Ahmet Rıza). Darüber hinaus kam es zu Übergriffen gegen dem Komitee nahestehende Personen. Nach anfänglichen Erfolgen und – geringfügigen – Konzessionen seitens des Sultans wurde der Aufstand am 24. April niedergeschlagen. Eine aus Teilen der Dritten Armee und Freiwilligenverbänden zusammengesetzte Truppe, als »Aktionsarmee« (Hareket ordusu) deklariert, besetzte Istanbul, ohne auf nachhaltigen Widerstand zu stoßen. Drei Tage später beschlossen beide Kammern des Parlaments die Absetzung Abdülhamits. Es ist zweifelhaft, dass er wirklich die treibende Kraft hinter der Restauration gewesen ist. Größer war wohl der Anteil der Ahrar, eben jener durch das Komitee für Einheit und Fortschritt machtpolitisch marginalisierten liberalen Elemente unter den Jungtürken. Dem abgesetzten Sultan folgte sein jüngerer Bruder Mehmet V. Reşat (1844–1918). Unter ihm sollte das Sultanat nur noch ein Schatten seiner selbst sein.
Der Versuch der Restauration hatte die noch immer gegebene breite Unterstützung für die Opposition und mithin eine Schwäche hervortreten lassen, die die Herrschaft des an der Macht befindlichen Flügels des jungtürkischen Regimes gefährden konnte; er blieb auch in der Folgezeit eine traumatische Erfahrung. Folgerichtig lag die faktische Macht in den kommenden Jahren in der Hand der Armee, namentlich ihres charismatischen Generalstabschefs, Mahmud Şevket Pascha (1856–1913). Auf der anderen Seite gestattete es die nunmehr gegebene Stabilität, die Reformen zu verwirklichen, die das Komitee für unverzichtbar hielt, um das Überleben des Reichs zu sichern. Im Zentrum einer im August 1909 durchgeführten Verfassungsreform stand die Neuverteilung der Macht zwischen dem Parlament und der Regierung. Dem Sultan blieb nur noch das Recht, den Großwesir und den Şeyhülislam (die höchste religiöse Autorität) zu berufen. Die Auflösung des Parlaments wurde an Bedingungen geknüpft; die Gesetzgebung lag ausschließlich ebenso bei diesem wie die Ratifizierung von Verträgen. Die Ausgaben für den Hof wurden um zwei Drittel gekürzt. Die Zentralregierung wurde gestärkt – freilich auf Kosten individueller und kollektiver Freiheiten wie des Vereins- und Versammlungsrechts, des Streik- und Presserechts.
Nach ihrer Unterdrückung im Zuge der Wiederherstellung der Macht des Komitees im April 1909 erholte sich die Opposition relativ rasch. Bis 1911 entstanden eine Reihe neuer Parteien. Vor dem Hintergrund des Beginns der italienischen Besetzung Libyens vereinigten sich diverse oppositionelle Gruppierungen im November in der Partei für Frieden und Verständigung (Hürriyet ve Itilaf Fırkası). Durch nichts anderes geeint als die gemeinsame Gegnerschaft zum Komitee, gelang es ihr, in einer Nachwahl in Istanbul dessen Kandidaten zu schlagen. Das Komitee erzwang nun die Auflösung des Parlaments. Die Neuwahlen im Frühjahr 1912 sind unter der Bezeichnung sopalı seςim, die »Wahl mit dem Stock«, in die Geschichte eingegangen: Angesichts von Einschüchterung und Manipulation seitens der Regierung vermochte nur eine Handvoll Kandidaten der Opposition, einen Sitz zu erringen. Der anschließende Machtkampf zwischen dem Komitee, dem Parlament, der Regierung, der Opposition und dem Militär sollte schließlich im Herbst 1912 mit dem Ausbruch des »Balkankrieges«, der schlimmsten außenpolitischen Katastrophe seit 1876, sein Ende finden.
