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3.3 Afghanistan – ein junger Staat gewinnt Konturen

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Dass das Land, das seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts den Namen »Afghanistan« trägt, durch die Geschichte in vielfältiger Weise mit Persien verbunden war, ist oben angedeutet worden. Das gilt auch für die neuere Epoche, die mit dem 19. Jahrhundert beginnt. Wiederholt haben die Herrscher in Teheran versucht, die westafghanische Stadt Herat unter ihre Gewalt zu bringen. Das hatte die um Persien rivalisierenden Mächte auf den Plan gerufen: Russland unterstützte Persiens Ansprüche auf die Stadt – zum einen um seine Position in Teheran zu festigen, zum anderen um Englands Stellung in Afghanistan, die als Bedrohung russischer Interessen in Zentralasien gesehen wurde, zu schwächen. Eben deshalb aber konnte England – bzw. die British East India Company – diesen Anspruch Persiens nicht hinnehmen. Eine Konfliktkonstellation baute sich auf, die die dramatische Bezeichnung des great game erhalten sollte. Das Ergebnis dieses »Spiels« sollte zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Staat Afghanistan sein. Seine Eigenschaft als Puffer zwischen den Mächten an seinen Grenzen hat Afghanistan bis in die Gegenwart nicht verloren. Die sowjetische Invasion in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat diesen Tatbestand einmal mehr augenfällig werden lassen.

Mit dem Vordringen russischer Truppen im Kaukasus im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und dem wachsenden Einfluss Russlands in Persien waren sich russische und britische Einfluss- und Herrschaftszonen immer nähergekommen. 1836 ermächtigte die Regierung in London den britischen Generalgouverneur in Indien, nach eigenem Ermessen zu entscheiden, auf welche Weise der russischen Bedrohung zu begegnen sei. Dieser hegte keinen Zweifel, dass Russlands Vormarsch nur abgewehrt werden könne, wenn Afghanistan unter britische Kontrolle geriete. Als sich Schah Dost Mohammed weigerte, der Forderung nachzugeben, die persischen und russischen Gesandten aus Kabul auszuweisen, erklärten die Briten ihn für abgesetzt und erhoben Schah Schodscha, einen Sohn des 1793 verstorbenen Schah Timur, der sich im indischen Exil aufhielt, zum »rechtmäßigen Herrscher Afghanistans«.

Im Dezember 1838 brach die sogenannte (britische) Indus-Armee in der Stärke von 20 000 Soldaten, 38 000 Trossangehörigen und 30 000 Kamelen auf. Ohne nennenswerte Gegenwehr erreichte sie am 7. August 1839 Kabul; Dost Mohammed floh über den Hindukusch nach Norden, während Schah Schodscha in Kabul den Thron bestieg (auf dem er von 1803 bis 1809 bereits einmal gesessen hatte). Die Ruhe erwies sich freilich als trügerisch. Unter Führung Mohammed Akbars, eines Sohnes Dost Mohammeds, erhob sich gegen Ende 1841 ein breiter bewaffneter Widerstand. Die Briten sahen sich zum Rückzug gezwungen. Bei eisiger Kälte setzte sich am 6. Januar 1842 ein Zug in Marsch, der aus nur noch 4500 Soldaten und 12 000 Trossangehörigen, darunter Frauen und Kindern, bestand. Nur ein Einziger von ihnen, ein Truppenarzt, erreichte am 13. Januar das rettende Dschalalabad – der restliche Zug war von angreifenden Afghanen getötet worden oder der Kälte erlegen. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit der Briten war zerstört. Daran konnte auch eine Strafexpedition nichts ändern, in deren Verlauf ein Massaker an Zivilisten verübt und Teile von Kabul zerstört wurden. Nach der Ermordung Schah Schodschas im April 1842 und internen Machtkämpfen brachten die Briten Dost Mohammed wieder zurück auf den Kabuler Thron. In den 1850er Jahren dehnten sie ihr Herrschaftsgebiet auf das gesamte Territorium östlich und südlich der heutigen Grenze Afghanistans mit Pakistan aus. Afghanistan wurde zu einer Pufferzone, die sich zwischen dem russischen und dem britischen Imperium erstreckte.

