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5.4 Der kurze Frühling im Kaukasus
ОглавлениеDas Ende des Ersten Weltkriegs war mit einem umfassenden und tiefgreifenden Zusammenbruch gleich mehrerer politischer Ordnungen in Europa und Asien verbunden. Drei multiethnische und multireligiöse Großreiche wurden erfasst: Das Habsburgische Kaiserreich, das Reich des osmanischen Sultans/Kalifen und das Zarenreich der Romanow. Bei dem vierten in diesem Zusammenhang, dem Deutschen Reich, handelte es sich im Unterschied zu den Genannten um ein national, religiös und kulturell relativ homogenes Staatswesen. Mit dem Zusammenbruch der drei Erstgenannten waren zwangsläufig Staatenbildungsprozesse verbunden, die Teile dreier Kontinente erfassten. Die Folgen des Zusammenbruchs des Deutschen Reichs blieben auf Mitteleuropa beschränkt.
Im März 1917 dankte Zar Nikolaus II. ab; damit kam die jahrhundertlange Herrschaft der Romanow an ihr Ende. Nach der von Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) angeführten bolschewistischen »Oktoberrevolution« schloss die neue Führung Anfang Dezember 1917 einen Waffenstillstand mit den Mittelmächten und trat damit de facto aus dem Krieg aus. Zugleich veröffentlichte sie die Geheimverträge, welche die zaristische Regierung mit den Regierungen der Entente-Mächte die Zukunft der Kriegsgegner betreffend geschlossen hatte.
Bereits am 7. Dezember 1917 veröffentlichte das neue Regime eine von Lenin und Josef Wissarionowitsch Stalin (1878–1953) unterzeichnete »Botschaft an alle werktätigen Muslime in Russland und des Orients«. Sie sollte zeigen, dass die neue Führung im Unterschied zur zaristischen Regierung den unmittelbaren Zusammenhang von nationaler und religiöser Frage erkannt hatte und bereit war, ihm politische Rechnung zu tragen. »Fortan werden Euer Glaube und Eure Bräuche, Eure nationalen und kulturellen Institutionen als frei und nicht verletzlich erklärt«, hieß es darin. »Baut Euer nationales Leben frei und unbehindert auf. Das ist Euer Recht«.24 Darin lag das Zugeständnis eines eigenen Weges der »Völker des Orients« zu einer sozialistischen Ordnung auf der Grundlage ihrer jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Traditionen.
Ihre Botschaft rasch öffentlich zu machen, hatten die beiden bolschewistischen Führer neben dem inhaltlichen Programm auch einen politisch-strategischen Grund: Denn die politischen Führungen im südlichen Kaukasus waren nicht bereit, den undemokratischen bolschewistischen Coup einfach hinzunehmen. Vielmehr sahen sie damit den Zeitpunkt gekommen, eigene Wege zu gehen, die zu Autonomie, am Ende gar zum Austritt aus dem russischen Imperium und zu Unabhängigkeit und eigenstaatlicher Existenz führen würden. Bereits am 24. November wurde in Tiflis das Transkaukasische Kommissariat ausgerufen, das die Funktion einer provisorischen Regierung ausüben sollte. Es bestand aus georgischen Sozialdemokraten (Menschewiki), der armenischen Daschnaktzutyun- und der aserbaidschanischen Müsavat-Partei. Aus ihm ging am 23. Januar 1918 ein regionales Parlament, der Sejm, hervor. Am 22. April erklärte er die Unabhängigkeit Transkaukasiens und die Gründung der Transkaukasischen Republik mit der Hauptstadt Tiflis (Tbilisi). Amtssprachen waren Georgisch, Armenisch und Aserbaidschanisch.
Zu diesem Zeitpunkt aber waren bereits tiefe Verwerfungen zwischen den beteiligten Parteien aufgebrochen, die sowohl ordnungs- und gesellschaftspolitische als auch ethnische Triebkräfte erkennen ließen. Die Spannungen reichten von Divergenzen über das Verhältnis zum Osmanischen Reich (dessen Führung in der Transkaukasischen Republik in erster Linie einen Puffer zu Russland sah) und zu Deutschland (das ein wachsendes Interesse an den Ölvorkommen der Region nahm) bis zu Konflikten über die Zukunft der politischen und gesellschaftlichen Systeme im Südkaukasus. Ende März hatte eine Allianz von Bolschewiken und vornehmlich armenischen Daschnaken in Baku ein Massaker verübt, dem etwa 10 000 muslimische Aserbaidschaner zum Opfer gefallen waren. Als am 26. Mai 1918 3000 deutsche Soldaten im georgischen Hafen Poti landeten – gemäß einer Vereinbarung mit den Georgiern, diese gegen territoriale Ansprüche der osmanischen Regierung zu verteidigen, war das Schicksal der Transkaukasischen Republik besiegelt. Noch am selben Tag folgte die Unabhängigkeitserklärung Georgiens und die georgische Delegation verließ den Sitzungssaal des Sejm. Ihr folgten am 28. Mai die aserbaidschanische und die armenische Delegation. Der Sejm war aufgelöst; auf transkaukasischem Boden entstanden drei unabhängige Republiken.
Damit war eine in geschichtlicher Perspektive neuartige Lage entstanden. Die Armenier sind zwar ein uraltes kaukasisches Volk mit einer epochenweise starken staatlichen, ja imperialen Tradition; ein eigenstaatliches Armenien aber hatte es seit dem 14. Jahrhundert nicht mehr gegeben. Die turksprachigen Völker, aus denen auch das aserbaidschanische Volk hervorging, waren erst im 11. Jahrhundert in den vorderorientalischen Raum Anatoliens und des iranischen Hochlands eingedrungen und hatten dort ihre eigene Staatlichkeit errichtet. Zwar war auch die Dynastie der Safawiden, die mit Schah Isma’il 1501 an die Macht kam, türkisch-aserbaidschanischen Ursprungs (der Sufi-Orden, dem sie entstammte, hatte in Ardabil seinen Sitz). Der safawidische Iran aber, dem mit der Verbreitung des schiitischen Islams eine eigene Identität verordnet wurde, verstand sich als persischer – nicht aber als aserbaidschanischer – Staat ( S. 24). Als er im 18. Jahrhundert zerfiel, entstanden auf seinem Boden eine Vielzahl von lokalen türkisch-muslimischen »Khanaten«, deren Mehrheit – zum Teil mit starken armenischen Bevölkerungsanteilen – in den ersten Jahrzehnten von Russland vereinnahmt wurde. Lediglich Georgien hat – wenn auch in unterschiedlicher Ausdehnung und immer wieder von fremden Mächten bedroht und/oder beherrscht – bis zu seiner Eingliederung in Russland 1801 ein starkes eigenstaatliches – gleichsam »nationales« – Profil.
Vor diesem Hintergrund war mit der Gründung der drei südkaukasischen Republiken 1918 eine neue Lage entstanden. Die Fäden sehr unterschiedlicher geschichtlicher Entwicklungen sowie kultureller und religiöser Gegebenheiten waren zu nationalstaatlichen Gebilden verwoben. Die Herausforderung an die herrschenden Eliten war eine doppelte: ihre Herrschaft nach innen zu konsolidieren – das bedeutete, durch die Zustimmung sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher, ethnischer und religiöser Gruppen zur Ausübung der Macht innerhalb der neuen Grenze legitimiert zu werden – und nach außen sich zugleich der machtpolitischen und territorialen Gelüste jener Mächte zu erwehren, die durch die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte hindurch um die Vorherrschaft im südlichen Kaukasus gerungen hatten. Angesichts der Schwäche Irans und der Auflösung des Osmanischen Reichs hatte die Führung in Moskau am Ende die besseren Karten. Nach der Revolution noch selbst in einem Zustand der Schwäche agierend, sollte es ihr unter dem Bruch von Versprechungen der ersten Stunde insbesondere Lenins gelingen, die sozialpolitischen Verwerfungen, die von bolschewistischen Parteigängern ausgenutzt und zugespitzt wurden, mit den machpolitischen Zielen Moskaus in Übereinstimmung zu bringen. Deshalb war den jungen Staaten im Kaukasus wie anderen, insbesondere muslimischen Regionen in Zentralasien nur kurze Lebensdauer beschieden. Erst mit dem definitiven Ende des sozialistischen Nachfolgestaates des Zarenreichs sollten die Rahmenbedingungen für eine dauerhafte Neuordnung der politischen Landkarte im südlichen Kaukasus und in Zentralasien entstehen.
