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5.3 Die »Jungafghanen« und die Modernisierung Afghanistans
ОглавлениеDer Auf- und Umbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der sich nach vielfältigem Vorspiel im vorangegangenen Jahrhundert in Iran und im Osmanischen Reich vollzog, war auch in Afghanistan zu spüren. Die Veränderungen dort wurden jedoch nicht in so großer Breite, Tiefe und Vielfalt wirksam wie in den beiden genannten Staaten. Die Kräfte, die in Afghanistan nach Veränderungen strebten, waren auf Teile der städtischen Elite namentlich in Kabul und Herat beschränkt. Die traditionellen gesellschaftlichen Strukturen und politischen Herrschaftsverhältnisse blieben weitgehend intakt. Sie bildeten eine starke Barriere gegen die Verbreitung »westlicher« Werte und Institutionen über weitere Teile des Landes. Gleichwohl ist auch in dem Land am Hindukusch zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Wetterleuchten einer neuen Zeit sichtbar. Erste Weichenstellungen werden vorgenommen, die als Vorspiel zu den Entwicklungen verstanden werden können, die das Land in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts genommen hat und die schließlich in eine marxistisch-leninistische Revolution, zu russisch-sowjetischer Besetzung, anschließendem Bürgerkrieg und auf seinem Boden geführten war on terrorism geführt haben.
Wie oben ausgeführt ( S. 71), lassen sich die ersten Schritte in Richtung auf an Europa orientierte Reformmaßnahmen in die Zeit der Herrschaft Schir Alis zurückverfolgen. 1873 bis 1879 erschien die erste Zeitung: Schams an-nahar (»Die Sonne des Tages«). Ansätze zu industrieller Produktion wurden unternommen. Zwischen Kabul und Peshawar wurde ein regelmäßiger Postverkehr eingerichtet; die ersten afghanischen Briefmarken kamen 1870 in Umlauf. Eine öffentliche Schule mit Kursen in englischer Sprache für Offiziere und Beamte wurde gegründet. Schir Ali führte ein neues Steuer- und Währungssystem ein. Er schuf den Vorläufer einer Regierung nach europäischem Vorbild und berief einen Staatsrat. Die besondere Aufmerksamkeit galt der Verbesserung des Zustands der Armee.
Priorität der Politik seines Nachfolgers, des Emirs Abd ar-Rahman, war es, seine Herrschaft nach innen und nach außen abzusichern. Die Zeit seiner Regierung ist gekennzeichnet durch unablässige Feldzüge gegen unbotmäßige Stämme, um die Macht der Zentralgewalt durchzusetzen und zu festigen. Ergänzt wurden sie durch einen Apparat der Repression und des Spitzelwesens, für das ihm sein Nachbar, der Emir von Buchara, wirkungsvolle Vorbilder bot. Stets musste er auch der territorialen Begehrlichkeiten Russlands gewahr sein; das hatte ein diplomatisches Schaukelspiel zwischen diesem und dem mächtigen Rivalen England zur Folge. Eine Annäherung an europäische Ideen musste unter diesen Bedingungen ein Risiko bedeuten. Wenn seine Machtausübung eines Mäntelchens der Legitimation bedurfte, setzte er eher auf die konservative Geistlichkeit. Sympathien zeigte er für den Panislamismus: In der Solidarität der islamischen Völker, die auch in Konstantinopel – nicht zuletzt bei Sultan Abdülhamit II. selbst – Fürsprecher hatte, sah er eine Stärkung seiner Bemühungen, sich des Zugriffs auswärtiger Mächte zu erwehren.
