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3.1 Der »kranke Mann« am Bosporus

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Mit dem syrischen Feldzug Mehmet Alis hatte ein Vasall des Sultans die Existenz des Osmanischen Reichs insgesamt bedroht. Es hatte der Intervention europäischer Mächte bedurft, das Reich zu erhalten. Tatsächlich war es neben der europäischen Pentarchie – also England, Frankreich, Österreich-Habsburg, Russland und Preußen – ein weiterer Spieler im Konzert der Mächte geworden. Auf dem Pariser Kongress waren nicht nur die territoriale Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit des Reichs garantiert worden. Bestätigt wurde zugleich, dass jeder Akt und jedes Ereignis, das dessen Integrität in Frage stellte, als Angelegenheit von europäischem Interesse betrachtet würde. Und auf dem Berliner Kongress waren die Vertreter der Hohen Pforte als »Teilnehmer des europäischen Rechts und Konzerts« anerkannt.

So stand die osmanische Staatsführung unter Druck, Staat und Gesellschaft zu reformieren, was nach Lage der Dinge wesentlich bedeutete, europäischen Vorstellungen bezüglich der Institutionen des Staates und der Rechte der Bürger entgegen zu kommen. Deshalb war der Zeitpunkt der Verkündung des ersten großen Reformedikts, des »hohen Sendschreibens« (Hatt-ı şerif), durch Sultan Abdülmecit (reg. 1839–1861) am 3. November 1839 kein Zufall: Es war der Vorabend des gemeinsamen britisch-osmanischen Drucks auf Ägypten, die Truppen aus Syrien zurückzuziehen. Adressaten waren also wesentlich die europäischen Mächte; das Osmanische Reich präsentierte sich als würdiger Bündnispartner.

Mit der Verlesung des »hohen Sendschreibens« von Gülhane leitete der Sultan die Epoche der Tanzimat-i Hayriyye (»Wohltätige Verordnungen«) ein; sie gaben den folgenden Jahrzehnten als der Tanzimat-Epoche ihren Namen. Begonnen hatte der Reformprozess bereits Jahrzehnte zuvor. Die territorialen Verluste an die europäischen Mächte, insbesondere an Russland, sowie die nationalistischen Bestrebungen der zumeist christlichen Völker auf dem Balkan, deren Aufstände von Fall zu Fall von europäischen Mächten unterstützt wurden und zunächst in der Unabhängigkeit Griechenlands (1829) gipfelten, machten Reformen namentlich des Militärwesens erforderlich. Zusätzlicher Druck ging von den Wellen aus, die die Französische Revolution 1789 schlug und deren Ausläufer auch in Konstantinopel gespürt wurden. 1791/92 hatte Selim III. (reg. 1789–1807) bei hohen Würdenträgern in Konstantinopel Expertisen über die Ursache der Schwäche des Reichs und die Wege zu seiner Stärkung angefordert. Wenn auch das Militärwesen im Fokus der Reformüberlegungen stand, so wurden doch darüber hinausgehend die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Parameter deutlich, entlang derer sich die Diskussion um die Reform und die Modernisierung des islamisch geprägten Vorderen Orients in Zukunft bewegen sollte: der konservative Glaube an die Wiederherstellung »goldener Zeitalter«, reformerische Anpassung an die Bedingungen einer sich wandelnden Welt bei möglichst weitgehender Wahrung der eigenen Identität sowie schließlich die radikale Neuerung unter dem Banner eines universalen Fortschritts.