Die Geschichte des Weges, den die kaukasischen Völker und Gesellschaften von 1801 bis 1917 gegangen sind, kann im Rahmen unserer Darstellung nur in signifikanten Schlaglichtern erzählt werden. Unübersehbar aber verbindet sie sich an vielen Punkten mit den Entwicklungen im Vorderen Orient im 19. und 20. Jahrhundert, die Gegenstand des Buches sind. Erinnert sei an die armenische Frage und an die Auswirkungen der geistigen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Zarenreich auf die Modernisierungsbestrebungen der Eliten im Osmanischen Reich und im Staat der iranischen Qadscharen – den muslimischen Aserbaidschanern im russisch beherrschten Südkaukasus kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu. Erinnert sei weiter an die religiösen Modernisierungsbestrebungen unter den Muslimen im Zarenreich (Dschadidismus), die insbesondere auf die Muslime des Osmanischen Reichs weitergewirkt haben, und schließlich an die panturkischen Bestrebungen, die gegen Ende des Ersten Weltkriegs in der osmanischen Kriegsführung erkennbar waren und in deren Strategie Aserbaidschan ein hoher Stellenwert zukam. Erinnert sei aber auch daran, dass die Erdölwirtschaft auf der Baku benachbarten Halbinsel Abscheron seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts weltwirtschaftliche Dimensionen anzunehmen begann. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurden 80 % der Erdölproduktion des Zarenreichs und 15 % der Welterdölproduktion hier gefördert. Erdölbarone aus vieler Herren Länder rivalisierten um fabelhaften Reichtum, zugleich waren die Ölarbeiter empfänglich für sozialpolitische Mobilisierung – seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts seitens der radikalen Linken. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs richteten sich internationale Begehrlichkeiten, namentlich des postrevolutionären Russlands, Englands und Deutschlands auf die Ölressourcen Aserbaidschans.
Mit den russischen Eroberungen im südlichen Kaukasus vollzog sich dort eine erhebliche Bevölkerungsverschiebung, die besonders von einem starken Zuwachs des armenischen Bevölkerungsanteils gekennzeichnet war. Die christlichen Armenier mit ihren einflussreichen Gemeinden im gesamten Nahen Osten, auf dem Balkan, in Westeuropa und Russland verfügten über Bildungstraditionen, Handwerkerzünfte und ein fast weltweit agierendes Netzwerk von Kaufleuten. Armenische Handwerker und Händler waren von dem georgischen König Irakli II. (reg. 1762–1798) angeworben worden. Katharina II. hatte 1768 dem Katholikos von Etschmiadzin, dem Oberhaupt der Armenischen Apostolischen Kirche, Schutzbriefe für reisende Kaufleute ausgestellt, die ein Bindeglied zwischen den nahöstlichen, südkaukasischen und zentralasiatischen armenischen Gemeinden darstellten. Mit den beiden russisch-persischen Kriegen stieg der armenische Anteil an der Bevölkerung in den Gebieten nördlich des Aras an. Fast 50 000 Armenier machten zwischen 1828 und 1830 von den besonderen Einwanderungsrechten für Christen Gebrauch. Nach dem Ende des russisch-türkischen Krieges 1828/29 erhielt auch die christlich-armenische Bevölkerung der russisch besetzten Gebiete des Osmanischen Reichs diese Privilegien: Etwa 90 000 Menschen aus Ebenen von Erzurum und Agrı begleiteten die russische Armee auf ihrem Rückzug aus Ostanatolien. Umgekehrt verließen zahlreiche muslimische Familien die Gebiete nördlich des Aras in Richtung Persien und Osmanisches Reich. Weitere Einwanderungswellen folgten später: als Ergebnis des russisch-türkischen Krieges 1877–1879, antiarmenischer Pogrome im Osmanischen Reich ab 1890 und des Genozids von 1915. Lebten 1846 in Südkaukasien ungefähr 200 000 Armenier, so waren es 1915 etwa 1 680 000.25 Zugleich dehnte sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der Landbesitz der Armenier weiter aus, die ebenfalls einen relativ hohen Anteil an den städtischen Bildungsschichten stellten.
Die Ansiedlung christlicher Armenier hatte nicht zuletzt das Ziel, ein ethnisches Gegengewicht zu der muslimischen Bevölkerung zu schaffen. Das trug zu einer anhaltenden Verschärfung konfessioneller Spannungen bei, machte aber die Armenier über Jahrzehnte zu loyalen Untertanen des Zaren und seiner Regierung. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte eine armenische Mittelschicht vor allem wohlhabender Kaufleute Zugang zu Verwaltung und Armee gefunden. Zugleich aber befeuerte nicht zuletzt die von Ausgrenzung, Verfolgung und seit den 1890er Jahren von Pogromen gekennzeichnete schwierige Lage der Armenier im benachbarten Osmanischen Reich ein nationales Erwachen und ließ im Russischen Reich eine armenische Nationalbewegung entstehen. Sie strebte nicht nur nach größerer Eigenständigkeit innerhalb des Zarenreichs, sondern wandte sich im Streben nach einem starken, verteidigungsfähigen Nationalstaat auch gegen die Nachbarvölker wie die »Türken« Aserbaidschans, mit denen die Armenier teils territorial überschneidend siedelten. Im Übergang zu der kurzlebigen Staatlichkeit nach der bolschewistischen Oktoberrevolution war die 1890 in Tiflis gegründete armenische nationalistische Partei Allianz der Revolutionäre (Daschnakzutyun) eine bestimmende Kraft. Über deren Rolle im Zusammenhang mit dem Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 ist oben bereits gesprochen worden ( S. 114). Insgesamt also waren über der Zukunft der Beziehungen zwischen »Türken« (Aserbaidschanern) und Armeniern dunkle Wolken aufgezogen, als sich die Kaukasusvölker Ende 1917 in Gestalt der Transkaukasischen Föderation auf den Weg der Unabhängigkeit begaben.