1881 kam es zu einem Vorfall, der bezeichnend war für den Umgang des Emirs mit Persönlichkeiten, von denen ihm eine Gefahr für seine Machtausübung auszugehen schien: Gemeint ist die Verbannung von Ghulam Muhammad Khan Tarzi. 1830 in Kandahar geboren, entstammte er dem angesehenen paschtunischen Clan der Mohammedzai. Im zweiten Anglo-Afghanischen Krieg hatte er sich als militärischer Führer ausgezeichnet. Zugleich machte er sich als Dichter und Philosoph über die Grenzen Afghanistans hinaus einen Namen. (Den Beinamen [nom de guerre] »Tarzi«, der »Stilbewusste«, hatte er sich selbst beigelegt.) Der Emir verdächtigte ihn der Intrige und verhängte deswegen seine Ausweisung. Er ließ sich schließlich in Istanbul nieder. Afghanistan hat er nicht wiedergesehen, auch wenn er in späteren Jahren den Kontakt mit Abd ar-Rahman wieder aufgenommen hat. Er starb 1900 in Damaskus. Mit seinem Sohn, Mahmud Tarzi, sollte eine neue Epoche in der Geistesgeschichte Afghanistans eingeleitet werden. Dieser hatte seine prägenden Einflüsse in den zwei Jahrzehnten des Exils im geistigen Milieu seiner Zeit im Osmanischen Reich erfahren.
Abb. 10: Mahmud Tarzi, Vater der geistigen und kulturellen Öffnung Afghanistans zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Aber nicht dem Panislamismus, also der Solidarität der islamischen Völker und Staaten gegen den andringenden Westen, sollte die Zukunft gehören. Die Aktivitäten al-Afghanis ( S. 91) verpufften ohne nachhaltige Wirkung. Der Nationalismus begann, die wirkmächtigste geistige und politische Kraft der Zeit zu werden. Wie unter den Eliten im Osmanischen Reich und in Iran hinterließ auch unter der schmalen geistigen Elite Afghanistans der Sieg Japans über Russland von 1905 einen starken Eindruck. Eine Gruppe kritischer Jugendlicher fühlte sich zu europäischen Ideen hingezogen. Nicht die Solidarität der islamischen Völker würde dem Land Unabhängigkeit und Entwicklung bringen. Vielmehr galt es, aus der Nation heraus die Kräfte zu mobilisieren, die das Land voranbringen und das hieß nicht zuletzt: von europäischer, also insbesondere britischer und russischer Bevormundung befreien würden. Die führenden Köpfe unter ihnen wurden – wie eben Ghulam Muhammad Khan – von Abd ar-Rahman verbannt. Von seinem Sohn und Nachfolger, Habibullah, amnestiert, kehrten sie 1902 nach Afghanistan zurück. Sein Sohn, Mahmud Beg Tarzi, sollte in dem kommenden Vierteljahrhundert für die geistige und politische Entwicklung des Landes eine bestimmende Rolle spielen.
Die Bewegung der Jungtürken, die 1908 die Wiedereinsetzung der Verfassung erzwang, war das Ergebnis eines Stromes der Erneuerung, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich an Breite gewonnen hatte. Und in Iran wurde die Verfassungsbewegung von Kräften getragen, die in dem Streben nach der Beschränkung der Macht des Herrschers und nach der Unabhängigkeit von auswärtiger Einmischung eine Grundlage gemeinsamen Handelns hatten. Auch in Afghanistan waren Impulse der Modernisierung spürbar. Sie sollten in der Person von Mahmud Beg Tarzi einen kräftigen Schub erhalten.
1865 in Ghazni geboren, hatten ihn die Jahre des osmanischen Exils geprägt, wohin sein Vater mit der Familie gezogen war. Weit gereist und vielsprachig (neben seiner Muttersprache Paschtu beherrschte er Dari, Urdu, Arabisch und Türkisch), war er mit den nationalistischen und panislamischen Ideen in Berührung gekommen, die insbesondere im Osmanischen Reich, aber auch im benachbarten Persien propagiert wurden. In Konstantinopel war er Dschamal ad-Din al-Afghani begegnet. Nach dem Tod seines Vaters folgte er der Einladung des Nachfolgers des »eisernen Emirs«, nach Afghanistan zurückzukehren. Als Beamter der Regierung war er fortan vor allem mit der Übersetzung von Texten aus europäischen Sprachen betraut. Zugleich verfasste er eigene Schriften und Dichtungen.