In einem kritischen Moment seiner Existenz war das Reich wieder einmal Opfer einer neuerlichen Aggression von außen – diesmal vonseiten seiner Nachbarn, hinter denen aber die Interessen europäischer Mächte unübersehbar waren. Als sich die Jungtürken 1908 daran gemacht hatten, die Wiedereinsetzung der Verfassung zu erzwingen, waren sie auch von der Erwartung geleitet, dem Regime in Konstantinopel eine neue Legitimation und die Anerkennung seitens der liberalen Staaten Westeuropas zu verschaffen. England war ihr politisches Vorbild. So mussten sie mit Enttäuschung konstatieren, dass London nicht seine Stimme erhob, als Österreich-Ungarn im Jahr der jungtürkischen Revolution Bosnien-Herzegowina (das bereits seit 1878 unter der Verwaltung Habsburgs gestanden hatte) annektierte. Enttäuschend war auch, dass die ethnischen Unruhen unter den – noch – osmanischen Völkern auf dem Balkan anhielten, waren die führenden Persönlichkeiten des Ittihat ve Terakki doch überzeugt, im Namen aller osmanischen Völker gehandelt zu haben. Besonders schockierend waren die Aufstände der Albaner 1910 bis 1912; Angehörige dieser Volksgruppe hatten in der osmanischen Geschichte bis in die jüngste Zeit herausragende Funktionen innegehabt. Seit 1904 schließlich befand sich der Jemen im Aufstand, der erst 1911 beendet werden konnte.
Die europäischen Mächte ließen keineswegs erkennen, dass sie von der jungtürkischen Intervention beeindruckt gewesen wären. Rücksichtslos spielten sie das Spiel des 19. Jahrhunderts fort, sich am Territorium des Reichs schadlos zu halten, wenn die Mächtekonstellation es gestattete. Vergeblich hatten die Sultane Reformmaßnahmen durchgeführt, um in europäischen Hauptstädten Anerkennung zu finden und eine stabile Neuordnung der Mächtekonstellation zu befördern. Diesmal ging es darum, Ansprüche Italiens zu honorieren. Gegenüber der machtpolitischen Ausdehnung Englands, Frankreichs, Habsburgs und Russlands – im letzten Jahrzehnt aber auch des Deutschen Reichs – im Mittelmeerraum und auf dem Balkan fühlte sich Italien benachteiligt. Nun erhob Rom Ansprüche auf Tripolitanien (im heutigen Libyen), den letzten Teil des Südufers des Mittelmeers, der noch nicht von England und Frankreich beherrscht wurde.
1911 hatte sich Italien der Zustimmung Frankreichs, Englands und Russlands (aber auch der Neutralität Deutschlands und Österreichs) versichert, um seine Ansprüche zu verwirklichen. Am 28. September 1911 konfrontierte Rom die osmanische Regierung mit einem Ultimatum: Sie solle der Besetzung Tripolitaniens zustimmen, da dort italienische Bürger durch fanatische Muslime bedroht würden.
Abb. 8: Der Untergang des Osmanischen Reiches im 19. und 20. Jahrhundert.
Am nächsten Tag begann der italienische Überfall. Obwohl die osmanische Armee auf einen solchen Akt nicht vorbereitet war, gelang es, einen wirkungsvollen Widerstand zu organisieren. Daraufhin weiteten die Italiener die Kriegshandlungen aus und besetzten im Mai 1912 die Anatolien vorgelagerte Inselgruppe der Dodekanes. Nicht zuletzt angesichts einer neuerlichen Bedrohung auf dem Balkan sah sich die osmanische Regierung im Oktober 1912 gezwungen, Libyen und die Dodekanes Italien zu überlassen.
Die Regierungen der jungen Staaten auf dem Balkan waren ihrerseits entschlossen, die Osmanen vollständig von dort zu verdrängen. Wenn diesbezüglich Konsens bestand, war andererseits doch umstritten, in welcher Weise das Fell des Bären verteilt werden würde. Zwischen März 1911 und Oktober 1912 aber schien sich diesbezüglich zwischen Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro eine Übereinkunft abzuzeichnen. Am 2. Oktober stellten sie der Hohen Pforte ein Ultimatum: Gefordert wurden weitreichende Reformen in Mazedonien unter der Kontrolle auswärtiger Mächte. Diese erklärte sich zwar zu Reformen bereit, widersetzte sich aber dem Verlust an Souveränität. Am 8. Oktober erklärte Montenegro, gefolgt von den anderen, den Krieg. Die militärische Niederlage des Reichs war praktisch programmiert. Als Ergebnis einer nach London einberufenen Konferenz sollte das Reich alle europäischen Besitzungen bis auf Istanbul und die Meerengen verlieren. Ein unabhängiger albanischer Staat sollte entstehen, Edirne an Bulgarien fallen.