Während die Armenier als ethnisch-religiöse Gemeinschaft ohne eigenständige staatliche Struktur über das gesamte Gebiet des Südkaukasus verbreitet siedelten, wies Georgien durch die Geschichte erhärtete staatliche Konturen auf. Die Annexion vonseiten Russlands 1801 vereinigte dauerhaft die verschiedenen Regionen des Landes, die in der Geschichte teilweise ein Eigenleben geführt hatten. Dieser Umstand sollte im Lauf des 19. Jahrhunderts den nationalen Gedanken unter der georgischen Elite beflügeln. Zunächst freilich artikulierte sich Widerstand gegen die russische Macht. Die eigenständige (»autokephale«) Orthodoxe und Apostolische Kirche von Georgien geriet unter die Aufsicht der Russisch-Orthodoxen Kirche; der Kleinadel, seit jeher die Stütze des Staates und der Armee, sah sich in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht. Erst nach Jahrzehnten der Aufstände und des Widerstands begannen sich die Institutionen des zaristischen Staates und die gesellschaftlichen Traditionen der Georgier miteinander zu versöhnen. Sowohl die adligen Familien als auch wohlhabende Bürger schickten ihre Söhne auf die russischen, später auch deutschen und französischen Universitäten. Von dort brachten sie liberale Ideen nach Hause, die sie mit der Forderung nach der »Wiedergeburt der Heimat« verknüpften. Unter dem Banner: »Heimat, Sprache und Glaube«, suchten sie das nationale Selbstbewusstsein zu wecken und riefen zu einer Wiedergeburt der georgischen Kultur und zum Kampf gegen das Analphabetentum auf. Später traten Forderungen nach einer Modernisierung der Wirtschaft, namentlich der Landwirtschaft, hinzu. Für eine radikale soziale Umwälzung, für die der 1878 im georgischen Gori geborene Iosseb Bessarionisdse (Josef Wissarionowitsch) Dschughaschwili, der 1912 den Namen Stalin annahm, kämpfte, gab es in Georgien keinen Nährboden. Innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands gehörten die georgischen Vertreter mehrheitlich dem Flügel der sozialdemokratischen Menschewiki an. Als die revolutionären Bolschewiki unter der Führung Lenins im November 1917 die Macht übernahmen, entschied die politische Führung in Tiflis, den russischen Staatsverband zu verlassen.
Im Untertitel ihres magistralen Werkes Muslim – Untertan – Bürger über gesellschaftliche Transformationsprozesse spricht Eva-Maria Auch eben nicht von »Aserbaidschan« als dem Gegenstand der Analyse, sondern von den »muslimischen Ostprovinzen Südkaukasiens«. Damit deutet sie das Fehlen einer festen übergreifenden staatlichen Struktur »der Aserbaidschaner« zum Zeitpunkt der russischen Eroberung und danach an. Die aserbaidschanische Ethnie lag damit etwa zwischen der georgischen und der armenischen: Wie vorstehend festgestellt, verfügten die Georgier des beginnenden 19. Jahrhunderts über eine lange und bis in die Gegenwart kontinuierliche staatliche Tradition, während die Armenier als an zahlreichen Plätzen verstreute Volksgemeinschaft ohne eine gefestigte politische Struktur siedelten. Mit der Eroberung turksprachiger – »aserbaidschanischer« – Gebiete im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde nach den armenischen und georgischen Christen eine islamisch geprägte Bevölkerung des südlichen Kaukasus Teil des Russischen Reichs. Im Unterschied zu Georgiern und Armeniern, die sich durch die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte hindurch als religiöse und kulturelle Inseln in einem Meer der Muslime behauptet hatten, waren die lokalen aserbaidschanischen Herrschaften Teile großräumiger islamischer Staatenbildungen gewesen, die sich ihrerseits wiederum der islamischen Gemeinschaft (umma) verbunden sahen. Aus dem aserbaidschanischen Ardabil stammte die turksprachige Dynastie der Safawiden, die seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts das iranische Hochland und das Gebiet des südlichen Kaukasus beherrscht hatte. Auf die Schiitisierung des safawidischen Staates (einschließlich Aserbaidschans) ist bereits hingewiesen worden ( S. 24).
Nach dem Abschluss der südkaukasischen Eroberungen durch Russland verblieb ein Teil Aserbaidschans, nicht zuletzt dessen traditionsreiches politisches und kulturelles Zentrum Täbris, auf persischem Staatsgebiet. Daraus ergab sich eine anhaltende Verbundenheit der russisch-aserbaidschanischen Elite mit der persischen Kultur. Nur langsam begann diese sich unter dem Einfluss der kulturellen und geistigen Entwicklung Russlands und Europas von den persischen Traditionen zu emanzipieren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich sollten Anstöße politischer, gesellschaftlicher und kultureller Modernisierung von Russisch-Aserbaidschan auf die aserbaidschanischen und darüber hinaus auf die persischen Persönlichkeiten ausstrahlen, die unter den qadscharischen Herrschern die Modernisierung Irans voranzutreiben bemüht waren. An der Verfassungsrevolution in Iran seit 1906 haben intellektuelle und politische Kreise in Täbris großen Anteil. Die Zugehörigkeit zur türkischen Sprach- und Kulturgemeinschaft schließlich hat die aserbaidschanischen Modernisierer mit Gleichgesinnten in Konstantinopel und unter den tatarischen und zentralasiatischen muslimischen Turkvölkern in Verbindung gebracht.
Zunächst freilich war die wirtschaftliche und kulturelle Lage des muslimischen Ostens der von Russland eroberten Gebiete des südlichen Kaukasus von Stagnation gekennzeichnet. Nicht nur erschwerte die mangelhafte Infrastruktur eine engere Verbindung zu den Entwicklungen im übrigen Russland. Vielmehr verfügte die russische Verwaltung über keinerlei Konzept im Umgang mit einer islamisch geprägten Bevölkerung, für welche wiederum die Unterwerfung unter eine nicht-muslimische Herrschaft befremdlich und nur schwer annehmbar war. Dies umso mehr als die russische Unterwerfung der muslimischen Glaubensbrüder des Nordkaukasus in vollem Gange war. Das politische und geistig-kulturelle Zentrum war Tiflis. Dort befand sich die russische zivile und militärische Verwaltung des Südkaukasus; zugleich begegneten sich dort die Vertreter der politischen und kulturellen Strömungen, die das Zarenreich bewegten.
Die infrastrukturelle und wirtschaftliche Erschließung des islamischen Südkaukasus erfolgte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von besonderer Bedeutung für Aserbaidschan sollte die Tatsache werden, dass sich Baku zu einem Zentrum der Erdölproduktion entwickelte. Mit dem Erwerb von Erdölkonzessionen strömte ab 1872 russisches und ausländisches Kapital in die Region. Der Bau der 1883 eröffneten Eisenbahn vom Kaspischen Meer über Tiflis bis zum Schwarzen Meer und die Herstelljung von stabilen Telegraphenverbindungen machten Baku zu einem wichtigen Bindeglied zwischen Europa und Asien und die Stadt selbst zu einer multiethnischen Metropole mit europäischem Kolorit. Auch in der muslimischen Gesellschaft Südkaukasiens entstand eine neue politische und kulturelle Elite. Die entscheidenden Impulse für ein nationales Erwachen ging von den staatlichen Schulen und Lehrerbildungsstätten sowie der Hochschulbildung an russischen Universitäten aus. Die Modernisierungsschritte der russischen Regierung öffneten traditionellen Gemeinschaften breitere Kommunikationsräume. Darüber hinaus verlangte die expandierende Industrie des Erdölstandortes Baku nach mobilen, kulturell und vor allem sprachlich standardisierten Arbeitskräften.
Bildung und Aufklärung unter einer noch weithin traditionellen Mustern verhafteten muslimischen Gesellschaftsordnung wurden die zentralen Anliegen der neuen aserbaidschanischen Elite. Einen wichtigen Schritt in Richtung auf das Erwachen einer Identität, die selbstbewusst die aserbaidschanisch-iranisch-islamische Tradition mit den Strömungen der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Modernisierung im russischen Reich verband, bedeutete die Gründung der Zeitung Äkinchi (Ekinςi, »Der Sämann«) 1875 in Baku. In aserbaidschanischer Sprache verfasst, trug sie nicht nur zum Entstehen einer einheitlichen Sprache bei: Mit der Propagierung eines säkularen Entwicklungsmodells suchten die Autoren den Weg zur Übernahme moderner Wertbegriffe frei zu machen. Ihr Gründer war Häsänbäy Zärdabi (1842–1907). Sein Lebenslauf kann als typisch für die Karrieren zahlreicher anderer aserbaidschanischer Reformer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesehen werden: In einem Dorf nahe Baku geboren, besuchte er russische weiterführende Schulen in Schamakhi und Tiflis, bevor er zum Studium der Mathematik und Physik an der Universität Moskau zugelassen wurde. Nach dem Abschluss war er in der öffentlichen Verwaltung und der Justiz in Tiflis und Quba tätig. Zwar musste Äkinchi sein Erscheinen bereits nach zwei Jahren einstellen – gleichermaßen kritisch beäugt von der russischen Zensur wie von rückwärtsgewandten einheimischen Kreisen, nicht zuletzt der Geistlichkeit, war es der Zeitung verwehrt, eine breitere Leserschaft zu erreichen, wodurch sie in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Aber ein Anfang war gemacht und in den folgenden Jahrzehnten entfaltete sich eine lebhafte publizistische Landschaft.
