Читать книгу Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft - Udo Steinbach - Страница 33
5.1 Die Mutter der Revolutionen – Iran 1906
ОглавлениеDie Ermordung Nasir ad-Din Schahs (1896) hatte schlaglichtartig die Spannungen innerhalb der Gesellschaft Irans erkennen lassen. Die Tatsache, dass England und Russland an einem Strang gezogen hatten, um den 43-jährigen Muzaffar ad-Din (gegen geeignetere Kandidaten) zum Schah zu erheben, ließ erkennen, in welchem Ausmaß das Land von auswärtigen Mächten abhängig geworden war. Dies sowie die allgemeine wirtschaftliche Not und Unterentwicklung und die autokratische Machtausübung bei wachsender Verschuldung gegenüber dem Ausland verdichteten sich zu dem Sprengstoff, der schließlich in der 1905 einsetzenden revolutionären Bewegung zu einem Wandel des politischen Systems führen sollte.
Die Quellen, aus denen sich die Bewegung speiste, die schließlich der absoluten Herrschaft der Qadscharen ein Ende bereitete, sind zahlreich. Zu ihnen gehört nicht zuletzt das Wirken liberaler Persönlichkeiten, die mit europäischen Verhältnissen in Berührung gekommen waren. Orte, an denen das der Fall war, waren Paris, London, Kairo (seit 1882 unter britischer Dominanz), Kalkutta (der Hauptstadt Britisch-Indiens) und Konstantinopel (das sich mit den Tanzimat auf den Weg der Reformen gemacht hatte). Einige unter ihnen konnten ihre Erfahrungen in hohen politischen Ämtern, insbesondere als Großwesire, einbringen; nicht selten freilich war ihr Wirken von zeitlich kurzer Dauer und sie fielen Hofintrigen zum Opfer. Andere bewegten sich zwischen Aufenthalten in Persien und dem Exil, wieder andere wirkten vornehmlich im Ausland. Einen starken Einfluss übten die von dort ins Land geschmuggelten Presseorgane aus. Bereits Amir Kabir hatte in Persien mit den Waqayi-e ittifaqiyye (»Die Chronik der Ereignisse«) eine einheimische Zeitung begründet, die sich freilich vornehmlich noch als offizielles Sprachrohr verstand. Demgegenüber waren die kritischen Stimmen aus dem Ausland wirkungsmächtiger. Von Malkom Khan ist bereits die Rede gewesen. In Konstantinopel brachte er die Zeitung Qanun (»Das Gesetz«) heraus, von der 41 Nummern zwischen 1891 und 1898 erschienen. In ihr prangerte er die Korruption an und forderte die Einführung einer Verfassung. Sie wurde in London gedruckt und nach Persien geschmuggelt. Ebenfalls in Konstantinopel erschien die Zeitung Akhtar (»Der Stern«). Sie pries die europäische Zivilisation, namentlich die Bedeutung von Bildung, Wissen und Technik in ihr. Gleichzeitig bekannte sie sich zur Größe der iranischen Tradition und Geschichte als Grundlage einer nationalen Identität. Auch propagierte sie panislamische Bestrebungen, wie sie im Aktionismus von Dschamal ad-Din al-Afghani zutage traten. Weitere Zeitungen waren Parvaresch (»Erziehung«) und Surayya (»Die Plejaden«) – beide aus Kairo und Habl al-Matin (»Der feste Strick«) aus Kalkutta. Aus dem russisch beherrschten Transkaukasus, wo sich in Tiflis ein intellektuelles Zentrum entwickelt hatte, an dem auch aserbaidschanische Intellektuelle wirkten ( S. 33), kamen Stimmen, die im persischen Aserbaidschan Gehör fanden und das rückständige Regime in Teheran kritisierten oder satirisch auf die Hörner nahmen. Zu nennen sind unter anderen Mirza Fath Ali Akhundzadeh und Mirza Abd al-Rahim Talibi Najjar Tabrizi (russifiziert: Talibov; 1834–1911). Eine Kuriosität stellte das Buch »Hajji Baba of Isfahan« des britischen Diplomaten und Landeskenners James Morier (1782–1849) dar. Ins Persische übersetzt, reihte es sich unter die kritischen und satirischen Veröffentlichungen persischer Autoren ein, die die politischen und zivilisatorischen Verhältnisse im Land gegen Ende des Jahrhunderts aufs Korn nahmen.