Das Ergebnis der Konferenz hatte schockartige Wirkung: Als die Nachricht davon nach Konstantinopel übermittelt wurde, kam es am 23. Januar 1913 zum Putsch seitens des Komitees der Jungtürken. Angesichts der Erniedrigung sollte es nun nicht mehr um die Herrschaft einer Partei, einer politischen Gruppierung oder des Parlaments gehen, vielmehr schrieben die Putschisten die Rettung der nationalen Ehre auf ihre Fahnen. Sechs Offiziere der Unionisten drangen in den Sitz der Regierung ein, wo gerade das Kabinett tagte. Dort erschossen sie den Kriegsminister und nahmen mehrere andere Regierungsmitglieder fest. Mahmud Şevket Pascha (1856–1913) wurde Großwesir und Kriegsminister.
Unmittelbar danach setzten die Balkanstaaten den Krieg fort. Wieder war das Kriegsglück den Osmanen nicht hold. Am 16. April wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Der am 10. Juni geschlossene Vertrag sah den Verlust aller Gebiete nördlich und westlich einer Linie von Enoz an der Ägäis nach Midye am Schwarzen Meer vor. Das schloss auch Edirne, die frühe Hauptstadt des jungen Osmanischen Reichs, ein. Jetzt brach unter den Vieren (plus Rumänien, das an dem Krieg nicht teilgenommen hatte) der Streit über die Verteilung der territorialen Gewinne aus. Unterstützt vom Komitee nutzten junge Offiziere den chaotischen Streit, Edirne zurückzuerobern. Im Friedensvertrag von Konstantinopel (29. September 1913) musste sich Bulgarien bereit erklären, die Provinz Edirne zurückzugeben. In dieser militärischen Kampagne hatte sich ein charismatischer Offizier, Enver Pascha, besonders ausgezeichnet. Er sollte bis zum Ende des Reichs eine zentrale Rolle spielen.
Trotz dieses spektakulären Unternehmens – Edirne hatte als erste Hauptstadt des jungen Osmanischen Reichs einen besonderen Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein – kann das Desaster der osmanischen Verluste in seiner politischen, wirtschaftlichen, menschlichen und kulturellen Dimension kaum überschätzt werden. Das Reich hatte fast alle seine europäischen Territorien – alles in allem über 60 000 Quadratmeilen mit ungefähr vier Millionen Bewohnern – verloren. Die Provinzen Makedonien, Albanien und Thrakien waren über 500 Jahre Teile des Reichs gewesen und sie gehörten zu seinen wohlhabendsten und am meisten entwickelten Provinzen. Ein unverhältnismäßig großer Teil der Elite hatte dort ihren Ursprung; Salonika war die Wiege des Komitees für Einheit und Fortschritt gewesen. Konstantinopel war von Flüchtlingen überschwemmt, die alles verloren hatten.
Mit dem Staatsstreich hatte das Komitee für Einheit und Fortschritt wieder die vollständige Kontrolle über die Lage im Inneren erlangt. Die Ermordung von Großwesir Mahmud Şevket Pascha am 15. Juni 1913 wurde der Auslöser einer heftigen Verfolgung der Opposition. Jetzt entstand das »Triumvirat«, das die Geschicke des Reichs bis zu seinem Untergang bestimmen sollte. Talat (1874–1921) trat als Innenminister in das Kabinett ein; nach wie vor verfügte er über beträchtlichen Einfluss im Komitee. Im Verlauf des Krieges sollte er die zentrale Persönlichkeit des politischen Geschehens werden. Enver (1881–1922), zweimal befördert, wurde General und Kriegsminister und übte in dieser Funktion die Kontrolle über die Armee aus. Dritter im Bunde war Cemal Pascha (1872–1922); als Militärgouverneur der Hauptstadt war er zugleich für die Politik der Regierung gegenüber den Minderheiten, namentlich den Arabern, verantwortlich.