Unter den Reformern ragt Mirzä Fätäli Akhundov (Mirza Fath Ali Akhundzadeh, 1812–1878) heraus. In seinem Elternhaus zunächst für eine geistliche Karriere bestimmt, wandte er sich bald literarischem Schaffen zu. Nahezu sein gesamtes Leben verbrachte er in Tiflis – als Übersetzer und Dolmetscher des russischen Statthalters und als Lehrer an verschiedenen Schulen. Sein literarisches Schaffen leitete eine Wende in der aserbaidschanischen Literatur ein. Waren die modernen Literaturgattungen wie Drama, Prosa oder Literaturkritik bis dahin unter muslimischen
Abb. 12: Fath Ali Akhundzadeh (russ. Akhundov) befruchtete die aserbaidschanisch- persische Tradition mit russisch-europäischer Moderne.
Kaukasiern weitestgehend unbekannt, waren seine Werke – vor allem Theaterstücke, Novellen und Rezensionen – die erste Gelegenheit für diese, sich mit jener Art von westlicher Literatur vertraut zu machen, und veränderten die verbreiteten Vorstellungen über Literatur nachhaltig. Literatur wurde zu einem Spiegel des gesellschaftlichen Lebens, zugleich wirkte sie auf dieses zurück. Erstmals übte Literatur Kritik an den bestehenden Verhältnissen und erlangte Einfluss auf die künftige Gestaltung der aserbaidschanischen Gesellschaft. Auch als Intellektueller und Philosoph hatte Akhundov großen Anteil an der Entstehung einer Aufklärungsbewegung, die sich kritisch mit überkommenen Traditionen, der gesellschaftlichen Stellung des Islams und der Frau sowie der russischen Herrschaft in Aserbaidschan auseinandersetzte. In einer Gesellschaft mit einer hohen Analphabetenrate dienten namentlich seine Theaterstücke deren Aufklärung. In der folgenden nur wenige Jahrzehnte umfassenden Schaffensperiode aserbaidschanischer Aufklärer sollte eine Welle der Erneuerung durch das islamisch geprägte Land gehen.
Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts begann die intellektuelle Elite unter den Aserbaidschanern, sich auch politisch aufzustellen. Dies geschah zum Teil als Antwort auf die armenische Nationalbewegung, die unter der Führung der Daschnaken bereits in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts politische Forderungen zu erheben begonnen und sich entschlossen gezeigt hatte, diese gegebenenfalls mit Gewalt durchzusetzen. In breiterer Perspektive betrachtet aber vollzog sich die Politisierung der aserbaidschanischen Intelligenzija im Kontext der politischen, sozialen und kulturellen Spannungen, Proteste und Konflikte, die die Gesellschaft im Zarenreich insgesamt erschütterten. Hinzu kamen Besonderheiten der Lage im Südkaukasus. Dort hatte die Erdölwirtschaft auf der Halbinsel Apscheron der Stadt Baku nicht nur eine Explosion seiner Bevölkerung beschert (zwischen 1863 und 1898 wuchs die Bevölkerung von 14 000 auf 200 000 Einwohner); auch die sozialen Spannungen hatten zugenommen. Sozialrevolutionäre Bewegungen waren aktiv, nicht zuletzt die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei – seit ihrer Spaltung 1903 unter Führung Lenins. Die Rolle des jungen Georgiers Dschughaschwili in den sozialen Protesten und Streiks der Ölarbeiter wurde vorstehend bereits angedeutet. Zwar gab sich die Linke als eine die ethnischen Zugehörigkeiten übergreifende Bewegung; hinter der Fassade aber nisteten gleichwohl ethnische Spannungen, namentlich zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Die Mitte der neunziger Jahre verübten Pogrome an Armeniern in den ostanatolischen Teilen des Osmanischen Reichs, die Zehntausende das Leben kosteten, belasteten auch das Zusammenleben von Armeniern und »Türken« (Aserbaidschanern) in Südkaukasien. Das Ausbrechen der ersten russischen Revolution im Jahr 1905, die schließlich zur Einführung einer Verfassung im Zarenreich führen sollte, bildete den Hintergrund, vor dem sich der soziale Konflikt in der Region nicht nur in Streiks auf den Erdölfeldern in Baku, sondern auch in den Dörfern entladen sollte. Die Vergrößerung des armenischen Bevölkerungsanteils bei begrenzter landwirtschaftlicher Nutzfläche, Wasserknappheit und geringen Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten bot zunehmend Zündstoff für armenisch-aserbaidschanische Zusammenstöße. Diese gipfelten 1905 und 1906 in Massakern, denen etwa 10 000 Menschen zum Opfer fielen.
Ob es sich bei der politischen Gruppierung, die sich 1904 unter dem Namen Hümmät (»Energie«/»Anstrengung«) konstituierte, um eine eigenständige politische Partei oder einen Ableger der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei handelte, die 1900/01 aus 15 illegalen marxistischen Zirkeln in Baku gegründet worden war, ist zwar umstritten, suchte sie doch in ihren ersten politischen und publizistischen Aktivitäten, in denen sie zum Einsatz für politische und soziale Grundrechte aufrief, den Schulterschluss mit russischen und armenischen Organisationen. Zugleich aber waren spezifisch türkisch-islamische Töne unüberhörbar.26 Nach den armenisch-aserbaidschanischen Massakern von 1905/06 verstärkte sich die nationalistische Grundstimmung. Die neugegründete Gruppe mit der Bezeichnung Difa’i hatte die »Verteidigung« (der Aserbaidschaner gegen die armenischen Daschnakzutyun) bereits im Namen. Neben dem militärischen Schutz propagierte sie die Organisation von Bildung und Aufklärung und forderte, eine faktische Selbstverwaltung durch die Übernahme kommunaler und juristischer Belange in städtischen und ländlichen Kommunen einzurichten. 1911 wurde die Müsavat-Partei (»Gleichheitspartei«) gegründet. Sie war die erste im umfänglichen Sinn politische Partei unter den muslimisch-türkischen Aserbaidschanern im russisch beherrschten Südkaukasus. Auch wenn ihre Gründer weit davon entfernt waren, separatistische Forderungen zu stellen, nahmen Einheit und Wiederherstellung der Unabhängigkeit aller muslimischen Völker doch einen sichtbaren Platz in ihrem Programm ein.