Eine weitere gesellschaftliche Gruppe, die starken Einfluss auf die kommenden politischen Entwicklungen nehmen sollte, war die Geistlichkeit. Zwar standen die ulama der Übernahme europäischer Ideen ablehnend gegenüber, noch stärker aber war ihre Empörung über die Willfährigkeit des Herrschers und seiner Umgebung gegenüber England und Russland. Im Lauf des 18. Jahrhunderts hatten sich zahlreiche hochrangige Geistliche an den heiligen Stätten der Schiiten im osmanisch beherrschten Irak niedergelassen. Unter den frühen Qadscharen waren sie mit großen Ländereien und finanziellen Privilegien in Persien ausgestattet worden. Dies sowie die Tatsache, dass sie außerhalb des iranischen Machtbereichs lebten, verlieh den führenden ulama ein hohes Maß an Autonomie gegenüber dem Herrscher in Teheran. Da sie das Bildungswesen und die Justiz weitgehend beherrschten, bekämpften sie jede Reform, die ihren Einfluss darauf zu schmälern drohte. Gleichzeitig aber konnten sie, die den ständigen Zuwachs des Einflusses des Westens fürchteten, zu einflussreichen Gegnern der Konzessionspolitik des Schahs und seiner Unterwürfigkeit gegenüber ausländischen Mächten werden. Nicht wenige unter ihnen stammten aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Familien und unterhielten enge Verbindungen zu den städtischen Basaren und Gilden. Auf diese Weise wurden sie zu Wortführern der städtischen Bevölkerung, die sich durch den wachsenden Einfluss des Westens auf den Handel und im Bankensektor in ihrer Stellung bedroht fühlten. Sie stellten also eine nationale Kraft dar, wenn es darum ging, westlichen Vorstößen entgegen zu treten, wirkten aber zugleich reaktionär gegen alle Reformmaßnahmen, die ihre eigene Position gefährden konnten. Im Kampf gegen die Tabakkonzession ( S. 69) war die erstere Dimension hervorgetreten. In der heraufziehenden Revolution sollte die Ambivalenz ihrer politischen und gesellschaftlichen Rolle den Gang der Ereignisse mitbestimmen. Dies wiederholte sich später im Zusammenhang der Ablösung der Qadscharen durch die Pahlavi-Dynastie (1925) und der Frage nach der politischen Ordnung in Iran nach dem Sturz des zweiten Pahlavi-Schahs (1979).
Muzaffar ad-Din wollte sich europäischen Einflüssen nicht entgegenstellen. Zu weit hatte sich ihnen das Land bereits unter seinem Vater – wenn auch weniger umfassend als Ägypten und das Osmanische Reich – geöffnet. Neuerungen hatten sich in den Künsten gezeigt; wissenschaftliche und literarische Publikationen waren aus europäischen Sprachen übersetzt worden. Europäische Missionsgesellschaften hatten Schulen und Kliniken gegründet. Muzaffar ad-Din setzte diesen Kurs fort: Europäisch ausgerichtete höhere Bildungseinrichtungen, nach osmanischem Vorbild Ruschdiyye genannt, wurden eröffnet. Zum Verhängnis wurde ihm seine Finanzpolitik. Um seine drei zwischen 1900 und 1905 unternommenen extrem aufwendigen Auslandsreisen zu finanzieren, sah sich Großwesir Amin as-Sultan gezwungen, mehrere Anleihen in Russland aufzunehmen. Sie waren mit strikten, weithin als erniedrigend empfundenen Auflagen verbunden, die nicht zuletzt auch darauf gerichtet waren, den Einfluss Englands in Iran zurück zu drängen. 