Mit der Herausgabe der Zeitschrift Seradsch al-akhbar (»Lampe der Nachrichten«) erreichte Mahmud Tarzi im Zeitraum zwischen 1911 und 1918 seine breiteste Ausstrahlung. Durch sie wurde er nicht nur zum Vater des Journalismus in Afghanistan; zweiwöchig erscheinend wurde die Zeitschrift das zentrale Forum der programmatischen Diskussion um die Modernisierung des Landes. Tarzi und die ihm verbundenen Jungen Afghanen gaben dem afghanischen Nationalismus seinen Inhalt. Dieser sollte zwar im Kern paschtunisch eingefärbt sein – das bezog sich nicht zuletzt auf die Landessprache. Zugleich aber überwölbte die afghanische Nationalität die zahlreichen subnationalen tribalen und ethnischen Identitäten. Das »Vaterland« (watan), die Nation (millat) und die Religion (din) waren die konstituierenden Elemente einer nationalen afghanischen Identität.
Nach der Analyse der Autoren in Seradsch al-akhbar lagen Uneinigkeit und Konflikte unter den Stämmen sowie ein falsches Verständnis von Freiheit ebenso an der Wurzel der Unterentwicklung wie eine erstarrte Interpretation des Islams.23 Nicht der Islam an sich, sondern die Muslime selbst hätten die Kraft der Religion durch Aberglauben, falsche Praxis und konservative Erstarrung zu einem Hindernis der Erneuerung gemacht. Die Autoren räumten ein, dass die Überlegenheit Europas auch durch dessen Errungenschaften auf den Gebieten der Kultur, der Wirtschaft und der Industrie begründet seien. Vor diesem Hintergrund war das Bekenntnis zur Wissenschaft eines der Leitthemen der Zeitschrift. Die Religion, wie sie von den Mullas praktiziert werde, dürfe den Weg zur Wissenschaft nicht verstellen. Andererseits dürfe auch die Wissenschaft der Religion nicht feindselig begegnen. Dass beide einander nicht ausschlössen, zeigten die Errungenschaften der islamischen Kultur in der Vergangenheit. Wissenschaft und Kenntnis, auch wenn sie von außen kämen, ließen sich mit einer neuen Interpretation des Islams vereinbaren. Diese sei die gemeinsame Aufgabe einer aufgeklärten geistlichen Führung, der afghanischen Gelehrten und der politischen Elite.
In der geistigen Öffnung zur Welt sahen die Autoren des Seradsch einen ersten Schritt der Erneuerung. Deshalb trat Mahmud Beg Tarzi nachdrücklich für das Erlernen von Fremdsprachen ein, um die grundlegenden Werke der modernen Wissenschaft, Naturwissenschaft, Medizin, Technik, Geographie, des internationalen Rechts etc. zur Kenntnis zu nehmen. Überhaupt waren Bildung und Erziehung ein weiterer Schwerpunkt des Modernisierungsprogramms Tarzis und seiner Mitstreiter. In der Veröffentlichung einer den Seradsch al-akhbar ergänzenden Zeitschrift, Seradsch al-atfal (»Die Lampe der Kinder«), suchte Mahmud der Erziehung und Bildung der afghanischen Jugend Publizität zu verschaffen; diese könne durch moderne Schulen und Curricula erreicht werden. Er selbst übersetzte – oder veranlasste ihre Übersetzung – einschlägige Werke aus europäischen Sprachen, die geeignet waren, Neugierde auf die moderne Welt außerhalb Afghanistans zu wecken.