Unter den Initiatoren der Parteigründung befand sich eine Persönlichkeit, die sich zum Zeitpunkt des Geschehens gar nicht im Lande, sondern in Konstantinopel aufhielt. Wie die erwähnten Lebensläufe Zärdabis und Akhundovs weist auch die Biographie Mähämmäd Ämin Räsulzadäs (1884–1955) für die aserbaidschanische kulturelle Elite der Zeit bezeichnende Züge auf. Auch er kam aus einer religiös konservativen Familie, hatte russische Schulen besucht, war aufklärerisch und journalistisch aktiv sowie sozialpolitisch – zeitweise in der Nähe der Bolschewiki – engagiert. Besonders bemerkenswert ist seine Teilnahme an der Verfassungsrevolution in Iran, wo er in Täbris, der Hauptstadt Iranisch-Aserbaidschans, an der Gründung der Demokratischen Partei ( S. 221) Anteil hatte und als Chefredakteur der Zeitschrift Iran-e nou (»Der neue Iran«) tätig war. Nach der Niederschlagung der Revolution durch russische Truppen wich er 1911 nach Konstantinopel aus; dort trat er in engen Kontakt mit panturkischen Kreisen des jungtürkischen Regimes und schrieb für die Zeitschrift Türk yurdu (»Die türkische Heimat«). Erst 1913 kehrte er im Zusammenhang mit einer Amnestie anlässlich des dreihundertsten Jubiläums des Herrschaftsantritts der Romanow-Dynastie nach Baku zurück.
Die muslimische Intelligenzija Südkaukasiens hatte sich zu einer kosmopolitischen Gemeinschaft entwickelt, die mit Tiflis, Baku und Täbris ebenso verbunden war wie mit St. Petersburg und Konstantinopel. Über ihre engere Heimat hinaus suchte sie eine Brücke zu schlagen zwischen den reformerischen Ideen im Zarenreich und der islamischen, namentlich der turksprachigen Welt. Das bedeutete zugleich die Suche nach einer Synthese zwischen der Moderne und der türkisch-islamischen Tradition. Die revolutionären Entwicklungen in Russland 1905 und die zeitgleich ausgetragenen Massaker zwischen Armeniern und Aserbaidschanern waren der Weckruf, den Kampf für die Gleichstellung von Muslimen im Zarenreich zu intensivieren. Einer vierten Persönlichkeit muss in diesem Zusammenhang gedacht werden, die zu einem Vorkämpfer in dieser Sache wurde: Älimärdan bäy Topςubaşov (1863–1934). Am 15. März 1905 trafen sich in seinem Haus Vertreter der aserbaidschanischen Intelligenzija und des liberalen Bürgertums. In einem an den Zaren gerichteten Memorandum formulierten sie eine Reihe von Forderungen, darunter die nach lokaler Selbstverwaltung im ganzen Südkaukasus, nach vollständigen gleichen politischen und sozialen Rechten für alle Muslime im südlichen Kaukasus und die nach Verteilung von Boden an landlose Bauern. Diesem Treffen folgten am 28. August 1905 der erste Allrussische Kongress der Muslime sowie 1906 die Gründung der ersten politischen Partei der Muslime in Russland unter dem Namen Ittifaq al-Muslimin (»Bündnis der Muslime«). Zu ihren Forderungen gehörten die Einführung einer konstitutionellen Monarchie sowie die Gleichstellung der Religionen. Unter ihren Gründern und führenden Politikern befand sich neben Wolga- und Krimtataren auch Topςubaşov. In der ersten russischen Staatsduma (1906) wurde er Vorsitzender der muslimischen Fraktion.
Das zunehmende politische Selbstbewusstsein der südkaukasischen Muslime ging Bemühungen einher, die islamische Religion, d. h. ihre privaten und gesellschaftlichen Werte, das aus ihr abgeleitete Rechtswesen und die Grundlagen der politischen Ordnung mit den Erneuerungsbestrebungen zu verbinden, die in der russischen Gesellschaft als ganzer diskutiert und politisch eingefordert wurden. Zugleich berührten sich die Bestrebungen der aserbaidschanischen Erneuerer in gewisser Weise sowohl mit den theologischen Erneuerungsbestrebungen im islamischen Raum insgesamt ( S. 87) als auch mit einer Bewegung, die vornehmlich die Muslime im ural-wolga-tatarischen und im krimtatarischen Raum erfasst hatte.
Der Dschadidismus machte sein Anliegen, die »Erneuerung«, bereits in seinem Namen kund: In ihren Anfängen in den 1870er Jahren bezog sich die »neue Methode« (al-usul al-dschadida) zunächst nur auf die phonetische Vermittlung der im Wolgaraum gesprochenen türkischen Sprache; in Kasan lagen die Ursprünge der Bewegung. Die Erneuerung der Sprache unter den turksprachigen Muslimen in Russland sollte die Voraussetzung für eine Verbesserung der Stellung der muslimischen Völker im Reich werden. Diese ursprünglich bescheidenen Ziele weiteten sich in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einer Reformbewegung aus, die eine nationalistische »tatarische« Ideologie auf der Grundlage des Islams als identitätsstiftendem Merkmal anbot. Anders als im Falle der großen zeitgenössischen arabischen Reformer ging es nicht um eine umfassende theologische Erneuerung. Das Anliegen war vielmehr, die Muslime Russlands aus ihrer Rückständigkeit und Unterlegenheit herauszuführen und sie in den Stand zu versetzen, in Wissenschaft, Technik und Kultur einen der russischen Gesellschaft ebenbürtigen Platz einzunehmen. Die dschadidistischen Reformer setzten auf die individuelle Urteilskraft, nicht zuletzt auch in Hinsicht auf das Verhältnis von Glauben und rationaler Beurteilung. Während der Islam auf die kulturelle Sphäre beschränkt wurde, wurden Modernität und Rationalismus zu Grundkriterien des Dschadidismus. In der Forderung nach der Überwindung der sozialen Kluft und der Gleichstellung der Geschlechter zeigte er zugleich auch eine starke gesellschaftspolitische Komponente.
Auch in seiner Blütezeit freilich blieb der Dschadidismus das Anliegen einer nur schmalen Elite unter den Turkvölkern. Unter seinen Aktivisten ist der Krimtatar Ismail Bej Gasprinski (auch: Ismail Gaspıralı, 1851–1914) aufgrund seiner umfassenden sowohl theoretischen als auch praktisch-politischen und pädagogischen Tätigkeiten der bemerkenswerteste. Sie lagen zunächst auf dem Gebiet der Sprache: Da er Muslime und Turkvölker Russlands gleichsetzte, schwebte ihm als Mittel zur Verständigung eine neuentwickelte gemeinsame Turksprache vor. Eine solche würde der Schlüssel zur Schaffung eines modernen Bildungswesens nach europäischem Vorbild werden. Dieses wiederum wäre eine feste Grundlage, auf welcher innerhalb Russlands eine Emanzipation im Sinne der Gleichberechtigung der Muslime als Volk und Staatsbürger erreicht werden könne. Eine breitere Öffentlichkeit sprachen er und seine Mitstreiter über die zweisprachige Zeitschrift Tärdžeman/Perevodčik (auch Tercuman, »Der Übersetzer«) an, die er 1883 gründete und die bis 1918 erschien. Sämtliche Themen und Anliegen Gasprinskis – Emanzipation, rechtliche Gleichstellung, Schulreform und Sprachproblematik – wurden aufgegriffen und von Lesern kommentiert und kritisiert. Bis 1905 sollte der Tärdžeman die einzige Zeitung der Muslime im europäischen Russland bleiben.