1902 wurde ein neues Zollabkommen unterzeichnet, das für wichtige russische Güter einen Vorzugszoll vorsah, der noch unter dem ohnehin schon geringen gängigen fünfprozentigen Wertzoll lag. Bereits 1898 war eine Kommission berufen worden, die sicherstellen sollte, dass auch über die Zolleinnahmen die Bedienung der Anleihen an Russland garantiert sein würde. Sie bestand aus belgischen Staatsbürgern, geleitet von Joseph Naus. Das Wirken der Naus-Kommission – Naus war zugleich Minister für Finanzen und Postwesen – wurde mit den Jahren ein immer größer werdender Stein des Anstoßes. Das Argument, der Schah finanziere sein privates Vergnügen aus öffentlichen Mitteln und habe die Staatseinnahmen an das Ausland verpfändet, hatte mobilisierende Wirkung. Oppositionelle Geheimgesellschaften verbreiteten zündende Pamphlete. Eine neue Koalition zwischen führenden Köpfen der ulama, Angehörigen des Hofes und weltlichen Progressiven konzentrierte ihre Polemik auf den Großwesir Amin as-Sultan, der 1903 zurücktreten musste. Als »Häretiker« verkaufe er das Land an die Ungläubigen, lautete der gegen ihn erhobene Vorwurf. Inmitten dieser Unruhe zog auch England, das seinerseits an der Schwächung des russischen Einflusses interessiert war, seine Fäden. Die Proteste unter der Elite wurden durch soziale Spannungen verschärft. In Maschhad, Isfahan, Kerman, Yazd und an anderen Orten kam es zu Protesten einer verarmenden Landbevölkerung gegen das Horten von Getreide und steigende Preise.
Ein Vorfall von relativ geringfügiger Bedeutung wurde zum Ausgangspunkt, an dem sich die angespannte und konfliktgeladene Stimmung zu einer breiten Protestbewegung entlud, die schließlich zur Einrichtung eines Parlaments und zur Verabschiedung einer Verfassung führen sollte. Auf Anordnung des Gouverneurs von Teheran wurden zwei Kaufleute unter dem Vorwurf, Zucker zu überhöhten Preisen zu verkaufen, der Bastonade (d. h. Stockschlägen auf die Fußsohlen) unterzogen. Die Antwort darauf war die Schließung des Basars. Am 14. Dezember 1905 formierte sich ein Protestmarsch aus Kaufleuten und Geistlichen, dem sich weitere Bürger anschlossen. Ihr Ziel: das Heiligtum von Schah Abd al-Azim in Ray, wo sie Asyl suchten (pers. bast). Zwei Geistliche waren die prominentesten Führer: Ayatollah Abdullah Mudschtahid Behbahani und Ayatollah Seyyid Muhammad Tabataba’i. Gefordert wurden die Einrichtung eines »Hauses der Gerechtigkeit« (adaletkhane), die Absetzung des Gouverneurs von Teheran und die Entlassung Naus.
Beeindruckt von den Streiks und der breiten Unterstützung durch die Bevölkerung, machte der Schah Zugeständnisse, doch in den ersten Monaten des Jahres 1906 geschah wenig. Im Juli nahmen die Entwicklungen eine blutige Wende: Nach dem Tod eines jungen Demonstranten kam es bei einem Protestzug zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften, bei denen etwa 70 Menschen getötet wurden. Eine doppelte Bewegung kam ins Rollen: Angeführt von Ayatollah Behbahani wandten sich die einen in Richtung auf Qum, wo sich eines der bedeutendsten schiitischen Heiligtümer in Iran befindet. Auf dem etwa 100 km weiten Weg schlossen sich ihnen mehrere tausend Menschen an. Zeitgleich suchten in Teheran vom 17. Juli an Protestierende bast (Asyl) auf dem Gelände der britischen Botschaft. Bis Anfang August wuchs diese Gruppe von 14 Kaufleuten auf über 13 000 Personen unterschiedlichen Standes und Berufes an. In den größeren Städten wurden die Basare geschlossen.
Nur zögerlich war der Schah bereit, den Forderungen der Demonstranten nachzugeben. Als er Wahlen zu einem Parlament versprach, beendeten diese ihre Proteste in Qum und in Teheran. Am 6. Oktober 1906 wurde die konstituierende Sitzung des Parlaments (dessen Mitglieder sich freilich auf Teheran, Täbris und ein paar andere Großstädte beschränkten) abgehalten.
