Читать книгу Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft - Udo Steinbach - Страница 20
2.3.2 Flächendeckende Unterwerfung
ОглавлениеBereits vor der Begründung der britischen Dominanz am Nil hatte auch Frankreich im Mittelmeerraum seine Macht zu Lasten der osmanischen Herrschaft ausgeweitet. 1830 hatte es begonnen, Algerien systematisch zu unterwerfen. Ausgehend von Differenzen in einem handelspolitischen Disput zwischen Paris und Algier hatte es einen regelrechten Krieg gegen den Dey (Titel des osmanischen Regenten in Algier) vom Zaun gebrochen. Am 5. Juli streckte dieser vor dem Expeditionsheer die Waffen. Danach setzte – gegen einen hartnäckigen Widerstand, der in den ersten Jahren mit dem Namen Abd al-Qadirs (1808–1883) verbunden war – Zug um Zug die schließlich flächendeckende Unterwerfung des Landes ein. Damit war zugleich ein Prozess der Landnahme durch vornehmlich französische Siedler verbunden. Bereits 1848 wurden Algerien zum französischen Staatsgebiet und die Provinzen Oran, Algier und Constantine zu Départements erklärt. Ein Beschluss des Senats in Paris von 1865 machte alle Bewohner Algeriens zu Franzosen. Sie unterstanden einem speziell geschaffenen muslimischen Rechtsstatut (statut musulman), das sie von öffentlichen Ämtern ausschloss und ihnen das Wahlrecht verweigerte – es sei denn, sie waren bereit, ihren muslimischen Rechtsstatus (besonders im Ehe- und Erbrecht) zugunsten des Code Napoléon aufzugeben. Mit der zugunsten der colons erfolgenden Verteilung weiter Ländereien nahm die französische Herrschaft den Charakter eines Siedlerkolonialismus an. Bis zur Erreichung der Unabhängigkeit (1962) waren die muslimischen Algerier Bürger zweiter und dritter Klasse. Ihnen blieben elementare Bürgerrechte vorenthalten; so war das Französische alleinige Amts- und Unterrichtssprache. Lediglich in einer kleinen Zahl von staatlich beaufsichtigten Koranschulen war der Gebrauch des Arabischen erlaubt.
Mit der Festigung kolonialer Strukturen in Algerien war in Paris der Appetit geweckt: Nun bot sich Tunesien als nächster Schauplatz an, einverleibt zu werden. Wie Ägypten besaß auch Tunesien im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert ein hohes Maß an Selbstständigkeit. Ahmad Bey (1837–1855) war ein Reformer, der sich an Mehmet Ali in Ägypten orientierte. Diesem kam er in seinem Ehrgeiz, eine neue Armee aufzubauen, nahe. Mit Bezug auf Ausbildung und Ausrüstung wandte er sich vor allem an Frankreich. Dies sowie ehrgeizige Infrastruktur- und Bauvorhaben taten ein Übriges, auch Tunesien in die Schuldenfalle zu treiben. 1869 führte der Anstieg der Verschuldung zum Bankrott des Landes. Der Bey musste seine Souveränität an eine internationale Finanzkommission abtreten.
In den 1870er Jahren verständigten sich die europäischen Mächte über die Aufteilung von Gebieten des Osmanischen Reichs im Mittelmeerraum. Auf dem Berliner Kongress (1878) war schließlich diesbezüglich Einvernehmen erzielt worden. Nachdem Zypern unter britische Herrschaft geraten war (1878), suchte Frankreich, das seinen Einfluss im Mittelmeerraum zu stärken bemüht war, gleichsam eine Kompensation. Angesichts des ohnehin bestehenden Einflusses und der praktizierten Schuldenverwaltung lag es aus Pariser Sicht nahe, diese in Tunesien zu suchen. Dort tat der Bey zwar sein Bestes, seinen Verpflichtungen gegenüber den Gläubigern nachzukommen. Gleichwohl forderte ihn die Pariser Regierung 1879 auf, sein Land unter französisches Protektorat zu stellen. Als er sich weigerte, lief alles nach »bewährtem« Muster ab: Den Konkurs eines französischen Staatsangehörigen nahm der französische Konsul in Tunis zum Anlass, drastisch überhöhte Entschädigungsforderungen geltend zu machen. Als das nicht fruchtete, begann Frankreich mit der militärischen Besetzung des Landes. Am 12. Mai 1881 sah sich der Bey gezwungen, einen Vertrag zu unterzeichnen, in dem er seine Bindungen an das Osmanische Reich aufgeben und die Souveränität Tunesiens an Frankreich abtreten musste. Tunesien war unter Fremdherrschaft geraten. Anders als im Falle Algeriens, das als Siedlungskolonie Frankreich einverleibt wurde, behielten der Bey und seine Verwaltung Spielräume formaler Eigenständigkeit. Gleichwohl lag die eigentliche Macht bei dem französischen Generalresidenten.