Unermüdlich unterstrich er seine These, dass Nationalismus und Modernisierung zwei Seiten einer Medaille seien. Patriotismus sei im Islam ausdrücklich eine religiöse Pflicht. Nur durch die Erneuerung könne sich das Land gegen die äußeren Feinde behaupten bzw. von ihnen befreien, beruhe doch deren Überlegenheit auf eben den Elementen der Moderne. Zwar gehöre dazu auch eine moderne Armee. Aber richtig verstandener Patriotismus gehe über die rein physische Verteidigung hinaus: Ein wahrer Patriot fördere Lernen und Erziehung. Die elementare Voraussetzung freilich für Befreiung und Fortschritt sei die nationale Einheit.
Jenseits der Reform nach innen propagierten Tarzi und sein Kreis den Panislamismus im Sinne der Solidarität der islamischen Völker auf dem Weg zu Befreiung und Unabhängigkeit. Wie al-Afghani sahen sie im europäischen Imperialismus eine auf die Schwächung des Islams gerichtete Bewegung. Dem Bündnis zwischen dem Osmanischen Reich, Iran und Afghanistan als den letzten in der Welt unabhängig gebliebenen Völkern in der islamischen Welt maßen sie eine besondere Rolle auf deren Weg zu Befreiung und Gleichstellung mit Europa bei. Angesichts der gemeinsamen Herausforderung müsste auch die Kluft zwischen der sunnitischen und schiitischen Welt eingeebnet werden. In Verlängerung der panislamischen Vision wurde schließlich auch eine Solidarität der islamischen mit den nicht-islamischen Völkern Asiens auf dem Weg in die Unabhängigkeit angedacht.
Nach Lage der Dinge konnte der Seradsch nur eine relativ beschränkte Leserschaft erreichen. Die Sprache der Veröffentlichungen war in den meisten Fällen Persisch (in seiner afghanischen Variante), die Sprache der politischen und intellektuellen Oberschicht. Die große Mehrheit der Afghanen waren Analphabeten; einen breiten Mittelstand, der die Ideen hätte wirkungsvoll umsetzen können, gab es nicht. So setzten Tarzi und sein Kreis auf die neu entstehenden staatlichen Einrichtungen des Erziehungswesens als Foren der Verbreitung – und damit auf den Emir Habibullah. Tatsächlich stand dieser den Ideen offen gegenüber, auch wenn er in seinem politischen Handeln nur kleine Schritte unternahm. Erst gegen Ende des Ersten Weltkrieges kam es zu Spannungen zwischen ihm und den Jungafghanen, so dass die Zeitschrift Ende 1918 geschlossen werden musste.
Um das Banner Mahmud Tarzis scharte sich der Kern der Jungen Afghanen (Dschawanan-e afghan), d. h. ein Kreis junger städtischer Vornehmer und Intellektueller. Bis zum Ausbruch des Krieges diskutierten und agitierten sie öffentlich. Das änderte sich von da an. Die Entscheidung Emir Habibullahs, Afghanistan neutral zu halten – seine Gegner sahen darin eine pro-britische Einstellung –, trieb viele von ihnen in den Untergrund. Der Konflikt spitzte sich zu, als Anfang Oktober 1915 eine deutsch-türkische Mission in Kabul eintraf. Angeführt von Oskar Niedermayer und Kazim Bey sollten sie den Emir bewegen, die Briten in Indien anzugreifen, um deren Kräfte dort zu binden. In Kabul bildete sich nunmehr die »Kriegspartei«: Sie bestand aus den Jungafghanen (darunter Tarzi und Amanullah, der spätere König) sowie aus konservativen antibritischen und protürkischen Gruppen und der Mehrheit der Geistlichkeit. Für die Neutralität bzw. Parteinahme für die Briten traten demgegenüber neben dem Emir selbst, sein Halbbruder Inayatullah und führende Persönlichkeiten der Regierung ein. Die Spannungen zwischen den Jungafghanen und dem Emir stiegen, als diese ihn in einem Brief aufforderten, mit den Briten zu brechen und Reformen einzuleiten. Ein Attentatsversuch auf den Emir führte 1918 zum offenen Bruch: Sein Urheber war ein Student am Habibiya Kolleg, der von Emir Habibullah 1905 gegründeten höheren Schule des Landes, an dem die Jungafghanen einen starken Einfluss ausübten.