Diesem ersten Erfolg folgte der zweite, denn jetzt ging es tatsächlich um die Ausarbeitung einer Verfassung (maschruteh), in der die Rechte und Pflichten der Abgeordneten, die Prozeduren der Gesetzgebung sowie die Geschäftsführung des Parlaments und des noch einzurichtenden Senats festgelegt werden sollten. Wenige Tage vor seinem Tod unterzeichnete Muzaffar ad-Din Schah am 30. Dezember 1906 ein Grundgesetz mit 51 Artikeln. Im Wesentlichen folgte es europäischen Vorbildern – der belgischen, bulgarischen und der russischen Verfassung von 1906. Sie sah zwei Kammern vor: Beim Unterhaus (madschlis) lag das Recht auf Gesetzesinitiative und auf Billigung des Haushalts sowie der internationalen Verträge, Anleihen und Konzessionen; außerdem ein eingeschränktes Recht, einzelne Minister einzubestellen. Der Senat, zur einen Hälfte vom Schah berufen, zur anderen gewählt, würde die Gesetze ratifizieren. Unter den Bürgerrechten waren die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die rechtstaatliche Behandlung aller Bürger garantiert. (Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten fanden keine Erwähnung.)
Am 7. Januar 1907 verstarb der Schah. Sein Sohn und Nachfolger, Muhammad Ali Schah (geb. 1872), ließ von Beginn an keinen Zweifel daran, dass er bemüht sein würde, die Uhr zurückzudrehen. Dass er die Mitglieder des Parlaments nicht zu seiner Krönungsfeier einlud, war eine Kampfansage. Zunächst freilich zeigte er sich kompromissbereit. Dabei kam ihm eine Verwerfung innerhalb der Verfassungsbewegung zupass, die sich als folgenreich herausstellen sollte: zwischen dem säkular-liberalen Flügel, der eine Verfassung nach europäischem Vorbild anstrebte – sie
Abb. 7: Hart erkämpft. Abgeordnete des ersten iranischen Parlaments (madschlis) in Teheran, 1906.
würde die persische Bezeichnung maschruteh tragen –, und dem religiös-konservativen Establishment (welches der Schah unterstützte), das eine religiös geprägte Verfassung auf der Grundlage des islamischen Rechts (schari’a) anstrebte – ein Projekt, dessen persische Bezeichnung maschru’e sein würde. Jetzt zeigte sich, dass die Unterstützung der Verfassungsbewegung durch die Geistlichkeit mehr dem Protest gegen die Einmischung auswärtiger Mächte als dem Wunsch auf Einhegung der autokratischen Machtausübung des Schahs entsprungen war. Nach heftigen und zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit nahm das Parlament am 7. Oktober neben der Verfassung eine Ergänzung von 107 Artikeln an. Neben der Aufzählung der Grundrechte der Bevölkerung der iranischen Nation, der Gewaltenteilung sowie der Feststellung der Rechte der Abgeordneten, des Monarchen und der Minister war in ihr auch das Recht der Geistlichkeit festgeschrieben, alle Gesetzesvorlagen auf ihre Vereinbarkeit mit dem islamischen Recht zu prüfen.
Am 11. November 1907 schwor Muhammad Ali Schah im Parlament auf die Verfassung. In Wirklichkeit aber tat er alles, sie wieder außer Kraft zu setzen. Der Konflikt zwischen Anhängern und Gegnern wurde auf die Straße getragen und in Teheran und Täbris kam es zu blutigen Zusammenstößen. Die Abgeordneten dachten nicht daran aufzugeben. Nun setzte der Schah auf die Kosakenbrigade, seine festeste militärische Stütze. Am 23. Juni 1908 begann der Beschuss des Parlaments; die Abgeordneten mussten das Gebäude verlassen. Einige ihrer führenden Persönlichkeiten wurden hingerichtet; die konstitutionelle Epoche schien an ihr Ende gekommen. Am 22. November erklärte der Schah, dass ein Parlament grundsätzlich gegen das islamische Gesetz verstoße.