Im Lichte der Geschichte des Reichs bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ist offensichtlich, dass die Jungtürken es nicht vermocht haben, dieses auf eine neue Grundlage zu stellen, auf welcher es dauerhaft als stabiler Staat hätte fortbestehen können. Viel ist darüber diskutiert worden, wo die Ursachen dafür zu suchen sind. Nicht zuletzt liegen sie natürlich auch bei den handelnden Akteuren selbst: Die Richtungskämpfe unter ihnen und ihre Neigung zu autokratischer Machtausübung haben ihre Fähigkeit geschwächt, die auseinanderstrebenden Strömungen politischer und gesellschaftlicher sowie religiöser und kultureller Natur zu versöhnen und staatliche Institutionen zu schaffen, die allgemeine Anerkennung und Legitimität – gerade auch unter den nicht-türkischen und nicht-muslimischen Untertanen – hätten erfahren können. Unbestreitbar aber ist auch, dass auswärtigen Mächten ein hohes Maß an Verantwortung dafür zuzuschreiben ist. In gewisser Weise wiederholte sich das Szenario, das bereits im Zeitalter der Tanzimat sichtbar geworden war: Hatten die Reformen des Sultans das Wohlgefallen der europäischen Mächte erringen und so die Voraussetzungen schaffen sollen, das Osmanische Reich zu einem Mitglied des europäischen Konzerts der Mächte zu machen, so erwies sich das als eine Fehlkalkulation. Diese ließen vielmehr nicht ab, den territorialen Bestand des Reichs gemäß ihren Interessen aufzuteilen. Und eben dieses Szenario wiederholte sich auch nach 1908. Wieder standen weitreichende Reformen auf der Agenda. Angesichts der Aggressivität der Großmächte sowie der von ihnen abhängigen neu entstandenen regionalen Mächte kamen die führenden Personen innerhalb des Komitees für Einheit und Fortschritt bald zu der Überzeugung, dass das Reich nur mit harter Hand zusammenzuhalten sein würde. Damit aber vertieften sie die Verwerfungen, die sich in den Jahrzehnten der Herrschaft Abdülhamits II. aufgetan hatten. Der Erste Weltkrieg, in den Konstantinopel nur nach einigem Zögern eintrat, wurde zum Entscheidungskampf: Die Mächte der Entente verständigten sich auf die definitive Aufteilung des Reichs.
Mit der jungtürkischen Intervention 1908 war auch die Diskussion über die Identität des Reichs in einer Breite und Intensität angefacht worden wie nie zuvor. Zeitungen und Zeitschriften, deren Zahl in den letzten Jahren Sultan Abdülhamits auf kaum ein Dutzend geschrumpft war, vervielfältigten sich in dem Jahr nach seinem Sturz auf das dreißigfache. Die Jungtürken selbst – und mit ihnen andere nicht-türkische Völker des Reichs – sahen die Zukunft des gemeinsamen Zusammenlebens in »osmanischer« Perspektive, d. h. in einer Union, die die verschiedenen Gemeinschaften um den osmanischen Thron versammelte. Die (Pan-)Islamisten ihrerseits beschworen die Solidarität der islamischen umma (türk. ümmet). Aber für einen Augenblick schien dem Osmanismus die Zukunft zu gehören: Alle Untertanen, unabhängig von ihrem Glauben, ihrer Sprache oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit würden im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung loyale Bürger mit gleichen Rechten sein. Amtssprache im Parlament wäre das osmanische Türkisch.
Die Euphorie sollte indes nicht von langer Dauer sein: Spätestens der Ausbruch der Balkankriege und das unverhohlene Streben der nicht-türkischen und nicht-arabischen Völker nach dem Austritt aus dem Reich haben diesen Optimismus des Neubeginns fundamental erschüttert. Von nun an schien die Türkisierung der nicht-türkischen Untertanen die einzige Strategie, das Reich zusammen zu halten. Zugleich begann ein türkischer Nationalismus Platz zu greifen. Ein Bewusstsein von der Eigentümlichkeit der ethnischen Türken im Unterschied zu den Osmanen war erst in den letzten beiden Jahrzehnten der Herrschaft Abdülhamits II. entstanden. Man entdeckte gleichsam Anatolien als das Herzland der Türken und idealisierte die Kultur der türkischen Landbevölkerung. Seine volle und umfängliche Wirkung sollte der türkische Nationalismus nach dem Ende des Reichs entfalten ( S. 216). Diese Hinwendung zum Türkentum als der staatstragenden Ethnie war zeitweilig von einer panturkischen Perspektive begleitet. Angesichts des Bestrebens der nicht-türkischen Völker, das Reich zu verlassen, sollte die osmanische Herrschaft vonseiten der Turkvölker jenseits Anatoliens, namentlich im Kaukasus, im Wolga-Ural Gebiet, auf der Krim und in Zentralasien, eine neue Rechtfertigung erfahren. Der Traum von der Einheit der turksprachigen Völker unter osmanischer Flagge war geboren.
