Читать книгу Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft - Udo Steinbach - Страница 32
5 Der Eintritt ins revolutionäre Jahrhundert
ОглавлениеGegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte das kritische, auf umfassende politische Reformen drängende Potential in zahlreichen nahöstlichen Gesellschaften an Breite und Dynamik gewonnen. Der Graben zwischen den progressiven Ideen auf der einen und den Herrschaftssystemen auf der anderen Seite war unübersehbar. Viele Oppositionelle hatten aus Furcht vor Verfolgung ihre Heimatländer verlassen und vornehmlich in Europa (bzw. in von europäischen Mächten kontrollierten Städten wie Kairo, Beirut oder Tiflis) Zuflucht gesucht. Von hier aus agitierten sie politisch und publizistisch gegen die Herrschaft Abdülhamits II. und Muzaffar ad-Din Schahs. Deren Legitimation war nicht nur durch die autokratische und – namentlich in Iran – korrupte Ausübung ihrer Herrschaft beschädigt; vielmehr trugen die europäischen Mächte durch anhaltend aggressives Auftreten, kriegerische Gewalt und Einmischung in die inneren Angelegenheiten aller Staaten im Nahen Osten dazu bei, das Ansehen der Herrscher in den Augen der Eliten zu unterminieren. Auch der Ausverkauf der wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Potentiale sowie die Unterwerfung unter die wirtschaftlichen Interessen der europäischen Mächte waren Gegenstand der Kritik.
Nicht zuletzt von den politischen Erschütterungen in Russland im Jahr 1905 fühlten sich die auf Veränderung drängenden Kräfte ermutigt. Unter dem Druck einer breiten Öffentlichkeit hatte die russische Regierung bereits im Dezember 1904 Zugeständnisse in Sachen der Pressefreiheit, der Selbstverwaltung und des Justizwesens machen müssen. Im Januar 1905 kam es Massendemonstrationen. Sie wurden blutig niedergeschlagen; gewalthafte Proteste und Streiks hielten aber in den folgenden Monaten an. Am 17. Oktober schließlich sah sich Zar Nikolaus II. gezwungen, ein Manifest zu unterzeichnen, das die Einführung einer Verfassung verkündete; sie wurde am 23. April 1906 erlassen.
Noch folgenreicher in seiner Ausstrahlung auf die nahöstliche Nachbarschaft Russlands war ein militärisches Ereignis. Im Zuge seiner imperialistischen Expansion an den Pazifischen Ozean und auf der Suche nach konkurrenzarmen Märkten dort war die russische Orientpolitik fast zwangsläufig auf Japan gestoßen, das seinerseits mit Blick auf Korea und an das Gelbe Meer angrenzende Gebiete Chinas imperialistische und kolonialistische Pläne verfolgte. Ohne Kriegserklärung griff die japanische Marine im Februar 1904 den russischen Hafen Port Arthur an und löste damit einen russisch-japanischen Krieg aus. Zu dem Ereignis, das den Krieg zugunsten Japans entschied, wurde die Seeschlacht bei Tsushima im Mai 1905: Die in den Pazifik entsandte russische Baltische Flotte erlitt eine vernichtende Niederlage. In dem im September geschlossenen Friedensvertrag wurden die Halbinsel Liaotung sowie die Südhälfte der Insel Sachalin an Japan übertragen und Korea japanischer Kontrolle unterstellt. Der japanische Sieg hatte nachhaltige Auswirkungen: In Russland selbst sah die Opposition gegen die Regierung darin weniger einen Sieg der Japaner als vielmehr eine Niederlage der Autokratie, was die Forderung nach einer Verfassung beflügelte. Im Vorderen Orient löste die Niederlage Russlands Begeisterung aus: In den Augen einer breiten Öffentlichkeit stand die Tatsache im Vordergrund, dass zum ersten Mal eine asiatische Macht einen militärischen Sieg über eine europäische Macht davongetragen hatte. Der Mythos der Unbesiegbarkeit Europas war beschädigt. Für die Modernisten war der japanische Sieg darüber hinaus die Bestätigung ihrer Forderung nach einer verfassungsmäßigen Ordnung: Hatte sich doch das einzige asiatische Land mit einer solchen – in Japan war 1889 eine Verfassung eingeführt worden – der einzigen europäischen Großmacht ohne eine Verfassung überlegen gezeigt. Dies gab der Euphorie Raum, Asien werde künftig in der Lage sein, dem allmächtigen Westen erfolgreich Widerstand zu leisten. Der modernistischen Bewegung insgesamt, insbesondere aber jenen in ihr, die die Einhegung der Macht des Herrschers und die Beteiligung des Volkes an der Regierung forderten, hatte ein starker Wind in die Segel geblasen. Hatte sich in Persien bislang hartnäckig die Überzeugung gehalten, Russland werde bei jedem Versuch, die bestehende Ordnung zu verändern, intervenieren, so schien nunmehr, da die russische Führung selbst mit dem Krieg und seinen innenpolitischen Folgen beschäftigt war, der Zeitpunkt gekommen zu handeln.