Schon vor den Ereignissen in der Hauptstadt hatte der Schah begonnen, die Flamme der Revolution außerhalb Teherans auszutreten. Das galt vor allem für das aserbaidschanische Täbris. Seit langem war die Stadt ein Zentrum der Verbreitung moderner Ideen. Ihre politische und geistige Elite stand in engem Kontakt mir den aufmüpfigen Köpfen im vom Zaren beherrschten südlichen Kaukasus, namentlich in Tiflis, damals das multiethnische und multikulturelle Zentrum dieser Region. Diese einheimische Elite wiederum stand mit russischen Intellektuellen und Oppositionellen in Verbindung. Vor diesem Hintergrund hatte die konstitutionelle Bewegung in Täbris eine besonders engagierte und hartnäckige Anhängerschaft. Oppositionelle Vereinigungen (andschuman) waren bereits gegen Ende des Jahrhunderts entstanden. Und früh schon waren auch Vorkehrungen getroffen worden, den reaktionären Bestrebungen gegebenenfalls bewaffneten Widerstand entgegenzusetzen.
Der Angriff der Zentralmacht erfolgte Anfang Juli 1908. Monatelang dauerten die Kämpfe mit wechselndem Kriegsglück. Russland unterstützte militärisch die konterrevolutionären Kräfte und hatte zeitweise Teile von Täbris unter Kontrolle. Dort wurde heftiger Widerstand geleistet; dabei taten sich nicht zuletzt Angehörige der unteren Schichten der Bevölkerung hervor. Anfang Oktober befand sich die Stadt wieder vollständig unter der Kontrolle der Konstitutionalisten. Durch den heldenhaften Widerstand beeindruckt setzte sich ein Marsch der Unterstützer der Verfassung aus den nördlichen und nordwestlichen Teilen des Landes auf Teheran in Bewegung. Von Süden marschierte eine aus dem Stamm der Bakhtiari rekrutierte Truppe nach Norden. Am 13. Juli 1909 zogen die vereinigten konstitutionellen Streitkräfte in Teheran ein; der Schah suchte in der russischen Botschaft Zuflucht. Ein aus der Mitte der Konstitutionalisten gebildeter Hoher Rat erklärte dessen Absetzung; zu seinem Nachfolger wurde sein zwölf Jahre alter Sohn Ahmad (1897–1930) ernannt, für den bis zu seiner Volljährigkeit ein Regent die Geschäfte führen würde. Muhammad Ali Schah begab sich nach Odessa ins Exil. Während die Revolutionäre gegenüber dem Schah und seiner Entourage Milde walten ließen, traf es andere hart: So wurde Ayatollah Fazlollah Nuri (1843–1909), die geistliche Speerspitze der Gegner der maschruteh, gehängt. Im Oktober fanden die Wahlen zum zweiten Parlament statt, das sich am 15. November konstituierte.
Damit schien sich die konstitutionelle Bewegung durchgesetzt zu haben. Dass gleichwohl die kommenden Jahre einen streckenweise chaotischen Verlauf nehmen sollten, hatte eine Reihe von Gründen. Auf die ambivalente Rolle der Geistlichen ist bereits hingewiesen worden. Ein tiefer Graben trennte auch die Liberalen und Säkularen unter den Anhängern der Verfassungsbewegung. Ein konservativer Flügel sah mit der Verfassung das Ziel der Bewegung erfüllt; ihm gehörten Mitglieder der herrschenden Familie, hohe Funktionäre in den politischen Institutionen, ein Teil der Kaufmannschaft und die Großgrundbesitzer an. Andere hatten sich sehr viel weiterreichende Ziele der politischen und gesellschaftlichen Umgestaltung gesetzt. Zwar waren diejenigen eine Minderheit, die auf die Abschaffung der Monarchie hinarbeiteten, aber eine starke Gruppe – erwachsend aus einem Mittelstand von Beamten, Lehrern, Übersetzern, Schriftstellern und Intellektuellen, Ärzten, Kaufleuten und Handwerkern – suchte soziale Reformen, darunter nicht zuletzt die Reform der Besitzverhältnisse auf dem Land, die Einführung eines europäischen Bildungssystems und die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum. Die Gegensätze zwischen der Demokratischen Partei (Hizb-e dimukrat) und der Moderaten Partei (Hizb-e i’tidal) legten nicht nur die Arbeit des Parlaments lahm; sie boten auch England und Russland Ansatzpunkte zu einer nahezu ständigen Einmischung.