Die Machtübernahme durch das Triumvirat 1913 war nicht zuletzt auch mit dem Abfall bzw. den zentrifugalen Bestrebungen der nicht-türkischen Völker im Reich gerechtfertigt worden. Eine autokratische, alle ethnischen und religiösen Differenzen jenseits der türkisch-islamischen »Staatsideologie« unterdrückende Herrschaftsausübung sollte zugleich alle inneren Ressourcen gegen die Aggression vonseiten äußerer Mächte mobilisieren. Das Schicksal der Armenier (und anderer Christen auf anatolischem Boden) sollte der konsequenteste und zugleich brutalste Ausdruck dieser Entschlossenheit werden, das Reich unter einem neuen Vorzeichen zu erhalten.
Es entbehrt nicht der Tragik, dass der Nationalismus, der die Jahrzehnte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Nahen Osten und in Nordafrika endgültig prägen sollte, bereits in seiner frühen Phase mit dem Streben nach ethnischer (und häufig auch religiöser) Einheitlichkeit einhergeht. »Einheit« war eines der Schlagworte der Jungtürken gewesen. Nach dem Strohfeuer der Begeisterung von 1908 sollte sich bald erweisen, dass diverse ethnische und religiöse Gruppen unterschiedliche Auffassungen davon hatten, wie diese »Einheit« zu verwirklichen sei. Vor dem Hintergrund der äußeren Bedrohung zeigte sich das Komitee entschlossen, die Einheit im Sinne einer Zentralisierung von oben gegebenenfalls gewaltsam durchzusetzen. »Einheit« erhielt eine türkisch-nationalistische Einfärbung, die in wachsendem Maße alle nicht-türkischen Völker des Reichs, besonders aber die nicht-muslimischen, entfremdete. Von den arabischen Völkern wird unten zu sprechen sein. An dieser Stelle sei das Schicksal der Armenier ausführlicher dargestellt.
Die armenische Tragödie, die im Völkermord von 1915 ihre extreme und tragische Zuspitzung erfuhr, ist im größeren Zusammenhang der Ausbreitung und Radikalisierung nationalistischer Gedanken, Projekte und Bewegungen zu sehen. Die christliche Bevölkerung unterschiedlicher Denominationen stellte einen erheblichen Anteil an der Bevölkerung in den ostanatolischen Provinzen dar. Angaben über ihre Anzahl variieren. Für die Armenier als zahlenmäßig stärkste christliche Gemeinschaft dürfte 1,5 Mio., d. h. etwa 10 % der anatolischen Bevölkerung, eine realistische Schätzung sein. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die Spannungen zwischen Armeniern und ihrem muslimischen Umfeld – Türken, aber auch Kurden – bisweilen pogromartig entladen. Das hatte komplexe Hintergründe, deren Wurzeln bis zu den Reformedikten der Sultane zurückreichten. Die Gleichstellung von Muslimen und Nicht-Muslimen hatten einen starken Entwicklungsschub unter den Christen Anatoliens in Gang gesetzt. Das Wirken europäischer und amerikanischer Missionare und »Entwicklungshelfer« unter den anatolischen Christen hatte Verbesserungen auf den Gebieten des Erziehungswesens, der medizinischen Versorgung, der Infrastruktur und der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in den von Christen bewohnten Gebieten mit sich gebracht. Damit waren Gräben zu den muslimischen, nicht zuletzt kurdischen Nachbarn aufgetan. Unter der extrem konservativen muslimischen Bevölkerung verbanden sich Neid und Missgunst mit dem Gefühl, Opfer einer auswärtigen Einmischung mit dem Ziel der Aufteilung des Reichs zu sein. Der Entwicklungsvorsprung der »Ungläubigen« stand zudem in Widerspruch zu der tief verinnerlichten Überzeugung von der Überlegenheit der islamischen Religion und ihrer Bekenner über die Nicht-Muslime. Die Spannungen begannen sich in bewaffneten Zusammenstößen und Pogromen zu entladen; bereits in den 90er Jahren wurden Zehntausende Armenier getötet.