1863 starb Dost Mohammed. Wieder brachen die üblichen Wirren und Kämpfe um die Nachfolge aus. Aus ihnen ging sein Sohn Schir Ali (reg. 1863–1866 und 1869–1879) als Sieger hervor. Unter seiner Herrschaft wurden erste Schritte einer inneren Modernisierung Afghanistans unternommen. Ein Kabinett nach europäischem Vorbild übernahm die Verwaltung; die Erneuerung im Militärwesen hatte das Ziel, Stammesloyalitäten durch zentralstaatliche Befehlsstrukturen zu ersetzen. Neben einer Militärakademie entstand eine zivile Schule für Angehörige der Stammesaristokratie. Das Steuersystem wurde von Naturalien auf Geldwirtschaft umgestellt. Auch erschien eine erste Monatszeitschrift, die »Sonne des Tages« (Schams an- nahar). Britische Subventionen und Waffenlieferungen hatten ihren Anteil daran, dass die Herrschaft relativ gefestigt war. Sie waren zugleich ein Instrument anhaltender britischer Einflussnahme.

Diese allerdings erschien aus britischer Sicht unerlässlich. Denn Russlands Vormarsch in Mittelasien hielt unvermindert an. So hatte das Zarenreich 1860 Taschkent und 1868 Samarkand erobert sowie das Khanat von Buchara in seine Abhängigkeit gebracht; nunmehr bedrohten sie die Turkmenen in Merw. Das Klima zwischen England und Schir Ali verschlechterte sich, als dieser Anstalten machte, sich Russland anzunähern. Seine Weigerung, der Entsendung einer ständigen britischen Mission nach Kabul zuzustimmen, wurde Anlass eines zweiten britisch-afghanischen Krieges. Im November 1878 begannen die Briten ihren Vormarsch. Schir Ali floh aus Kabul und starb kurz danach am 21. Februar 1879 in Mazar-e Scharif. Sein Nachfolger konnte das britische Vordringen stoppen, indem er im Vertrag von Gandamak am 26. Mai 1879 allen Forderungen der Briten nachgab; sie betrafen nichts Geringeres als die Kontrolle über die Außenpolitik Afghanistans. Bald freilich schien sich das Szenario des ersten britisch-afghanischen Krieges zu wiederholen. Denn am 3. September wurden die Angehörigen der britischen Mission, die Ende Juli in Kabul eingezogen war, ermordet. Zwar gelang es einer neuerlichen britischen Militärmission bereits im Oktober, Kabul zu besetzen, doch sahen sie sich in den folgenden Monaten einem breiten militärischen Widerstand gegenüber. Britische Truppen entgingen nur knapp der völligen Vernichtung. Und noch am 27. Juli 1880 erlitten sie in der für Afghanen denkwürdigen Schlacht von Maiwand eine Niederlage. Kandahar wurde belagert. Erst nach der Entsendung eines Entsatzheeres konnte der Aufstand unterdrückt werden.

Mit der Proklamation von Abd ar-Rahman Khan, einem Enkel Dost Mohammeds, im Juli 1880 als Emir »Afghanistans« glaubten die Briten, eine ihren Interessen gefügige Marionette in der Hand zu haben. Tatsächlich hatte dieser zuvor den Verzicht auf Herat und Kandahar sowie auf eine eigenständige Außenpolitik (außer mit Großbritannien) bestätigt. Damit hatte er den Status seines Herrschaftsgebiets als halbautonomes Protektorat anerkannt. Im Gegenzug erreichte er den völligen Abzug britischer Diplomaten und Truppen aus Kabul. Zu diesem Zeitpunkt bestanden auf dem Gebiet Afghanistans drei Machtzentren: Neben Kabul waren dies Herat, das sich Ayub Khan, der zweite Sohn Schir Alis, von Persien aus unterworfen hatte, und Kandahar, wo die Briten das Sagen hatten.