In welchem Ausmaß Persien zu deren Spielball geworden war, hatte sich 1907 gezeigt. Besorgt über die immer selbstbewusster ausgreifende Politik Deutschlands, die ausgehend von seiner starken politischen, militärischen und wirtschaftlichen Stellung im Osmanischen Reich auch an den Persischen Golf vorzudrängen schien, hatten beide Mächte im Vertrag von St. Petersburg ihre Einflusszonen in Zentralasien, Afghanistan und Persien festgelegt. In dem Abkommen vom 31. August 1907 war Persien in eine russische, britische und eine neutrale Zone aufgeteilt worden: Die russische Zone umfasste das Gebiet nördlich der Linie Kermanschah–Yazd–Sarakhs; die britische den südöstlichen Teil des Landes. Alle persischen Zölle der russischen Zone würden an die zuvor als Zweigstelle der russischen Staatsbank in Teheran gegründete Banque d’Escompte et des Prêts de Perse abzuführen sein und für die Bedienung der Darlehen, die Russland dem Schah gewährt hatte, zur Verfügung stehen. Im Gegenzug sollten alle Zölle der Provinz Fars und der persischen Golfprovinzen sowie sämtliche Einnahmen aus der Fischerei im Persischen Golf wie im Kaspischen Meer und die Einnahmen des Post- und Telegraphenwesens der in Teheran zuvor gegründeten britischen Imperial Bank of Persia zur Bedienung der englischen Darlehen zugeführt werden. Vertreter Persiens selbst waren bei der Konferenz nicht anwesend gewesen; die Regierung in Teheran war am 16. September über den Inhalt des Vertrages informiert worden. Das hatte heftige Proteste in der Öffentlichkeit ausgelöst.
Der Vertrag war nicht nur die Grundlage der nachfolgenden russischen und englischen Einflussnahme in Persien. Am 26. Mai 1908 war die britische Burmah Oil auf dem Boden der Konzession von William Knox d’Arcy in Masdschid-e Sulaiman auf Öl gestoßen. Um es zu fördern, zu verarbeiten und zu vermarkten, war im April 1909 die Anglo-Persian Oil Company gegründet worden. Angesichts der rasch wachsenden Bedeutung des Öls, nicht zuletzt für die militärische Verwendung, hatten die Briten – wie die Russen auf ihre Weise – ein überwältigendes Interesse an der vollständigen Kontrolle ihrer Einflusszone. Nach dem Scheitern der Konterrevolution verblieben russische Truppen weiterhin in Teilen des Nordens. Auch unterstützte Russland den in der 2. Hälfte des Jahres 1911 unternommenen Versuch des vertriebenen Schahs Muhammad Ali, sich gestützt auf eine turkmenische Truppe auf den Thron zurück zu putschen. Er scheiterte im Oktober am entschlossenen Widerstand einer kleinen Truppe, die von Yeprem Khan Davidian, dem Polizeichef Teherans, befehligt wurde. Mit dem Argument, die unsichere Lage im Süden mache es notwendig, mit eigenen Kräften für Ruhe und Ordnung zu sorgen, hatte England seinerseits ein Jahr zuvor, im Oktober 1910, Schiraz (das nicht in der britisch kontrollierten Zone lag) besetzt.