Seinem Wesen nach hatte die Bewegung des Dschadidismus eine »panturkische« Dimension. »Pan«-Ideologien hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Konjunktur. Im multiethnischen und multireligiösen Reich des Zaren fanden sich die muslimischen Turkvölker vonseiten des Panslawismus unter Druck. Wie dessen Anhänger die Vereinigung aller slawischen Völker forderten – was die muslimischen Gemeinschaften unter ihnen zu Menschen zweiter Klasse hätte werden lassen – begannen muslimische Intellektuelle von einer »turkischen Welt« zu träumen, die sich vom Balkan bis nach Westchina erstrecken sollte. Auch Dschadidisten vom Schlage Gasprinskis hatten bei ihren Erneuerungsbemühungen die Turkvölker insgesamt im Blick, dies aber im Sinne ihrer geistig-kulturellen Erneuerung im russischen Reich. Daran änderte sich bis 1917 wenig. In ihrer Beschränkung auf die kulturelle Gemeinsamkeit unterschieden sich die Dschadidisten von panturkischen Ideologen und Organisationen im Osmanischen Reich, welche tatsächlich die Forderung nach einer politischen Vereinigung aller Turkvölker erhoben. Die panturkische Dimension in der osmanischen Kriegsführung Enver Paschas im Ersten Weltkrieg wurde bereits erwähnt, näher dazu unten ( S. 152).
Die Ereignisse des Jahres 1905, die Verschärfung der Spannungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern sowie das Ringen um eine Verfassung im Zarenreich, hatten eine spürbare Politisierung der nationalen Bewegungen im Südkaukasus zur Folge. Auf die Forderungen der muslimischen Intelligenzija aber antwortete die zaristische Regierung mit Unterdrückung. Mit dem Ende der alten Ordnung, das mit dem Sturz des Zaren Nikolaus II. am 18. März 1917 eingeläutet war, begann die Suche nach einer neuen inneren Ordnung des russischen Staates, in der alle Völker gleiche Rechte haben würden. An ihr beteiligten sich auch die muslimischen Völker des Reichs. Am 27. März 1917 versammelten sich Delegierte der muslimisch-nationalen Konzile. Unter den gewählten Mitgliedern eines Zentralkomitees befanden sich auch prominente aserbaidschanische Persönlichkeiten (u. a. Ämin Räsulzadä und Älimärdan Topςubaşov). Auf eine einheitliche Strategie aber konnten sich die muslimischen Völker des Reichs nicht verständigen. In Aserbaidschan schloss sich im Juni 1917 die Müsavat-Partei mit der nationaldemokratischen Partei der Türkischen Föderalisten zusammen. Damit wurde die Organisation zur wichtigsten muslimischen Interessenvertretung im Kaukasus, die nationale, territoriale und kulturelle Autonomie für die Muslime des Russischen Reichs forderte. In den Wahlen zur russischen Konstituierenden Versammlung im November 1917 siegten im gesamten Kaukasus die nationalistischen Parteien: in den georgischen Gouvernements die Menschewiki, im östlichen Transkaukasus die Daschnaken und in Aserbaidschan die Müsavat. Sowohl die Bolschewiken als auch die Sozialrevolutionäre wurden weit abgeschlagen. Insgesamt gaben mehr als 84 % der Menschen im Transkaukasus ihre Stimme einer nationalen, nicht-russischen Partei.27 Mit der gewaltsamen Unterdrückung der Konstituierenden Versammlung durch die Bolschwiken Lenins schlugen die Völker des südlichen Kaukasus den Weg der Selbstständigkeit ein: Am 23. Januar 1918 schlossen sich die in die konstituierende Versammlung gewählten armenischen, georgischen und aserbaidschanischen Abgeordneten zu einem eigenständigen Parlament, dem transkaukasischen Sejm zusammen.
Dass der neue Staat von Beginn an unter einem ungünstigen Stern stand, ist bereits zu Beginn des Kapitels berichtet worden. Nachdem der transkaukasische Sejm am 26. Mai seine Auflösung verkündet hatte, erklärte noch am selben Tag die Demokratische Republik Georgien ihre Unabhängigkeit. Am 28. Mai entstanden die Demokratische Republik Aserbaidschan sowie die Demokratische Republik Armenien. Auch einige der Völker des Nordkaukasus strebten nach Unabhängigkeit: Dagestanische und tschetschenische Widerstandskämpfer griffen zu den Waffen, um in der Tradition des 19. Jahrhunderts die als drückend empfundene russische Herrschaft abzuschütteln. Ein unabhängiges »Imamat der Bergvölker« scheiterte 1918, die »Nordkaukasische Föderative Republik« ein Jahr später. Auf der Krim entstand eine kurzlebige (Dezember 1917–Februar 1918) »Volksrepublik«.
Die kurze Epoche der Unabhängigkeit der drei südkaukasischen Staaten kann an dieser Stelle nicht dargestellt werden. Ein Versuch, die vielfältigen machtpolitischen Verflechtungen in dem Raum gegen Ende des Ersten Weltkriegs und danach anzudeuten, wurde in den Kapiteln unternommen, die der Kriegführung des Osmanischen Reichs, dem Übergang Persiens von der Verfassungsrevolution bis zur Machtübernahme durch Reza Khan und dem türkischen Befreiungskrieg gewidmet sind. Die Jahre 1917 bis 1921 sind – nach den Massakern an den anatolischen Christen 1915/16 – von teilweise extrem blutigen sozialen und ethnisch-religiösen Konflikten gekennzeichnet. In ihnen haben Russen und Türken, aber auch Engländer und Deutsche je nach ihrer Interessenlage mitgemischt. In der Region, die geopolitisch an den Rändern sowohl des Vorderen Orients als auch Zentralasiens gelegen ist, haben durch die Geschichte hindurch die großen Mächte von Süden und Norden, Osten und Westen um Vormacht gekämpft. Dass die drei Völker, von denen die Georgier und Armenier seit unvordenklichen Zeiten und die Aseri-Türken immerhin seit mehr als eintausend Jahren im Südkaukasus leben, in einer Phase der Schwäche der benachbarten Reiche der osmanischen Türken, Russen und Perser zu eigener Staatlichkeit gelangen konnten, kann man als historisches Wunder verstehen. Man kann darin aber auch eine politische Kraft und Dynamik erkennen, die im Schatten machtpolitischer Überlagerung und Fremdbestimmung unter den Menschen und ihren Kulturen fortgewirkt hat.
Von besonderem Interesse war – im Rahmen unserer Darstellung – das Geschick der muslimischen Aseri-Türken zwischen der russischen Eroberung des südlichen Kaukasus im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und dem Ende des Ersten Weltkriegs. Zu Beginn ihrer Eingliederung in das Zarenreich schienen sie – als Muslime in einem christlichen Imperium – von den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in Russland abgehängt zu sein. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts haben sie unter den obwaltenden politischen und kulturellen Rahmenbedingungen einen Wandlungsprozess in Gang gesetzt, der schließlich zur Entstehung eines modernen Staates geführt hat. Der Weg dahin ist in mehrfacher Weise bemerkenswert: Zum einen gelang es, eine Antwort auf die fundamentale Herausforderung zu finden, der sich alle muslimischen Gesellschaften des Vorderen Orients (im Weiteren alle Muslime überhaupt) seit der militärischen Übernahme Ägyptens durch die Truppen Napoleons stellen mussten: aus dem Status einer alle Bereiche des Lebens berührenden – politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technologischen und kulturellen – Unterlegenheit auf die gleiche Augenhöhe mit Europa aufzusteigen und zugleich den Kern einer muslimisch-türkischen Identität zu wahren. Mit Blick darauf hat die aserbaidschanische intellektuelle Elite in fruchtbaren Kontakten mit anderen reformerischen Persönlichkeiten unter den muslimischen Völkern des Russischen Reichs einen eigenen Weg gefunden. Zugleich sind von Russisch-Aserbaidschan über die Grenze zu Persisch-Aserbaidschan hinweg Impulse der Modernisierung übergesprungen, die auch die Revolution in Persien seit 1906 befeuerten. Als Türken haben sie schließlich in engem Kontakt mit den vielfältigen und facettenreichen politischen und kulturellen Strömungen in Konstantinopel und anderswo im Osmanischen Reich einen fruchtbaren Austausch gepflegt. In seinen Erzählungen, autobiographischen und historischen Schriften hat der in Baku geborene Jude Lew Abramowitsch Nussimbaum alias der Muslim Mohammed Essad Bey alias Kurban Said (1905–1942) der Epoche des Aufbruchs, Umbruchs und letztendlichen Scheiterns der Demokratischen Republik Aserbaidschan in ihren inneren Verhältnissen und äußeren zeitgeschichtlichen Bezügen ein literarisches Denkmal gesetzt.