Tatsächlich hatte Tarzis Agenda der Modernisierung nach Lage der Dinge zunächst auf tiefsitzende Vorbehalte, ja hartnäckigen Widerstand stoßen müssen. Den nicht-paschtunischen Teilen der Gesellschaft gegenüber galt es, den Verdacht abzubauen, sein afghanischer Nationalismus verschleiere nur die Entschlossenheit, die Dominanz der Paschtunen weiter zu festigen. Der Emir musste überzeugt werden, dass wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen nicht die Schwächung seiner Herrschaft, ja die Stärkung auswärtigen Einflusses bedeuten, sondern dass vielmehr die Stellung der Zentralgewalt gefestigt würde. Der sunnitischen Geistlichkeit galt es zu vermitteln, dass Modernisierung und Säkularisierung keinen Angriff gegen den Islam darstellten. Im Falle der Schiiten musste der Argwohn überwunden werden, dass damit nicht eine weitere Schwächung ihrer ohnehin nicht starken gesellschaftlichen Stellung verbunden sei. Und den Stammesführern schließlich galt es zu vermitteln, dass die Modernisierung nicht ihre Stellung unterminieren und ein Ende der überkommenen Stammestraditionen einleiten würde.
Außenpolitisch waren die Reformen Teil der Bestrebungen, die Unabhängigkeit zu erringen. Die Anfänge des jungafghanischen Erwachens waren in die Jahre nach dem Abschluss des Abkommens von Gandamak (1879, S. 72) gefallen; in ihm hatte Afghanistan praktisch seine Eigenständigkeit in außenpolitischen Entscheidungen an England abgegeben. 1893 hatte Emir Abd ar-Rahman die Durand-Linie anerkennen müssen und damit die von Paschtunen bewohnten Gebiete östlich von dieser an Britisch-Indien verloren.
Emir Habibullah war bemüht gewesen, Afghanistan aus dem Ersten Weltkrieg herauszuhalten. Über die Spannungen zu den Jungafghanen, die für ein militärisches Eingreifen aufseiten des Osmanischen Reichs gegen England eingetreten waren, ist vorstehend berichtet worden. Zu den einflussreichsten unter ihnen gehörten Amanullah (1892–1960), ein Sohn des Emirs, und Mahmud Tarzi. Ende 1918 hatte Seradsch al-akhbar sein Erscheinen eingestellt. Am 12. Februar 1919 wurde Habibullah bei einem Jagdausflug ermordet. Unter den Spekulationen über die Hintergründe der Tat brachte eine Variante Amanullah mit ihr in Verbindung. Nach einem kurzen Machtkampf mit seinem Onkel Nasrallah, dem Bruder des Ermordeten, wurde Amanullah am 27. Februar 1919 zum neuen Herrscher gekrönt. Für Tarzi sollte sich damit ein Tor öffnen, seine Ideen und die seines jungafghanischen Kreises in Politik und Gesellschaft umfassend umzusetzen. Im April wurde er zum Außenminister ernannte. Bereits zuvor hatte der neue Herrscher Soraya, eine Tochter Tarzis, geehelicht.
Abb. 11: Amanullah Schahs politische und gesellschaftliche Reformen scheiterten im konservativen Milieu von Stammesführern und Mullas.