Aus dieser diffusen Konfliktlage erwuchs ein armenisches Nationalgefühl. Tiflis war damals nicht nur ein Schmelztiegel unterschiedlicher Völker und Religionen. Es war auch das geistige und kulturelle Zentrum für den Austausch »moderner« Ideen und Strömungen unter den südkaukasischen Völkern. 1890 war dort die Armenische Revolutionäre Föderation (abgekürzt: Daschnakzutyun, oder Daschnaken) gegründet worden. Sie verstand sich zunächst zwar wesentlich als Strömung innerhalb der reformerisch eingestellten sozialistischen Bewegung in Russland. Gegen Ende des Jahrhunderts aber und nicht zuletzt als Reaktion auf die antiarmenischen Pogrome im Osten Anatoliens entwickelten sich die Daschnaken zu einer Partei, die nach einem autonomen Status für die Armenier im russisch beherrschten südlichen Kaukasus und im osmanischen Ostanatolien – und ab 1917 nach eigener Staatlichkeit – strebte. Zwar hatten die Daschnaken noch auf ihrem achten Parteitag im Juli 1914 in Erzurum angesichts des heraufziehenden Krieges beschlossen, die Armenier sollten sich gegenüber den jeweiligen Regierungen in Konstantinopel und Moskau neutral verhalten, doch hatten viele von ihnen offen mit Moskau sympathisiert. 1915 schlugen sich dann Tausende unter ihnen auch militärisch auf die Seite der Anfang 1915 nach Nordostanatolien vordringenden Russen. Hinter den Linien kam es zu
Abb. 9: Die Gedenkstätte Zizernakaberd in Jerewan erinnert an den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915.
Desertionen armenischer Soldaten aus der osmanischen Armee und zu armenischen Guerillaaktivitäten. Vor diesem Hintergrund fasste die osmanische Führung, gestützt auf einen Teil des Komitees und angeführt von Innenminister Talat Pascha, den radikalen Plan, die armenische Bevölkerung im Osten Anatoliens umzusiedeln. Ziel der Umsiedlung (techir) sollte Deir az-Zor in der Syrischen Wüste sein. Die Aktion der »Umsiedlung« begann mit der Verhaftung von über 200 prominenten Armeniern in Konstantinopel am 24. April 1915. Nach diesem Fanal wurden in Anatolien Maßnahmen ergriffen, die von Beginn den Charakter einer ungeordneten und von brutaler Willkür an der dortigen Bevölkerung begleiteten Vertreibung hatten. Sie waren gekennzeichnet von Plünderungen und gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Massenmorden. Über die Zahl der Opfer liegen naturgemäß keine genauen Zahlen vor; die Schätzungen liegen zwischen 600 000 und 800 000 Menschen. Für die Deportationen und Massenmorde hat sich international der Begriff des Völkermords (Genozid) durchgesetzt. Diese Bezeichnung ist mit der von den Historikern diskutierten Frage nach der Verantwortung der osmanischen Staatsführung verbunden: Gab es einen zentral gefassten und systematisch durchgesetzten Plan zur Vernichtung der Armenier oder waren die »Ausschreitungen« – wie es die Türkei bis heute offiziell behauptet – den allgemeinen Zuständen im Osten Anatoliens zuzuschreiben, die der Kontrolle der Zentralregierung zum Teil entzogen warten?
Die Mehrheit unter den Historikern spricht heute von einer planmäßigen Vernichtung. Talat Pascha kommt in dieser Lesart die Rolle des zentralen Akteurs zu. Das Ergebnis der »Maßnahmen« war die fast vollständige Ausrottung der armenischen Bevölkerung in Anatolien. Sie waren ein trauriges Vorspiel zu dem Bevölkerungsaustausch, der 1923/24 auf der Grundlage eines im Januar 1923 in Lausanne unterzeichneten Abkommens zwischen der im Entstehen begriffenen Türkischen Republik und Griechenland vollzogen wurde. Nach der Vertreibung und Flucht von Griechen aus Anatolien und Türken aus dem Balkan seit den Balkankriegen 1912/13, nach dem Genozid an den Armeniern (auch unter syrisch-orthodoxen [»assyrischen«] Christen hatte es zahlreiche Opfer gegeben) und nach den Vertreibungen im Zusammenhang mit dem türkischen Befreiungskrieg 1919–1922 wurden im Rahmen des Bevölkerungsaustauschs weitere Hunderttausende Menschen (insgesamt über eine Million) zwangsumgesiedelt. In dem Abkommen war freilich nicht von »Griechen« und »Türken« die Rede; »ausgetauscht« wurden »orthodoxe Bürger der Türkei« und »muslimische Einwohner Griechenlands«.