Marokko war das nächste nordafrikanische Land, das ins Fadenkreuz europäischer kolonialistischer Ambitionen geriet. Über nahezu zwei Jahrzehnte feilschten Frankreich, England, Italien, Spanien und schließlich auch Deutschland um die Machtverteilung im westlichen Mittelmeer. Erst das im April 1904 zwischen London und Paris geschlossene Abkommen, das als entente cordiale in die Geschichte eingegangen ist, bestätigte den Anspruch Frankreichs, »vornehmlich weil es auf einer langen Strecke Marokkos Grenznachbar ist«, so das Abkommen, »über die Ruhe in diesem Land zu wachen und ihm bei allen Verwaltungs-, Wirtschafts-, Finanz- und Militärreformen, deren es bedarf, Beistand zu leisten.« Auch der marokkanische Sultan hatte gegen Ende des Jahrhunderts begonnen, das Land im Ausland zu verschulden; entsprechend verstärkte sich die europäische Einflussnahme. 1907 kam es zu Übergriffen gegen ausländische Unternehmen. Am Ende stand wieder die Anwendung militärischer Gewalt: In Fes musste Moulay Abd al-Aziz am 30. März 1912 einen Vertrag unterschreiben, der Marokko zu einem Protektorat Frankreichs erklärte. Zugleich gerieten der Norden sowie Teile im Süden des Landes unter spanische Kontrolle.
Zuvor war es bereits Italien gelungen, einen Teil seiner Ansprüche durchzusetzen. Im Ringen um den Mittelmeerraum hatte sich Rom zu kurz gekommen gefühlt. An Marokko hatte es kein Interesse gezeigt, jedoch hatte Paris die Zustimmung Roms zu seiner Marokko-Politik mit der Versicherung erkauft, einer italienischen Besetzung Libyens keinen Widerstand entgegen zu setzen. Dort unterhielt Konstantinopel nur eine relativ schwache militärische Präsenz. Sie hatte nicht zuletzt die Aufgabe, die Niederlassung namentlich italienischer Siedler zu unterbinden. Rom entschied sich nun für militärische Gewalt und erklärte den Osmanen im September 1911 den Krieg, den es angesichts des osmanischen Widerstands bald auf das östliche Mittelmeer ausdehnte. Im April/Mai 1912 besetzten die Italiener Rhodos und andere Inseln der Dodekanes. Um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern, intervenierten die europäischen Mächte diplomatisch: Im Oktober 1912 wurde ein Friedensvertrag unterzeichnet; Libyen wurde wie Algerien unter direkte Verwaltung gestellt. Auch in der Levante wuchs der Einfluss der europäischen Mächte, namentlich Frankreichs und Englands. Während aber die Länder Nordafrikas flächendeckend unter unmittelbare europäische Herrschaft gerieten und – teils de facto, teils de iure – aus dem osmanischen Staat herausgelöst wurden, blieb der europäische Einfluss im Raum östlich des Mittelmeers, d. h. im Raum (Groß-)Syriens, namentlich im Libanon und Palästina, indirekter Natur. Als Folge der ägyptischen Eroberung 1831 und der zehnjährigen Verwaltung war die Koexistenz von christlichen Maroniten und Drusen im Libanon zusammengebrochen. Die Osmanen versuchten, ihre Stellung dort wieder zu festigen, was jedoch in Europa auf Widerstand stieß. Insbesondere Frankreich war bemüht, auf dem Boden des von Drusen dominierten Emirats im Mont Liban wieder ein eigenständiges maronitisches Fürstentum zu errichten. Die Spannungen zwischen Drusen und Maroniten gipfelten 1860 in Gewaltausbrüchen, deren blutigster Schauplatz Damaskus war. Jenseits der lokalen Dimension des Konflikts entlud sich darin auch der Widerstand gegen den wachsenden Einfluss von Nicht-Muslimen im Gefolge der osmanischen Reformdekrete ( S. 53). Die Regelungen, die künftig das Zusammenleben der verschiedenen Religionsgemeinschaften ordnen sollten, räumten Frankreich und England als Schutzmächten der Maroniten und Drusen breite Mitsprache ein. Immer nachhaltiger sah sich die Hohe Pforte herausgefordert, mit diesen um die Kontrolle der Levante zu rivalisieren.