Sei es, um den dunklen Schatten über seinem Machtantritt zu zerstreuen, sei es unter dem Druck antibritischer Kräfte, die nunmehr zum Zuge kamen, rief Amanullah zum dschihad gegen die Briten auf: Dieser Kampf sei nicht nur Angelegenheit der Afghanen, sondern aller Muslime Südasiens. Der Dritte afghanisch-britische Krieg, der am 3. Mai 1919 begann, sollte nur von kurzer Dauer sein. Zwar errangen die Briten unschwer die militärische Oberhand. Politische Unruhen in Indien aber und – eine Folge des Ersten Weltkriegs – die Kriegsmüdigkeit und wirtschaftliche Schwäche in England ließen die Kämpfe bald in Friedensverhandlungen übergehen. Der Friede von Rawalpindi im August 1919 brachte dem Land die Souveränität; zwei Jahre später bestätigten England und Russland im Vertrag von Kabul die vollständige Unabhängigkeit Afghanistans. Nach vierzigjähriger Abhängigkeit von England wurde das Land wieder zu einem selbstständigen Staat. Dies schloss auch die Eigenständigkeit außenpolitischer Entscheidungen und sowie das Recht ein, mit anderen Ländern in zwischenstaatliche Beziehungen zu treten. Der neue Titel des Staatsoberhaupts wurde »Padischah« (König). Ein Schatten freilich sollte über dem Abkommen liegen: Amanullah musste die Durand-Linie als Grenze anerkennen.
Mit der Selbstständigkeit trat Afghanistan in die Neuzeit ein. Die Modernisierung von Staat und Gesellschaft wurde zur Herausforderung an die politischen und geistigen Eliten, die sich langsam zu verbreitern begannen. In diesem Prozess sollte der Zusammenstoß von überkommenen Traditionen der Stämme mit den Erfordernissen eines modernen Staates eine schicksalhafte Dimension erhalten. Er gestaltete sich umso komplizierter, als die Interessen der Nachbarn im Norden und Westen sowie – nach dem Rückzug Großbritanniens aus Indien (1946) – im Osten nicht zuletzt auf dem Staatsgebiet Afghanistans ausgetragen werden sollten, eines Landes also, das im 19. Jahrhundert als »Pufferstaat« entstanden war.
Zumindest über das Jahrzehnt der Herrschaft König Amanullahs hat sich die Entwicklung Afghanistans mit denen in der Türkei und Iran eng berührt. Im Unterschied freilich zu diesen beiden Ländern, die nach dem Ersten Weltkrieg tiefgreifende und nachhaltige Modernisierungsschübe erfuhren, blieb die politische, gesellschaftliche und geistig-kulturelle Umgestaltung Afghanistans zunächst eine kurze Episode. Sie war auf die Herrschaft Amanullahs beschränkt. Nach seiner Flucht ins Exil (1929) blieb das Land zwar mit seinen Nachbarn in Kontakt und in einigen Bereichen waren Impulse selektiver Erneuerung wirksam. Doch waren diese eher lokal und oberflächlich: An der überlieferten Gesellschaftsordnung, die vor allem die paschtunischen Stämme seit eh und je geprägt hatte, änderte sich wenig.
Amanullah hatte den Briten die vollständige Souveränität des Landes abgetrotzt. Damit hatte die schmale Schicht nationalistisch denkender Erneuerer ein erstes wichtiges – nach außen gerichtetes – Etappenziel erreicht. Daran sollte sich die innere Umgestaltung anschließen. Ihr sollten wesentlich jene Ideen zugrunde liegen, die unter den Jungen Afghanen diskutiert und über ein Jahrzehnt in der »Laterne der Nachrichten« verbreitet worden waren. Es verwundert deshalb nicht, dass Mahmud Beg Tarzi bei der anstehenden Umgestaltung eine erhebliche Rolle zukommen sollte. Er wurde ein enger Berater Amanullahs und diente ihm zwischen 1919 und 1928 mehrfach als Außenminister sowie als Botschafter in London und Paris. Seine Tochter Soraya wurde nicht nur Ehefrau Amanullahs, sondern engagierte sich – namentlich mit Blick auf die Stellung der Frauen – auch gesellschaftspolitisch.