Nach der kurzlebigen Volksrepublik Krim (und noch vor der Tripolitanischen Republik, S. 246) war die Demokratische Republik Aserbaidschan das erste selbstständige demokratische muslimische Staatswesen der Nachkriegsordnung im Vorderen Orient. Das erste Parlament wurde am 5. Dezember 1918 eröffnet: Es umfasste 120 Sitze, ethnisch aufgeteilt in 80 Aseri, 21 Armenier, 10 Russen, je einen für Juden, Deutsche, Polen und Georgier sowie fünf an die allgemeinen Gewerkschaften sowie die Gewerkschaft der im Ölsektor Beschäftigten. Die stärkste Fraktion stellte die Müsavat-Partei. Mit Blick auf die Zukunft des Staates spannte sich das Spektrum der Programme der anderen Parteien von vollständiger Unabhängigkeit bis zum Verbleib in Russland. Mit der Einführung des Frauenwahlrechts war die Demokratische Republik Aserbaidschan der erste mehrheitlich muslimische Staat, in dem Frauen und Männer über gleiche Rechte verfügten. Unter der Führung der politischen Protagonisten, deren einige vorstehend genannt worden sind, begann der Aufbau staatlicher Strukturen, der Verwaltung und einer nationalen Armee. Die neu gegründete Universität Baku wurde die erste moderne Universität des Landes.
Die Tatsache, dass zwischen dem Anfang und dem Ende der Aserbaidschanischen Republik fünf Kabinette die Regierung bildeten, lässt freilich ihre innere Fragilität erkennen. Tatsächlich vollzog sich der Aufbau des Staates unter schwierigen Rahmenbedingungen. Erste Hauptstadt war Gändschä, da Baku noch immer von einer revolutionären Kommune regiert wurde, die sich bereits im November 1917 an die Macht gebracht hatte. Dort war es Ende März 1918 zu den erwähnten schweren Massakern an Muslimen gekommen. Erst nach der Befreiung Bakus durch die »Islamische Armee« Enver Paschas (die wiederum mit Massakern an Tausenden von Armeniern verbunden war) im September zog die Regierung nach Baku um. Die Wirtschaft des jungen Staates lag darnieder; namentlich auf dem Lande war die Lage dramatisch. Um die Rote Armee zu schwächen, behinderte England den Export aserbaidschanischen Öls, was die finanziellen Probleme der Regierung verschärfte. Territoriale Dispute mit den gleichfalls jungen Staaten Georgien und Armenien schwächten die Regierung. Während mit Georgien ein vertraglicher Ausgleich zustande kam, eskalierte der Konflikt mit Armenien. Hartnäckig forderte die Regierung in Jerewan die Abtretung weiterer aserbaidschanischer Gebiete. Um Blutvergießen zwischen Aserbaidschanern und Armeniern im Lande selbst zu verhindern und lokale Unruhen niederzuschlagen, rückten am 7. November noch einmal britische Soldaten in Baku ein. Wenige Tage zuvor, am 30. Oktober 1918, war das Osmanische Reich mit dem Waffenstillstand von Mudros aus dem Ersten Weltkrieg ausgeschieden und hatte seine Truppen auch aus dem Kaukasus zurückgezogen.
Im August 1919 verließen die britischen Truppen nunmehr definitiv das Land. Damit verschärften sich die inneren und äußeren Konflikte. Die Konzentration auf den Konflikt mit Armenien und das Ausbleiben staatlicher Einnahmen hatte schwere innenpolitische Auswirkungen. Außerstande die soziale und wirtschaftliche Not zu lindern, musste sie die Agitation radikaler prosowjetischer Gruppen hinnehmen, die das Land zu destabilisieren suchten – mit dem Ziel, es auf die Machtübernahme russisch-sowjetischer Truppen vorzubereiten. Noch freilich war die Rote Armee durch die letzte Phase des Bürgerkrieges gegen die Weiße Bewegung gebunden. So begnügten sich prosowjetische Aktivisten zunächst damit, soziale Unruhen anzuheizen. Die endgültige Niederlage der Weißen gegen die Rote Armee zu Beginn 1920 veränderte die Ausgangslage: Jetzt wurden militärische Kräfte frei, die sich daranmachen konnten, den Südkaukasus – beginnend bei Aserbaidschan – zurückzuerobern. Offenkundig hatte sich Lenins Erwartung, die nicht-russischen Völker des ehemaligen Zarenreichs würden sich auf der Grundlage einer eigenständig erlangten sozialistischen Ordnung dem Mutterland der Revolution anschließen, nicht erfüllt. Auch war das Interesse der sowjetischen Führung an der Ölversorgung aus Baku bestimmend. Anfang 1920 entstand in Aserbaidschan eine Kommunistische Partei (AKP).
Die internationale Gemeinschaft, d. h. auch die in Paris versammelten Staatsoberhäupter, hatte bis dahin dem Kaukasus geringe Aufmerksamkeit entgegengebracht. Woodrow Wilson hatte eine aserbaidschanische Delegation bereits im April 1918 – wenn auch ohne großes Interesse und erkennbare Nachwirkungen – empfangen. Angesichts der sich abzeichnenden Entwicklungen aber versammelten sich am 11. Januar 1920 die Staatsoberhäupter und die Außenminister der führenden Siegermächte (Frankreich, England und Italien) sowie die Botschafter der USA und Japans, um die Lage in den Kolonien des zerfallenen Zarenreichs in Asien – darunter Aserbaidschan – zu beraten. Im Ergebnis entschieden sie, Georgien und Aserbaidschan als faktisch bestehende Staaten im Kaukasus anzuerkennen. Diese De-facto-Anerkennung sollte vor allem die Position dieser Länder gegenüber Sowjetrussland auf dem diplomatischen Parkett gewissermaßen immun machen und zum Widerstand gegen eine Invasion vonseiten Sowjetrusslands in den Kaukasus ermuntern.
Diese Entscheidung sollte die Führung in Moskau nicht beeindrucken. Am 21. April 1920 – Aserbaidschan befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Krieg mit Armenien um Karabach – wurde von der Heeresleitung der Bolschewiki im Kaukasus die Operation zur Einnahme von Baku gebilligt. Drei Tage später wurden auf Befehl des Zentralkomitees der AKP all ihre Mitglieder und der gesamte Parteiapparat in den militärischen Notstand versetzt. Sie organisierten sich in kleinen bewaffneten Gruppen, die in der Nacht vom 26. auf den 27. April die aserbaidschanisch-russische Grenze bei Dagestan überquerten und sich auf Baku zubewegten. Ein Vorläufiges Komitee für die Revolution stellte der Regierung ein Ultimatum: Darin wurden die Übergabe der Regierung und die Anerkennung der Sowjetmacht gefordert. Die Regierung sah sich zu schwach, Widerstand zu leisten; deshalb akzeptierte sie das Ultimatum und löste sich auf. Das Revolutionäre Komitee Aserbaidschans übernahm die Macht in Baku. Mitte Mai wurde das gesamte Territorium der »Volksrepublik Aserbaidschan« – mit Ausnahme der Territorien an der armenischen Grenze (wegen des noch andauernden Krieges) – sowjetisiert.