Das Militärwesen betreffend, entschied sich Sultan Selim für eine radikale Erneuerung. Wie später sein Nachfolger, Sultan Mahmud II. (reg. 1808–1839), und wie fast zeitgleich Mehmet Ali in Ägypten entschied sich Selim für eine tiefgreifende Reorganisation des Heerwesens. Im Mittelpunkt einer Reihe von Erlassen, die schon bald als die »neue Ordnung« (Nizam-i dschadid) bezeichnet wurden, stand die Aufstellung einer neuen Infanterie, die nach europäischem Muster ausgebildet und ausgerüstet wurde; europäische Offiziere traten als Militärberater in den Dienst des Sultans. Der Widerstand, namentlich aus dem Kreis der Janitscharen, die dabei waren, ihre privilegierte Stellung in den militärischen und politischen Institutionen des Reichs zu verlieren, war enorm. 1807 meuterten sie und zwangen den Sultan zum Rücktritt. Erst unter seinem Nachfolger freilich konnten die Reste der überkommenen Janitscharen-Truppe gewaltsam vernichtet werden (1826; in Kairo war Ähnliches bereits 1822 ins Werk gesetzt worden). Osmanische Kadetten und Studenten wurden nach Europa geschickt. Ein militärisches Sanitätswesen wurde ebenso aufgebaut wie eine Militärakademie nach dem französischen Vorbild von St. Cyr. Aus den Reihen des 1833 gegründeten Übersetzungsdienstes der Hohen Pforte und des diplomatischen Dienstes sollten Reformer hervorgehen, die das Reich in den folgenden Jahrzehnten zu erneuern bemüht waren.

Das war der innenpolitische Hintergrund, vor dem am 3. November 1839 Sultan Abdülmecit sein Reformedikt verkündete. Tatsächlich enthielt es Bestimmungen, die das Reich bis in seinen Kern verwandelten. Die revolutionärste Aussage – die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution war nicht zu verkennen – war das Postulat der Gleichheit aller vor dem Gesetz, d. h. die Gleichstellung von Muslimen und Nicht-Muslimen. Andere Bestimmungen betrafen die Sicherheit des Lebens, den Schutz der Ehre und des Vermögens, die Festlegung der Steuern, die Aushebung der Truppen und die Dauer des Militärdienstes. In den folgenden Jahren wurden mit einer Neuordnung der Verwaltung und des Straf- sowie des Handelsrechts weitere Reformschritte unternommen.

Am 18. Februar 1856 erließ der Sultan ein neuerliches »Majestätisches Handschreiben« (Hatt-ı humayun). Darin wurden die Grundlagen des Hatt-ı şerif bestätigt und die Gleichheit aller »Osmanen« noch deutlicher unterstrichen. Am Vorabend der Pariser Konferenz, die den Krimkrieg beendete, sollte den europäischen Mächten abermals ein Signal für den Reformwillen des Reichs gegeben werden. In Artikel 9 des Pariser Vertrages vom 30. März 1856 wird das »Majestätische Handschreiben« ausdrücklich zur Kenntnis genommen.

In den beiden dem Krimkrieg folgenden Jahrzehnten wurden weitere Rechts- und Verwaltungsreformen durchgeführt, die wesentlich tiefer gingen als während der ersten Phase der Tanzimat. Sie betrafen das Boden-, Straf-, Handels-, See-, Provinzialverwaltungs- und schließlich das Zivilrecht. Das Handels- und Seerecht sowie die Neugliederung der Provinzen folgten weitestgehend dem französischen Vorbild. Ein zwischen 1870 bis 1876 ausgearbeitetes bürgerliches Gesetzbuch, die berühmte Medschelle, ersetzte die herkömmlichen osmanischen Gesetzbücher und richtete sich nach europäischem Recht aus. Es transformierte islamisches und europäisches Recht zu einem modernen Codex.

Der Einfluss Europas war nicht auf die Institutionen und die Verwaltung des osmanischen Staates beschränkt, er hatte zugleich ideengeschichtliche Auswirkungen. Ein bürgerlicher Liberalismus war eine von ihnen: Eine Gruppe, die sich als »Junge Osmanen« (Yeni Osmanlılar) bezeichnete und sich liberalen Ideen Europas verbunden fühlte, begann diese dem Absolutismus der Sultane entgegenzustellen. In ihren Augen waren die Tanzimat-Erlasse unzureichend, ja hatten eher eine Festigung der despotischen Machtausübung des Sultans bewirkt. Ihnen bedeuteten Patriotismus, Reformwille und Liberalismus eine Einheit, die nur in einer Verfassung gewährleistet sein würde. Aus kleinen Anfängen war die Geheimgesellschaft auf 250 Mitglieder angewachsen, als sie 1867 aufgedeckt wurde. Die führenden Köpfe, unter ihnen der bekannte Dichter Namık Kemal (1840–1888), mussten nach Paris emigrieren. Hier gaben sie verschiedene Zeitschriften mit revolutionären Beiträgen heraus; die bekannteste unter ihnen wurde die Zeitung Hürriyet (»Freiheit«). Die Erfolge der Opposition im Exil hielten sich – fern vom Ort des Geschehens – freilich in Grenzen. 1870 konnten die meisten von ihnen nach Konstantinopel zurückkehren, wo sie sich durch publizistische Tätigkeit vor Ort für weitergehende Reformen einsetzten.