Kernstück der zahlreichen Reformansätze Amanullahs war die Verkündung einer Verfassung im April 1923. Nach dem Vorbild der laizistischen Türkei unter Mustafa Kemal sah Amanullah seine Herrschaft nicht durch göttlichen Willen oder seine Abstammung, sondern allein durch den Willen der »ehrenwerten Nation Afghanistans« legitimiert. Eckpunkte der Verfassung waren die Festschreibung von Bürgerrechten, das Verbot der Sklaverei, die Einberufung einer Nationalversammlung (Schura-ye milli) und die Einführung der Schulpflicht. An vielen Punkten haben sich die Reformen Amanullahs (inspiriert von Tarzi) an seinen Zeitgenossen Atatürk und Reza Schah orientiert. Das gilt nicht zuletzt für die Stellung der Frauen in der Gesellschaft. Im ganzen Land wurden Schulen auch für Mädchen gegründet; junge Afghaninnen wurden zum Studium in die Türkei geschickt. Die Verschleierung wurde zwar nicht verboten und es kam auch nicht zu radikalen Übergriffen seitens der Behörden wie in der Türkei und Iran. Aber das Gebot, den Schleier in der Öffentlichkeit zu tragen, wurde aufgehoben. Reformen im Rechtswesen waren darauf gerichtet, dieses zu säkularisieren und den Einfluss der Geistlichkeit zurückzudrängen; auch wurde ihr die Kontrolle über die religiösen Stiftungen vom Staat genommen.
Es war unvermeidlich, dass die Neuerungen Widerstände hervorriefen. Nicht nur der Geistlichkeit waren Privilegien entzogen worden; die paschtunischen Stammesführer sahen sich durch Eingriffe in die Bodenbesitzverhältnisse geschädigt. Gesetze zur Land- und Viehbesteuerung trafen die Bauern hart. Proteste und Aufstände wurden mit harter Hand niedergeschlagen. Neuerlicher Widerstand erhob sich, als sich Amanullah 1927/28 auf eine Europareise begab. Sie führte ihn über Indien und Ägypten nach Italien, Frankreich, Deutschland, England, die Sowjetunion und zurück über die Türkei und Iran. In Europa stieß der orientalische Herrscher auf großes Interesse. Dort wurden seine Reformen mit Beifall aufgenommen. Das freilich beeindruckte die Opposition im eigenen Lande keineswegs. Dass seine Frau ihren Gatten unverschleiert begleitete, erregte vielmehr Proteste. Auch wurde daheim kolportiert, Amanullah nehme Alkohol zu sich und esse Schweinefleisch, ja, er sei nach einer Audienz beim Papst zum Christentum übergetreten. Den König aber befeuerte die Reise nur in seiner Entschlossenheit zu weiteren Reformen. Auf einer im August 1928 einberufenen loya jirga, der traditionellen Versammlung der Stämme, setzte er weitere Reformen durch: Sie betrafen unter anderem das Tragen westlicher Kleidung, die allgemeine Schulpflicht und die Polygamie.
Die Erhebung des paschtunischen Stammes der Schinwari 1929 war das Fanal für einen Volksaufstand, der im Sturz des Königs endete. Der Abfall weiter Teile der Gesellschaft ließ erkennen, wie schmal seine Machtbasis gewesen war. Die europäisch inspirierten und von oben durchgesetzten Reformen hatten außerhalb von Kabul keine positive Resonanz gefunden. Die Armee befand sich noch im Aufbau und konnte – anders als in der Türkei Atatürks und dem Iran Reza Schahs – den Herrscher nicht stützen. Die Maßnahmen, welche die Zentralgewalt hatten stärken und das Stammeswesen schwächen sollen, provozierten die Stämme und Ethnien. Hinzu kam die Geistlichkeit: Sie opponierte nicht nur gegen die »westlichen« Einflüsse; sie sah auch ihre Stellung in der afghanischen Gesellschaft bedroht. Amanullah stand ihr für den Inbegriff des fehlgeleiteten Herrschers, der seinem Anspruch als »Hüter der Religion« nicht gerecht wurde.