In den zwei Jahrzehnten seiner Herrschaft gelang es Abd ar-Rahman, Afghanistan von einem lockeren Gefüge von Stämmen und einem Kaleidoskop ständig wechselnder Herrschaften von Stammesführern zu einem Staat im modernen Sinn zu machen. Nachdem das britische Parlament bereits 1891 beschlossen hatte, die Herrschaft über Kandahar zu beenden und das Gebiet Abd ar-Rahman zu übertragen, bedurfte es nur noch eines militärischen Vorstoßes, um Ayub Khan aus Herat zu vertreiben. In zahlreichen weiteren Feldzügen unterwarf er unbotmäßige Stämme, wehrte Ansprüche von Prätendenten ab und sicherte die Grenzgebiete für den neuen Staat – so 1895/96 das abgelegene Kafiristan an der südlichen Abdachung des Hindukusch. Eine Politik der Paschtunisierung, d. h. vor allem der Ansiedlung von Paschtunen außerhalb ihres eigentlichen Siedlungsgebiets, ging nicht zuletzt zu Lasten der – schiitischen – Hazara. Die Stärkung der Stellung der politischen Führung wurde auch gegen die islamische Geistlichkeit durchgesetzt: Indem er das Stiftungsland konfiszierte, diese zu staatlichen Angestellten machte und eine Vereinheitlichung der Schari’a-Gerichte durchsetzte, nahm er ihr die Selbstständigkeit. Er kompensierte diese Maßnahmen, indem er seiner Herrschaft eine religiöse Legitimation zuschrieb. Der Islam wurde zur Staatsreligion erhoben – ein weiterer Schritt in Richtung auf einen zentralisierten modernen Staat.

Während Abd ar-Rahman nach innen den Staat konsolidierte (und dafür erhebliche materielle Zuwendungen aus London erhielt), spielten die Akteure des great game ihre Partie zu Ende – mit dauerhaft schwerwiegenden Folgen für die regionale Stabilität in späteren Jahrzehnten. Drei Jahre nach der russischen Einnahme von Merv (1884) steckte eine russisch-britische Kommission die afghanische Nordgrenze ab. 1895 wurde der Amu-Darya als Staatsgrenze zwischen dem russischen Protektorat Bukhara und dem Nordosten Afghanistans festgelegt. Im Pamir Abkommen (1893) hatte Afghanistan zuvor mit dem Wakhan-Korridor eine Verbindung zu China erhalten. Im Britisch-russischen Abkommen von St. Petersburg 1907 wurden die Grenzziehungen bestätigt. Wie in zahlreichen anderen Fällen – nach dem Ersten Weltkrieg sollte dies besonders auch für den arabischen Nahen Osten gelten – wurde ausschließlich gemäß den Interessen der Kolonialmächte entschieden: Die russisch-britischen Abmachungen über die Nordgrenze Afghanistans durchschnitten die Siedlungsgebiete der Usbeken und Turkmenen.