Reformer und ihre Gegner kämpften um Einfluss. Wie das Beispiel der »Jungen Osmanen« erkennen ließ, waren erstere ihrer Zahl nach eher eine Minderheit. Nicht zuletzt aber der Druck von außen verlieh ihnen zeitweise Rückenwind. Angesichts einer sich in den siebziger Jahren abzeichnenden neuerlichen Balkankrise wurde Ende 1876 eine internationale Konferenz mit den Botschaftern der wichtigsten europäischen Mächte zur Erörterung der Lage nach Konstantinopel einberufen. Um sich das Wohlwollen der Konferenzteilnehmer zu sichern, proklamierte der soeben in sein Amt gekommene Sultan Abdülhamit II. (reg. 1876–1909) kurz vor Verhandlungsbeginn die Abschaffung der absolutistischen Herrschaftsform und die Einführung eines parlamentarischen Systems. Treibende Kraft bei der Ausarbeitung einer konstitutionellen Staatsform (meşrutiyet) war Großwesir Midhat Pascha. Als junger Mann in die Verwaltungslaufbahn eingestiegen, hatte er einen Studienaufenthalt in Europa verbracht. Nach seiner Rückkehr war er in verschiedenen Positionen im Dienst des Sultans tätig gewesen. 1872 war er für kurze Zeit Großwesir, später hatte er andere Ministerposten in Istanbul inne. Das Grundgesetz (kanun-u esasi) bestätigte die bereits in den Tanzimat verkündeten Prinzipien, legte die Unteilbarkeit des Reichs fest und proklamierte den Islam als Staatsreligion. Zugleich wurde die Religionsfreiheit auch für Nicht-Muslime festgeschrieben; sie sollten dem muslimischen Bevölkerungsteil gleichgestellt sein. Amtssprache würde zwar auch künftig das Osmanisch-Türkische sein, zu den öffentlichen Ämtern sollten indessen auch Christen und Juden zugelassen sein, vorausgesetzt, dass sie des Türkischen mächtig wären. Im Übrigen orientierte sich das parlamentarische System am belgischen Vorbild: Während der Senat vom Herrscher berufen würde, sollten die Abgeordneten gewählt werden. 1876 wurde das erste Parlament gewählt: Eine Direktwahl des Unterhauses war nur für die Großstädte vorgesehen; im übrigen Reichsgebiet wählten die Stimmberechtigten örtliche Räte, die vorwiegend aus Beamten bestanden, welche ihrerseits die Abgeordneten benennen sollten. Darüber hinaus war die Vertretung sämtlicher anerkannter Religionsgemeinschaften im Parlament vorgesehen. Im März 1877 trat es zusammen; bereits elf Monate später wurde es aufgelöst. Erst 1908 sollte es wieder zusammentreten.

Der Hintergrund dieses Umschwungs war ein doppelter: Zum einen hatten alle Reformen und Veränderungen, mit denen die osmanische Führung nicht zuletzt den Erwartungen der europäischen Mächte hatte entgegenkommen wollen, die territoriale Erosion am Rande des Vielvölkerstaates und die Angriffe von außen nicht beenden können. Nach den Bestimmungen des im Juli 1878 geschlossenen Berliner Friedens schieden Rumänien, Serbien und Montenegro aus dem osmanischen Staatsverband aus. Österreich besetzte Bosnien-Herzegowina. Im selben Jahr gelangte Zypern unter britische, 1881 Tunis unter französische und 1882 Ägypten wiederum unter britische Kontrolle. Der Entschluss Abdülhamits, das parlamentarische Experiment zu beenden, war also nicht zuletzt eine Reaktion auf den russisch-türkischen Krieg von 1877/78 und die Berliner Konferenz, auf der das Osmanische Reich nun definitiv zum »kranken Mann am Bosporus« geworden war. Abdülhamit regierte fortan als Alleinherrscher. Die Verfassung blieb im Großen und Ganzen in Kraft und verlieh so seiner Regierung ein konstitutionelles Mäntelchen – gleichsam zur Bestätigung seiner Legitimität gegenüber den europäischen Mächten.