Unter diesen Voraussetzungen war es der konstitutionellen Regierung nahezu unmöglich, den Aufbau einer funktionierenden Verwaltung voran zu treiben. Dies umso weniger, als London und St. Petersburg beständig bemüht waren, der Stärkung der Position der jeweils anderen Seite in Teheran entgegen zu arbeiten. Das bedeutete insbesondere, sich gegenseitig bei der Gewährung von Darlehen zu blockieren. All das geschah auf dem Rücken der iranischen Regierung, die ohne eine finanzielle Grundlage handlungsunfähig war. In ihrer Not wandte sich diese an die USA. Von dort erhielt sie zwar keine unmittelbare finanzielle Unterstützung, aber immerhin die Zusage, einen fähigen Finanzbeamten nach Persien zu entsenden, der sie beraten würde, ein funktionierendes Steuersystem aufzubauen. Im Frühjahr 1911 traf der US-Amerikaner Morgan Shuster (1877–1960) in Teheran ein. Er sollte das Amt des Schatzkanzlers für drei Jahre übernehmen. Am 13. Juli 1911 verabschiedete das Parlament ein von ihm entworfenes Finanzgesetz, wonach sämtliche staatliche Einnahmen und Ausgaben vom Schatzkanzleramt zentral verwaltet würden. In kurzer Zeit erreichte er eine Neuordnung der Staatsfinanzen.
Es versteht sich fast von selbst, dass diese Wendung der Dinge den Interessen Englands und Russlands auf persischem Boden diametral entgegenlief. St. Petersburg, das sich besonders herausgefordert sah, ergriff die Initiative, Shuster zu Fall zu bringen. Am Ende wurde dies durch den Einsatz militärischer Mittel erreicht. Im November 1911 rückten russische Truppen von Bandar Anzali aus Richtung Teheran vor. Ein russisches Ultimatum, Shuster bis zum 24. Dezember zu entlassen, wies das Parlament zurück. Gegen den Willen des Parlaments verfügte jedoch der Regent am 11. Dezember Shusters Entlassung. Am 20. Dezember löste sich das Parlament selbst auf. Erst im Juni 1914 sollte ein neues Parlament gewählt werden.
Russland, das sich jetzt einem verbreiteten Widerstand gegenübersah, ging daran, das konstitutionelle Pflänzchen mit der Wurzel auszureißen. Täbris und Maschhad, Zentren des Widerstands, wurden Schauplätze russischer Aggression. Am 30. März 1912 erfuhr sie ihren Höhepunkt: Der Schrein des Imam Reza in Maschhad, einer der heiligsten Plätze der Schiiten, wurde bombardiert. Bei dem gleichzeitigen Vorgehen gegen Demonstranten fanden mehr als 500 Menschen den Tod. Dieses Ereignis hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Iraner eingegraben. Auch im Süden des Landes gab es Widerstand – in diesem Fall gegen die britische Besatzung. Er beschränkte sich aber auf den Boykott englischer Produkte.
Sechs Jahre nach ihrem Beginn schien die Verfassungsrevolution an ihr Ende gekommen. Als positives Vermächtnis dieser bewegten Jahre ist zu konstatieren, dass dem politischen ein geistiger Aufbruch einhergegangen war. Auch er hatte seine Ursprünge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und er hat sich durch das 20. Jahrhundert zu einem breiten Strom verstärkt. Dabei sollte freilich die Ambivalenz der Erfahrungen mit Europa nachwirken, hatte man doch auf europäische Vorbilder gesetzt und war gleichwohl auf einen so entschlossenen Widerstand europäischer Mächte gestoßen, liberale Werte in die Praxis umzusetzen. Während die einen den Weg der Modernisierung, verstanden als Verwestlichung und Europäisierung, fortzusetzen entschlossen waren, machten sich andere auf die Suche nach einem eigenen Weg, der der Wahrung von Tradition und Religion größeres Gewicht geben würde. In der Revolution von 1978/79 sollte diese Spannung wieder aufscheinen.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs sah Iran in einem Zustand extremer Schwäche. Die Regierung in Teheran war handlungsunfähig, das Parlament zerrissen zwischen Angehörigen widerstreitender politischer, gesellschaftlicher und weltanschaulicher Kräfte. Teile des Landes wurden von England und Russland unmittelbar kontrolliert; zugleich mischten sich diese, über ihre Parteigänger miteinander rivalisierend, in die inneren Angelegenheiten des Landes ein.