Gleichsam überlagert war das Ringen um eine Antwort auf die Frage nach der Identität des Reichs von einer anderen grundlegenden Frage: der nach der Haltung zum »Westen«, d. h. zu den politischen, zivilisatorischen und kulturellen Grundlagen der europäischen Mächte. Die Positionen reichten von der völligen Aufgabe der osmanisch-islamischen Zivilisation und der vorbehaltlosen Hinwendung zu Europa auf der einen zu der nachdrücklichen Zurückweisung westlicher Techniken, Institutionen und Ideen auf der anderen Seite. Die Anhänger der letzteren Position waren eine Minderheit. Eine Mehrheit unter der Elite votierte für eine Übernahme der aus osmanischer Perspektive »nützlichen« Elemente europäischer Zivilisation. Sie waren von der bereits von Namık Kemal ( S. 55) gestellten Frage geleitet: Auf welche Weise würde eine Synthese zwischen den Elementen der europäischen und der islamisch-osmanischen Zivilisation hergestellt werden können?
Ungeachtet der schwierigen Lage des Reichs im Inneren und Äußeren wurden vonseiten der jungtürkischen Staatsführung – seit Februar 1917 stand Talat Pascha als Großwesir an ihrer Spitze – eine Reihe von Reformen und Weichenstellungen in Angriff genommen, die auf den Staat weisen, der nach dem Ende des Osmanischen Reichs als Türkische Republik gegründet werden sollte. Dies gilt namentlich für jene Maßnahmen, die als säkularistisch die Trennung von Staat und Religion in der Verfassung der Republik vorweggenommen haben. Dazu gehörten die Unterstellung der religiösen Gerichtshöfe unter das Justizministerium (1915) und eine Reform des Familienrechts, bei der erstmals die Formen der Eheschließung für die drei stärksten Religionsgemeinschaften (Muslime, Christen, Juden) in einer Verordnung zusammengefasst wurden. Im Bereich des Erziehungswesens wurden die religiösen Schulen Istanbuls in einem Zentralinstitut konzentriert, an dessen Spitze eine moderne theologische Akademie stand. Vergleichbare Konzentrationsbemühungen gab es bei den sufischen Bruderschaften, die durch einen Zentralrat von Ordensscheichen kontrolliert und deren Mitglieder zu erzieherischen und wohltätigen Aufgaben angeleitet werden sollten. Weitere Reformen betrafen den Ausbau der Universität und die Ausweitung von Betätigungsfeldern für Frauen in der Öffentlichkeit.
Der Eintritt in den Krieg schließlich hatte auch Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben. Große Teile der Wirtschaft lagen in der Hand von Unternehmen, deren Regierungen sich jetzt mit dem Reich im Kriegszustand befanden. Im Übergang zu einer Kriegswirtschaft wurden die »Kapitulationen«, im Rahmen derer Ausländern und lokalen religiösen Minderheiten eine dominante wirtschaftliche Stellung ermöglicht worden war, nach Eintritt in den Krieg gekündigt. Schutzzölle wurden eingeführt, ausländische Unternehmen unter osmanische Kontrolle gebracht und Steuern erhoben. Aufträge der Regierung wurden an türkisch-muslimische Unternehmer vergeben, die teilweise erhebliche Profite machen konnten. Daraus entstand zwar noch keine neue türkisch-muslimische Bourgeoisie; in dem Maße aber, in dem sich Vorteile und Chancen der Europäer und ihrer lokalen christlichen Geschäftspartner eintrübten, verbesserten sich die Investitionsbedingungen für muslimische Geschäftsleute.