Ermutigt durch den Vertrag von Sèvres ( S. 157), in dem der Republik Armenien große Teile Ostanatoliens zugesprochen wurden (die in Brest-Litowsk an das Osmanische Reich gefallen waren), machten sich armenische Truppen daran, diese Gebiete militärisch zu besetzen. Nach anfänglichen Erfolgen erlitten sie eine vernichtende Niederlage. Im Vertrag von Alexandropol (heute Gümrü) am 2. Dezember musste Armenien auf seine Ansprüche verzichten. Zu einer Ratifizierung des Vertrages durch das armenische Parlament sollte es nicht mehr kommen, denn bereits am 6. Dezember riefen armenische Bolschewiken die Armenische Sozialistische Sowjetrepublik aus. Damit aber war nicht mehr die Regierung eines unabhängigen demokratischen armenischen Staates, sondern eine von Moskau abhängige Regierung in Jerewan der künftige Verhandlungspartner in Sachen der Grenzziehung zwischen der im Entstehen begriffenen neuen Türkei und den südkaukasischen Gebieten des ehemaligen Zarenreichs. Am 11. Februar 1921 schließlich marschierten Verbände einer »Arbeiter- und Bauernarmee« in Georgien ein und nahmen am 25. Februar die Hauptstadt Tiflis ein; noch am selben Tag wurde die Georgische Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen.
So waren staatliche Gebilde entstanden, die zwar formal zunächst noch als unabhängige Staaten fortbestanden, faktisch aber den Richtlinien aus Moskau unterworfen waren; dort wurden auch die das Schicksal ihrer Länder betreffenden Verträge abgesegnet. Seit dem 12. März 1922 bildeten die drei Republiken gemeinsam die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik. Mit der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) am 30. Dezember 1922 wurde diese Teil eines neuen, russisch dominierten Vielvölkerstaates mit einer föderalen Unionsverfassung. Faktisch verloren Georgien, Armenien und Aserbaidschan jedoch endgültig ihre Unabhängigkeit. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 sollte das Großreich, das als zaristisches 1917/18 untergegangen und in der Folge als sowjetisches wieder auferstanden war, für immer von der Landkarte verschwunden sein. Neue Staaten entstanden; im Kaukasus konnten ihre Gründer auf die kurze staatliche Tradition der Jahre zwischen 1918 und 1921 zurückblicken. Zum Unglück der Völker aber sollten die alten Konflikte – verschärft durch in der Sowjetzeit getroffene weitere Maßnahmen und Entscheidungen – wiederaufleben.
Nach erfolgter Einverleibung der drei südkaukasischen Republiken im Jahr 1921 fixierte Russland zugleich seine Grenze zu seinen drei vorderorientalischen Nachbarn. Am 16. März 1921 wurde in Moskau ein Freundschaftsvertrag mit der kemalistischen Bewegung geschlossen, der im Vertrag von Kars im Oktober bestätigt werden sollte ( S. 218). Bereits am 26. Februar war ein Freundschaftsvertrag mit Persien zustande gekommen ( S. 221). Ihm folgte zwei Tage später ein ähnliches Abkommen mit Afghanistan. Es war der erste völkerrechtliche Schritt dieser Art seit seiner Unabhängigkeit von England. Dass damit der Dynamik der Südexpansion Russlands kein definitives Ende gesetzt war, sollten die Türkei 1945, Iran 1945/6 und Afghanistan im Jahrzehnt nach 1979 erfahren.
Nahe der afghanischen Grenze entschied sich auch das persönliche Schicksal Enver Paschas, der als Kriegsminister der osmanischen Kriegführung einen Hauch von Panturkismus verliehen hatte. An seinen irrlichternden Aktivitäten nach seiner Flucht von Konstantinopel nach Berlin können die Verwicklungen und Triebkräfte im Kaukasus und Zentralasien – nicht zuletzt unter dem Aspekt panturkischer Ideen wie in einem Brennglas nachvollzogen werden. Nach dem Waffenstillstand von Mudros musste sich die von Enver befehligte »Islamische Armee« aus dem Kaukasus zurückziehen; eine britische Truppe sollte bis auf Weiteres das Vakuum füllen und für Stabilität sorgen. In Berlin hatte das gestürzte Triumvirat alte deutsche Freunde getroffen. Unter den Netzwerken sollten die Beziehungen zwischen Enver Pascha, Ex-Kriegsminister des Osmanischen Reichs, und Hans von Seeckt, seit Dezember 1917 dessen Generalstabschef, in besonderer Weise aktiv werden. Im Zusammenspiel mit deutschen Kommunisten reiste Enver 1919 im Auftrag von Seeckts nach Moskau, um die Möglichkeiten einer deutsch-sowjetrussischen Militärkooperation zu sondieren. Zugleich suchte er die Bolschewiken von einem antiimperialistischen Bündnis mit den türkischen Nationalisten gegen Großbritannien zu überzeugen. Diese Pläne mündeten schließlich in der Idee einer »grünen bolschewistischen Armee«, einer islamischen Streitmacht, die sich mit Einheiten der Roten Armee vereinen sollte, um die Türkei von der alliierten Fremdherrschaft zu befreien. Dabei propagierte Enver im russischen Exil einen panturkischen Staat, der vom Balkan bis nach Ostasien reichen und islamische und sozialistische Elemente vereinen sollte.
Während derartige Pläne noch auf dem Kongress der Völker des Ostens, der im September 1920 in Baku stattfand und auf dem auch die Muslime Russlands noch um einen Weg der Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Sozialismus und eigenständiger kultureller Identität rangen (Enver hatte an der Veranstaltung teilgenommen), einen Hauch von Machbarkeit gehabt haben mögen, mussten sie ein Jahr später als Utopie erscheinen: Mustafa Kemal hatte die Pläne Envers kategorisch zurückgewiesen (das Verhältnis der beiden war ohnehin stets von Abneigung und Widerspruch gekennzeichnet gewesen) und in der bolschewistischen Führung hatten sich diejenigen durchgesetzt, die entschlossen waren, bei der Wiedererrichtung des Imperiums auf Gewalt zu setzen. Dagegen hatte sich in Turkestan ein Widerstand erhoben, der sich aus sehr unterschiedlichen Verlierern der Revolution zusammensetzte. Er war nicht übergreifend organisiert, sondern einzelne Gruppen kämpften verstreut in Turkestan, in Buchara und im Fergana Tal. Mangels eines konsistenten Programms waren sie als basmači (»Räuber«) gebrandmarkt. Im November 1921 tauchte Enver in Turkestan auf. In Moskau erwartete man von ihm, er werde die versprengten Gruppen der islamischen Nationalisten sammeln und in einer in Moskau gegründete Liga der islamischen revolutionären Gesellschaften (Islam ihtilal cemiyetleri ittihadı) zusammenschließen können. Es war für Enver unschwer zu erkennen, dass man sich in Moskau seiner zu entledigen bzw. ihn zu instrumentalisieren suchte. Er wechselte die Fronten: Im Mai 1922 wurde er von den basmači als »Oberster Führer der Armeen von Buchara, Chiwa und Turkestan« anerkannt und soll sich nun selbst zum Emir von Turkestan, ja sogar zum Vertreter des Propheten Muhammad ausgerufen haben.28 Am 4. August 1922 wurde Enver während eines Feuergefechts mit sowjetischen Soldaten zwischen Buchara und Duschanbe getötet.
Damit war der panturkische Traum nicht endgültig ausgeträumt. Nach dem Ende der Sowjetunion (1991) sollte er – unter türkischen Politikern – wieder geträumt werden. Substantielle politische Ergebnisse waren freilich nicht zu verzeichnen. Er blieb ein in kleinen Netzwerken umgehendes Gespinst; aber selbst in Zeiten von Staats- und Regierungschef Erdoğan ist er nicht ausgeträumt.