Dabei hatte es Mitte des Jahrhunderts noch so ausgesehen, als könne das Osmanische Reich als politischer Akteur im Konzert der europäischen Mächte doch noch einen stabilen Platz finden. Über die Jahrzehnte hatte Russland erhebliche territoriale Gewinne zu Lasten des Osmanischen Reichs und Persiens erzielt. Damit war auch der Einfluss des Zaren auf die Politik des Sultans und des Schahs stärker geworden. Dies hatte in europäischen Hauptstädten die Sorge genährt, der russische Machtzuwachs könne eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen auf dem Balkan und im östlichen Mittelmeer entgegenstehen. Im Vertrag von Hünkâr Iskelesi (1833) waren das Osmanische Reich und Russland sogar ein Defensivbündnis für den Fall eines Angriffs von dritter Seite eingegangen. Unter dem Motto: »Zurückdrängung Russlands hinter seine natürlichen Grenzen«, setzte ein Gegendruck europäischer Mächte ein, der schließlich im Krimkrieg seinen blutigen Höhepunkt erfuhr. Ausgangspunkt war 1853 ein Disput zwischen dem Zaren und dem Sultan über den Schutz der Christen Palästinas; hatte doch der Zar nichts Geringeres als ein Protektorat über alle Christen Palästinas gefordert, was der Sultan verweigert hatte. Nach dem Angriff Russlands auf die der lockeren Oberhoheit Konstantinopels unterstehenden Fürstentümer Moldau und Walachei Ende Juni 1853 erklärte der Sultan – durch England ermutigt – im Oktober Russland den Krieg. Neben London trat auch Paris an die Seite Konstantinopels; im Januar 1855 folgte das italienische Königreich Sizilien. Schon seit Dezember 1854 befand sich Österreich im Bunde mit den Westmächten, allerdings ohne die Verpflichtung zur aktiven Teilnahme an den militärischen Operationen. Lediglich Preußen stand abseits, hatte sich aber dem alliierten Ultimatum vom Februar 1854 angeschlossen, in dem die Integrität der Türkei und die Räumung der Donaufürstentümer durch Russland gefordert worden war.
Der Verlauf des Krieges konzentrierte sich schließlich auf die Belagerung von Sevastopol, die im Oktober 1854 begann und nahezu ein Jahr dauern sollte. Im September 1855 gaben die russischen Truppen die Festung auf. Bei den Friedensverhandlungen in Paris saßen alle kriegführenden Parteien sowie Österreich und Preußen am Verhandlungstisch. In dem Vertrag, der am 18. März 1856 geschlossen wurde, wurde das Osmanische Reich nun gewissermaßen offiziell in die Gemeinschaft der europäischen Mächte aufgenommen: Fortan durfte es an den Vorteilen und Regeln des in Europa geltenden internationalen öffentlichen Rechts teilhaben. Am Vorabend des Vertragsabschlusses hatte der Sultan ein weiteres Reformvorhaben verkündet, mit dem er den Forderungen und Erwartungen der europäischen Mächte entgegenzukommen bemüht war. Rückblickend freilich sollte das nicht viel bedeuten, lag doch die tiefere Ursache des Konflikts nicht in den Nöten der balkanischen und orientalischen Christen, sondern in der verlockenden Schwäche des Osmanischen Reichs. Das sollte sich nicht zuletzt auf dem Balkan zeigen. Die »orientalische Frage« hatte in Paris keine definitive Antwort erhalten.