Die jungtürkische Bewegung und namentlich das Komitee für Einheit und Fortschritt, das seit 1913 als einzige organisierte politische Kraft quasi als Einheitspartei die Politik des Osmanischen Reichs prägte, hat die Vorzeichen für jene radikale Revolution gesetzt, die nach 1923 als »kemalistisch« bezeichnet werden sollte. In diesem Sinne kann Talat Pascha als Vorläufer Mustafa Kemals gesehen werden.22 Sein Staatsverständnis war – nur gelegentlich getrübt von dem Zeitgeist geschuldeten politischen Schwankungen – türkisch nationalistisch. Der Regierung sollte die politische Verantwortung zufallen, die »Einheit« des Staatsvolkes durch zentralisierende Maßnahmen zu gewährleisten. Wie das Schicksal der Armenier und anderer christlicher Minderheiten deutlich macht, war diesbezüglich auch die ethnische Säuberung eine Strategie der Politik. Wie später auch für Mustafa Kemal gab es zu einer Ausrichtung auf Europa als Orientierung der Prozesse der Modernisierung keine Alternative. Die Träume Envers, des zweiten Mannes im Triumvirat, das Osmanische Reich als großtürkisches Imperium fortleben zu lassen, hat Talat nicht mitgeträumt. Umgekehrt haben sowohl Enver als auch Talat einen außenpolitischen Kurs der Unabhängigkeit, wie er schließlich von Mustafa Kemal konsequent gesteuert wurde, abgelehnt. An dem Bündnis mit Deutschland hat die Regierung des Komitees – wenn auch nicht ohne Schwankungen – bis zum gemeinsamen Ende festgehalten. Umgekehrt fand es die politische und militärische Führung in Berlin nicht opportun, die Maßnahmen der Verfolgung und Vernichtung der Minderheiten, namentlich der Armenier, über die man über viele Kanäle informiert war, zu kritisieren und an die Öffentlichkeit zu bringen. Nichts durfte von offizieller Seite gesagt oder getan werden, was das Bündnis des Deutschen und des Osmanischen Reichs hätte gefährden können.
Zeitgleich mit dem Abschluss des Waffenstillstands von Mudros (auf der Ägäis-Insel Limnos) am 30. Oktober 1918 verließen die Mitglieder des Triumvirats Istanbul; ein deutsches U-Boot brachte sie nach Sewastopol auf der Krim. Von dort gelangten sie nach Berlin. Sie hatten sich der Justiz der Sieger entzogen. Ihre nach der Flucht unternommenen Aktivitäten ließen noch einmal die unterschiedlichen Stränge jungtürkischer Außenpolitik der vergangenen Jahre erkennen. Enver und Cemal Pascha waren entschlossen, ihren Kampf gegen England fortzusetzen. Der eine – Enver – verschrieb sich schließlich dem Ziel der Schaffung eines turkstämmigen Emirats in Zentralasien; er starb im August 1922 in einem Gefecht mit sowjetischen Truppen nahe der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe. Der andere – Cemal – unterstützte als Militärberater der afghanischen Armee den erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg König Amanullahs gegen Großbritannien ( S. 124). Im Juli 1922 wurde er in Tiflis von Angehörigen eines geheimen armenischen Kommandos erschossen. Talat nahm seinen Wohnsitz in Berlin. Von dort hielt er Kontakt mit Mustafa Kemal. Die Korrespondenz zwischen beiden lässt erkennen, wie eng sich ihre staatspolitischen Konzeptionen berührten. Talat wurde bereits am 15. März 1921 in Berlin ermordet – auch er von einem Armenier, der seine Tat als Rache für die Vernichtung seines Volkes während des Weltkriegs verstand.
Mit dem Waffenstillstand war das Osmanische Reich de facto an sein Ende gekommen. Anders freilich als im Falle Deutschlands und Österreich-Ungarns, wo mit dem Ende des Krieges die Herrscherhäuser stürzten und sich demokratische Revolutionen vollzogen, blieb der osmanische Herrscher an der Macht, eine innenpolitische Revolution also fand zunächst nicht statt. Freilich, in Gestalt der Waffenstillstandslinien verblieb ihm nur noch ein Restterritorium in Anatolien und Ostthrakien und auch dieses hätte nach dem Willen der Sieger weiter aufgeteilt werden sollen. Ein Übergang zu einer neuen Ordnung setzte ein, der 1923 mit der Anerkennung der Türkischen Republik im Vertrag von Lausanne abgeschlossen sein sollte. Während damit der Status der Völker Anatoliens staatsrechtlich geklärt war und sich die Türkische Republik selbst bestimmte, wurden die anderen Teile des Osmanischen Reichs zwischen Nordafrika und Jemen dem politischen Willen der europäischen Mächte, insbesondere Englands, Frankreichs und Italiens unterworfen. Das hat ihr Schicksal bis in die Gegenwart bestimmt. Während die Geschichte der Türkischen Republik im Jahrhundert nach ihrer Gründung – bei allen Veränderungen in der Gesellschaft, Fortentwicklungen des politischen Systems und enger Anpassung an die internationale Ordnung – im Großen und Ganzen kontinuierlich verlaufen ist, weist die Geschichte der ehemals arabischen Untertanen des osmanischen Kalifen vielfältige Brüche und Konflikte auf.