Langfristig am folgenreichsten für die Geschicke Afghanistans war die Festlegung seiner Grenze zu den britisch beherrschten Gebieten im Nordwesten des indischen Subkontinents. 1893 wurde sie unter der Federführung Henry Mortimer Durands, des Außenministers der britisch-indischen Verwaltung, mit dem Emir Abd ar-Rahman »einvernehmlich« (doch ohne realistische Chance der Mitbestimmung der afghanischen Seite) vereinbart. Diese sogenannte Durand-Linie zog sich quer durch die Siedlungsgebiete vornehmlich der Paschtunen und Belutschen. Stämme wurden entzweit, hunderte Dörfer voneinander getrennt. Etwa ein Drittel des afghanischen Gebiets fiel an die Briten. Zum Gegenstand eines politischen Dauerkonflikts sollte das Gebiet mit der Staatsgründung Pakistans im Jahr 1947 werden. Die paschtunischen Gebiete wurden nun als Northwest Frontier Province mit der Hauptstadt Peschawar von Islamabad verwaltet. Paschtunen fanden sich auf beiden Seiten der Staatengrenze. Zwar erklärte die afghanische loya jirga 1949 die Durand-Linie für ungültig, da das ursprüngliche Abkommen mit den Briten und nicht mit der pakistanischen Regierung geschlossen worden sei. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass diese als de-facto-Grenze zwischen beiden Staaten Bestand hatte. Sie hat die politischen Beziehungen zwischen Afghanistan und Pakistan von Beginn an konflikthaft gestaltet: Kabul und Islamabad instrumentalisierten die »Paschtunistan-Frage« in der Absicht, ihren Nachbarn zu schwächen und zu destabilisieren. Im Kontext des Antiterrorkampfes nach den Anschlägen vom 11. September 2001 bewegten sich Taliban-Kämpfer und al-Qa’ida-Anhänger zeitweise weitgehend ungehindert über die Grenze und suchten Schutz in den autonomen Paschtunengebieten in Pakistan.

Ohne die üblichen Thronstreitigkeiten übernahm Abd ar-Rahmans Sohn Habibullah nach dem Tod seines Vaters 1901 die Herrschaft über das mit der Faust des »eisernen Emirs« befriedete Land. In der Innenpolitik gewannen die traditionellen Führer einen Teil ihrer überkommenen Rechte zurück und nahmen wieder Einfluss auf die staatliche Politik. Eine Generalamnestie öffnete jenen den Weg zur Rückkehr, die unter Abd ar-Rahman das Land verlassen hatten. Dazu gehörte auch die Familie des Reformers Mahmud Tarzi, über den noch ausführlicher zu sprechen sein wird ( S. 121). Im Ersten Weltkrieg wahrte er die Neutralität des Landes – trotz des Drucks eines Teils der Stämme und der nationalistischen geistigen Elite, dem Aufruf des osmanischen Kalifen zu folgen, den dschihad ( S. 147) gegen das »ungläubige« Britisch-Indien zu führen. Auch das mit dem Osmanischen Reich verbündete Deutschland war bemüht, den afghanischen Emir auf die Seite der Achsenmächte zu ziehen. Die Missionen, die sich mit den Namen Oskar Ritter von Niedermayer und Werner Otto von Hentig verbinden, sollten die afghanischen Stämme zu einer allgemeinen Erhebung gegen die britischen Kolonialherren anstacheln. Zwar führte Habibullah Verhandlungen mit den Deutschen, ließ sich aber nicht zum Kriegseintritt an der Seite der Deutschen verleiten. Immerhin brachte der im Januar 1916 ausgehandelte deutsch-afghanische Vertrag dem Emir einen wichtigen politischen Erfolg: die Anerkennung der Unabhängigkeit seines Landes durch eine europäische Großmacht. Im Februar 1919 wurde Habibullah ermordet.

Wie angedeutet, waren unter Schir Ali erste Reformen in der Verwaltung und im Bildungssystem unternommen worden. Abd ar-Rahman hatte sich demgegenüber auf die Festigung seiner Macht und den inneren Zusammenhalt des von Stammesstrukturen geprägten Landes konzentriert. Demgegenüber öffnete sein Sohn Habibullah das Land den Reformbestrebungen, wie sie in Persien, vor allem aber im Osmanischen Reich in Gang gesetzt worden waren. Unter der Jugend erstarkten nationalistische Strömungen. Jungtürkische Einflüsse wirkten ansteckend auf eine Gruppe jugendlicher Intellektueller, die sich als »Jungafghanen« bezeichneten. Sie scharten sich um die Zeitung Seradsch al-akhbar, die von Mahmud Tarzi herausgegeben wurde. Afghanistan trat in eine Epoche des Umbruchs ein, der ab 1919 in König Amanullah, einem Sohn Habibullahs, seinen Protagonisten finden sollte.

Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft

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