Schien der Verfall des Osmanischen Reichs durch den Vertrag von 1856 noch einmal aufgehalten, so blieb doch der Balkan der Ort, an dem sich die »orientalische Frage« mit anhaltender Dringlichkeit stellte und wo sich die europäischen Mächte an ihrer Antwort darauf abarbeiteten. Das Jahrhundert zwischen dem serbischen Aufstand gegen die Osmanen von 1804 und der Unabhängigkeit Albaniens (1912) ist erfüllt von den Unabhängigkeitsbestrebungen der balkanischen Völker vom Osmanischen Reich. Dahinter zogen die europäischen Großmächte – namentlich Russland, Habsburg und England – in wechselnden Interessenkoalitionen die Fäden. Griechenland machte 1830 den Anfang: Die bereits erwähnte Seeschlacht von Navarino (20. Oktober 1827) war ein entscheidender Schritt in Richtung auf die Unabhängigkeit Griechenlands. Zug um Zug erkämpften die Serben die Unabhängigkeit. Dabei wurden sie insbesondere von Russland unterstützt, dessen Anteilnahme an den Entwicklungen auf dem Balkan auch der panslawistischen Bewegung unter der russischen Elite geschuldet war. Nach der schweren Niederlage des Osmanischen Reichs im zehnten Krieg zwischen Russland und der Türkei (1877/78), der die russischen Truppen vor den Toren Konstantinopels sah, wurde auf dem Berliner Kongress (Juni/Juli 1878) das Fell des balkanischen Bären verteilt. In neu und künstlich gezogenen Grenzen wurde die Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros und Rumäniens bestätigt. Auch der bulgarische Staat trat ins Leben, wenngleich eine eingeschränkte Oberhoheit des Sultans fortbestand. Bosnien-Herzegowina wurde der Verwaltung Habsburgs unterstellt, Zypern geriet unter britische Herrschaft. Die komplizierten territorialen Regelungen waren nicht zuletzt von dem Ziel Habsburgs und Englands geleitet, dem Einfluss Russlands auf dem Balkan entgegenzuwirken.
Der letzte Akt europäischer Aggression gegen das Osmanische Reich auf dem Balkan begann mit der Annektierung Bosnien-Herzegowinas durch Habsburg (1908). Jetzt aber war der Appetit der jungen Balkanstaaten selbst geweckt, die osmanische Herrschaft zu liquidieren. Bulgarien, Griechenland, Serbien und Montenegro schlossen sich im »Balkanbund« zusammen und entfesselten im Oktober 1912 den Ersten Balkankrieg. Die folgenden Friedensverhandlungen unter englischer Vermittlung führten zur Unterzeichnung des Londoner Vertrages vom 30. Mai 1913. Die Pforte musste auf alle europäischen Besitzungen bis auf das thrakische Hinterland von Istanbul verzichten; die albanische Unabhängigkeitserklärung vom November 1912 wurde bestätigt. Als Ergebnis des Zweiten Balkankriegs (1913) vermochte das Osmanische Reich lediglich, ganz Ostthrakien zurückzugewinnen.
Auch an den östlichen und nordöstlichen Rändern des Nahen und Mittleren Ostens hatten sich europäische Mächte festgesetzt. Soweit dies Persien und Afghanistan betrifft, wird es im Kontext des Geschichtsverlaufs in den beiden Ländern dargestellt. Zur russischen Expansion in Zentralasien und im Kaukasus ist vorstehend bereits einiges gesagt worden. Im osmanischen Mesopotamien gerieten die Provinzen Basra, Bagdad und Mossul zunehmend unter den wirtschaftlichen Einfluss Londons. Bereits 1839 hatte die East India Company Aden besetzt. Für das Königreich war die freie Schifffahrt im Persischen Golf, an der östlichen Küste der Arabischen Halbinsel sowie am Horn von Afrika und am Ausgang des Roten Meeres mit Blick auf den britischen Handel zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Indischen Ozean sowie den britischen Besitzungen auf dem indischen Subkontinent von größtem Interesse. Mit dem »Ewigen Waffenstillstand« von 1853, der jegliche feindselige Handlung auf See zwischen allen Staaten im Persischen Golf ächtete, begann die »Piratenküste« zur »Vertragsküste« (Trucial Coast) zu werden. Spätere Abkommen gingen noch weiter: So unterschrieb der Scheich von Bahrain im Jahr 1880 ein Abkommen, das de facto die auswärtigen Beziehungen seines Emirats unter britische Kontrolle stellte. Ähnliche Abmachungen mit anderen Scheichtümern folgten in den nächsten Jahren. Sie sollten nicht zuletzt sicherstellen, dass keine andere Macht, namentlich das Osmanische Reich, die britische Kontrolle gefährdete. 1899 bzw. 1916 traten Kuwait und Katar in ein Schutzverhältnis mit Großbritannien ein. Zu dem Interesse an ungestörtem Handel trat zunehmend das Interesse am Zugang zu den Ölressourcen der Region hinzu. 1907 begann die Royal Navy die Flotte von Kohle auf Erdöl umzustellen. Damit erfuhr die Region eine nachhaltige strategische Aufwertung.