Zum anderen hatte sich die wirtschafts- und finanzpolitische Lage des Reichs dramatisch zugespitzt. Hatten es »Kapitulationen« (Handelsverträge) den wirtschaftlich weiter entwickelten europäischen Ländern schon seit Jahrzehnten ermöglicht, ihre billigen Manufakturwaren ungehindert im Reich der Osmanen abzusetzen, so wurde nach dem Krimkrieg der osmanische Markt von europäischen Massenartikeln geradezu überschwemmt. Die 1838 zwischen England und der Pforte abgeschlossene »Kapitulation« hatte das Osmanische Reich dem überlegenen britischen Exporthandel weitgehend ausgeliefert. Die Ausweitung der Geltung der Kapitulationsbestimmungen auch auf andere europäische Länder hatte eine verheerende Wirkung auf die osmanische Wirtschaft: Der halbkoloniale Status des Reichs als Absatzmarkt für europäische Produkte war praktisch festgeschrieben.

Im Übrigen hatten sich auch sonst die finanziellen Nöte der osmanischen Regierung zunehmend verschärft. Der Hof und die Beamtenschaft lebten einen aufwendigen Lebensstil und bedienten sich aus der Staatskasse. Hinzu kam, dass die Modernisierungsbemühungen im Heer und die einander folgenden, beinahe permanenten bewaffneten Auseinandersetzungen und Kriege die osmanische Staatskasse schwer belasteten. Der Versuch, die Finanznot durch eine Manipulation mit ungedeckten Schuldverschreibungen (kaime), die in der Hauptstadt seit 1839 als Papiergeld zirkulierten, zu beheben, trug unter dem Strich ebenfalls zur Verschlechterung der Staatsfinanzen bei. Die Auslandsanleihen, die die Pforte seit 1854 bei England und Frankreich aufnahm – bis 1877 waren es sechzehn – wurden nicht zur Sanierung verwendet, sondern größtenteils wirkungslos vergeudet. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre hatte der osmanische Fiskus rund 80 % der Gesamteinnahmen des Staates für die Tilgung der Auslandsanleihen und die Zinszahlung zu verwenden. Unter diesen Voraussetzungen musste die osmanische Pforte im Oktober 1875 den Staatsbankrott anmelden. Zur Lösung der Finanzmisere wurde 1881 eine internationale Staatsverschuldung, die Dette Publique Ottomane eingerichtet. Ihr trat die Pforte künftig zahlreiche fiskalische Einkünfte ab. Damit aber wurde das Eindringen europäischen Kapitals weiter forciert: Die Abhängigkeit des Reichs von europäischem Finanzkapital wurde faktisch vollkommen. Fünf Jahre zuvor war Ägypten Ähnliches widerfahren.

Während der folgenden drei Jahrzehnte regierte Abdülhamit II. autokratisch. In der Bewertung seiner Herrschaft durch die Historiker hat lange der repressive Charakter seiner Machtausübung im Vordergrund gestanden. Seiner misstrauischen Natur folgend, wurde ein Apparat umfassender Bespitzelung und Zensur eingesetzt. Viele kritische Geister gingen ins Ausland – nach Europa oder Ägypten, wo die britische Herrschaft seit 1882 liberalem Gedankengut Freiräume ließ. Die Bestrebungen politischer Zentralisierung führten nicht zuletzt in Anatolien zu Spannungen, insbesondere unter den christlichen Untertanen. Anstelle der Reformen im anatolischen Osten, zu denen sich die osmanische Regierung auf dem Berliner Kongress verpflichtet hatte, kam es zu gewalttätiger Unterdrückung insbesondere gegen die armenische Bevölkerung ( S. 114).