Die Berater des Königs, so namentlich auch Mahmud Beg Tarzi, hatten die Stimmung in der Gesellschaft falsch eingeschätzt. Letzterer freilich hat sich mit den Jahren politisch vom König zu distanzieren gesucht: dies wohl in der – auch in seinen Veröffentlichungen geäußerten – Erkenntnis, dass Reformen, deren Inspiration wesentlich aus Europa stammten, den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten im Lande würden Rechnung zu tragen haben. Folgerichtig ging er nach der Flucht des Königs (von der unten zu sprechen sein wird, S. 234) nach Istanbul ins Exil – in jene Stadt, in der er seit den Tagen der Jungtürken so viele Inspirationen erhalten hatte. Dort ist er 1933 gestorben.
Seine Ideen haben ihn überlebt. Die Bewegung der Wesh zalmayan, der »Erwachten Jugend«, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestrebt war, die politischen Institutionen des Landes unter den Vorzeichen von Demokratisierung und bürgerlichen, ja sozialen Rechten zu verändern, ist ohne die Inspirationen Tarzis nicht denkbar ( S. 237). Und ein halbes Jahrhundert später sollte den stürmischen Reformen der Kommunistischen Partei und ihrer Protagonisten in Kabul ein noch dramatischeres Scheitern beschieden sein als König Amanullah. Ende des Jahres 1979 intervenierten sowjetische Truppen, um das Regime der Kommunistischen Partei zu retten.
Die revolutionären Ereignisse in Iran, dem Osmanischen Reich und – mit Abstrichen – in Afghanistan zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben ein doppeltes Gesicht: Auf der einen Seite knüpfen sie an die Prozesse des Aufbruchs und der Modernisierung in den vergangenen Jahrzehnten an. In ihnen scheint der Gordische Knoten aus ungelösten sozialen Spannungen, fragwürdig werdender Herrschaftslegitimation, widersprüchlichen Konzepten kultureller Erneuerung und antiimperialistischen Reflexen durchschlagen zu sein. Das Licht aber, das aufzugehen scheint, kommt über eine Morgenröte nicht hinaus. Es kündigt eine neue Ära an, der neue Tag jedoch lässt auf sich warten. Die inneren und äußeren Widerstände sind zu stark, um diese revolutionären Ereignisse zu wirklichen Zäsuren in der Geschichte der Länder werden zu lassen.
Gleichwohl weisen sie in die Zukunft. Es zeichnet sich ab, dass die Welt des alten Vorderen Orients im Untergang befindlich ist. Das gilt für die Herrscher und Dynastien, die Konzepte und Konstrukte, mit denen sie ihre Herrschaft gerechtfertigt haben, die Eliten, auf die sie ihre Herrschaft gestützt haben, die gesellschaftlichen Strukturen und Schichtungen derer, die ihre Untertanen waren, und auch für die Kultur, die, stark religiös unterfüttert, den Zusammenhalt von Herrscher und Beherrschten sicherstellte. Ein neuer Weg tut sich auf, andere Wegmarken sind erkennbar. Sie weisen nicht nur auf veränderte innere Ordnungen: Das Ende des osmanischen Vielvölkerstaats, dessen Zerfall sich unter den europäischen Untertanen des Sultans/Kalifen bereits seit einhundert Jahren vollzog, würde auch im Vorderen Orient eine neue politische Landkarte entstehen lassen. Und schließlich war in den Umbrüchen zugleich auch ein Streben nach Emanzipation aus überkommenen äußeren Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen offenkundig. Vor diesem Hintergrund würde es nach Lage der Dinge ein langer Weg sein – und auch kein gerader Weg, sondern eine Strecke voller Umwege. Am Ende des 20. Jahrhunderts werden neue Revolutionen, Revolten, Staatsstreiche und Gewaltakte stehen, die Verheißungen, die zu seinem Beginn gegeben zu sein schienen, endlich einzulösen.