Dieser negativen Seite der Bilanz der Herrschaft Abdülhamits stellen neuere Arbeiten die Reformansätze seiner Herrschaft gegenüber: Der Bildungssektor wurde ausgebaut, Hoch- und Fachschulen nach europäischen Vorbildern gegründet. Aus der 1877 reorganisierten Zivilbeamtenschule (Mekteb-i mülkiye) gingen bis zur Ausrufung der Republik 1923 fast 1800 Kandidaten für den höheren Staatsdienst hervor. 1900 erfolgte die Gründung der Darülfünun (»Haus der Wissenschaften«), der Vorgängerin der späteren Universität Istanbul. An ihr wurden die bereits früher gegründeten medizinischen und juristischen Hochschulen zusammengefasst und um eine mathematisch-naturwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche und theologische Fakultät ergänzt.

Als »modern« können auch die Bemühungen des Sultans gewertet werden, seiner Stellung als Herrscher eine quasi ideologische Rechtfertigung zu verleihen. Nach dem Grundgesetz war er der »Kalif und Hüter der islamischen Religion und Souverän aller osmanischen Untertanen«. War der Titel des »Kalifen«, den Sultan Selim (reg. 1512–1520) nach der Eroberung Kairos (1517) dem Hause Osman erworben hatte, über Jahrhunderte eher im Hintergrund verblieben, so wurde ihm nunmehr neue Bedeutung zuteil. Auf seine Stellung innerhalb der islamischen Welt zielend, unterstützte Abdülhamit die panislamische Bewegung. Er knüpfte Kontakte zu den Muslimen unter russischer und britischer Herrschaft sowie zu schiitischen Gelehrten in Iran. Über die Wallfahrt nach Mekka sowie transnationale Netzwerke sufischer Orden ließ er proosmanische Propaganda verbreiten und richtete ein System osmanischer Konsulate in muslimischen Ländern ein. Kontakte bestanden auch zu dem panislamischen Aktivisten Dschamal ad-Din al-Afghani ( S. 91).

Nach innen propagierte Abdülhamit die Ideologie des Osmanismus: Gegenüber den Nationalismen der einzelnen Völker des Reichs sollte er das Zusammengehörigkeitsgefühl aller osmanischen Staatsbürger fördern. Bereits das Hatt-ı humayun von 1856 hatte die volle Gleichheit der Bürger ungeachtet der Religion versprochen. Und das Nationalitätsgesetz von 1869 hatte eine gemeinsame osmanische Staatsbürgerschaft ungeachtet der religiösen und ethnischen Zugehörigkeit geschaffen. Damit wurde das millet-System, das insbesondere nicht-muslimischen religiösen Gruppen einen Sonderstatus im Reich verlieh, nicht abgeschafft. Aber bürgerliche Rechte und Pflichten sollten allen »Bürgern« gleichermaßen zukommen: Das bezog sich u. a. auf die Grundschulbildung, die Besteuerung und die Wehrpflicht. Nach dem Grundgesetz wurden alle Untertanen »ohne jede Ausnahme« Osmanen genannt.

Die vergleichsweise innere Ruhe im Reich während der letzten beiden Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende sollte täuschen. Relativ leicht war es zwar gelungen, die Opposition seitens der »Jungen Osmanen« zu zerschlagen. Hinter der Oberfläche aber nisteten weiterhin Opposition und Widerstandsgeist gegen die despotische Amtsausübung durch den Sultan. Es sollte etwa bis zur Jahrhundertwende dauern, bis sich dieser Widerstand wieder politisch organisierte. Netzwerke politischer Opposition entstanden im Ausland, namentlich in Frankreich, aber auch in der Schweiz. Der Bazillus des Widerstands infizierte Teile der Armee. Als »jungtürkische« Bewegung befeuerte er schließlich die Forderung an den Sultan, den Modernisierungs- und Demokratisierungsprozess weiter voranzutreiben. Der »jungtürkische« Staatsstreich von 1908 sollte der zweite Anstoß zu tiefgreifenden Veränderungen im Nahen Osten des 20. Jahrhunderts werden. Vorangegangen war die Verfassungsrevolution, die ein bürgerliches Bündnis zwei Jahre zuvor in Persien ins Werk gesetzt hatte.

Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft

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