Читать книгу Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft - Udo Steinbach - Страница 6

Оглавление

Vorbemerkung

Gegenstand des Buches ist die Geschichte des Vorderen Orients im 20. Jahrhundert. Dabei handelt es sich um eine der ereignisreichsten und dramatischsten Epochen dieses Raumes seit der Zerstörung des Kalifats in Bagdad durch die Mongolen im Jahr 1258.

Politisch beginnt das 20. Jahrhundert des Vorderen Orients mit der Verfassungsrevolution in Persien im Jahr 1906. Bürgerliche Kräfte in einem breiten gesellschaftlichen Spektrum ringen dem Herrscher eine Verfassung ab. Sie definiert seine Machtausübung und stärkt die Gesellschaft ihm gegenüber. Zugleich suchen sich iranisch-nationalistische Kräfte auf diese Weise der Einmischung durch europäische Mächte zu entledigen. Dieses doppelte Ringen nach innen wie nach außen kann als Vorzeichen über der politischen Entwicklung der gesamten Region im 20. Jahrhundert verstanden werden.

Wesentliche Weichenstellungen aber waren bereits im vorangegangenen Jahrhundert vorgenommen worden; deshalb war es notwendig, in der Darstellung den Blick auf diesen Zeitraum auszuweiten. Und da das chronologische Ende des 20. Jahrhunderts nicht auch das Ende der politischen und ideologischen Dynamiken bedeutete, die dieses Jahrhundert bewegt haben, musste die Darstellung auf die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts übergreifen.

Geographisch wird der Vordere Orient verstanden als der Raum von Nordafrika bis an die Grenze zum indischen Subkontinent. Diese Zusammenschau ist durch zwei Perspektiven gerechtfertigt: Zum einen ergibt sich aus der Prägung durch die islamische Religion und aus der politischen Interaktion in der Neuzeit ein hohes Maß an Kohärenz. Zum anderen hebt sich dieser Großraum geographisch wie geschichtlich deutlich von benachbarten Räumen ab – dem europäischen, dem russisch-zentralasiatischen, dem indischen und dem subsaharisch-afrikanischen.

Die zeitliche Eingrenzung ergibt sich aus der Perspektive der Gegenwart. Unübersehbar sind die Staaten und Gesellschaften im Vorderen Orient in eine tiefe Krise geraten. Sie ist geprägt durch Instabilität politischer Systeme, zwischenstaatliche Konflikte und machtpolitische Rivalitäten, gesellschaftliche Verwerfungen, ethnische Gegensätze und aus der Religion abgeleitete Gewalt. Der Zerfall von Staaten, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden sind, wird nicht mehr ausgeschlossen. Die Missachtung staatlicher Souveränität ist geradezu ein Prinzip des außenpolitischen und militärischen Handelns regionaler und internationaler Akteure geworden.

Aus der Perspektive der Gegenwart ergibt sich somit die Frage nach der Ursache und den Triebkräften für den Verfall des vorderorientalischen Großraums in einen buchstäblich chaotischen Zustand. Der Blick fällt dabei auf den Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach einem Jahrhundert von Reformprozessen und von Bemühungen, sich der unabweisbaren Tatsache europäischer politischer und wirtschaftlicher Überlegenheit und imperialistischer Aggressivität zu stellen, kam es 1906 mit der Verfassungsrevolution in Iran zu einem ersten tiefen Bruch in der traditional bestimmten Ausübung von Herrschaft. Ihr folgte die jungtürkische Revolution; und mit dem Ende des Osmanischen Reichs war die Zukunft des Vorderen Orients insgesamt geöffnet. Seine Geschicke traten in ein neues Stadium.

Seither ist die Geschichte des Vorderen Orients in ständiger Bewegung. Wirklich »revolutionär« im streng politikwissenschaftlichen Sinn1 war sie wohl nur in wenigen Umbrüchen – so etwa im Falle der khomeinistischen Ablösung der iranischen Monarchie durch eine »Islamische Republik«. In vielen Fällen handelte es sich eher um Staatsstreiche unterschiedlicher Akteure, um Revolten im Sinne des Aufbegehrens gegen bestehende »Verhältnisse« oder um mehr oder minder gewalthafte Widerstands- und Befreiungsbewegungen. Gleichwohl – die Ablösung des Osmanischen Reichs durch die Gründung der Türkischen Republik, die Machtübernahme Nassers in Ägypten oder der Ba’th-Partei im Irak und in Syrien waren mehr als nur Staatsstreiche, führten sie doch zu einer nachhaltigen Ablösung überkommener Eliten und Machtstrukturen sowie zum Aufbau neuer Formen von Herrschaft und staatlicher Ordnung. Und selbst der kurzlebige marxistische Coup in Kabul (1978/79) war der Beginn eines langfristigen Prozesses politischen und gesellschaftlichen Wandels.

In der Selbstwahrnehmung der Akteure war ihr Tun eine »Revolution«. Ob »Revolution«, »Revolte«, »Staatsstreich«, »Widerstand«, »Aufbegehren« oder »Befreiung« – alle diese Ereignisse lassen die Geschichte des Vorderen Orients im 20. Jahrhundert als eine Abfolge bewegter Dramen auf der Suche nach einer neuen Ordnung erscheinen. Im Folgenden werden Begriffe wie »Revolution«, »Revolte« etc. nicht streng definiert (wenn das überhaupt möglich ist) oder gegeneinander abgegrenzt. Sie sind vielmehr Chiffren für einschneidende Ereignisse politischer und gesellschaftlicher Natur, von denen die neuere Geschichte des Vorderen Orients so erfüllt ist. Dass diese beständig von widerstreitenden geistig-kulturellen und religiösen Tatbeständen und Strömungen unterfüttert werden, ist eine Eigenheit dieses Raumes, in dem die Religion noch immer ein bestimmender Faktor des privaten und öffentlichen Lebens ist.

Als die Formel vom »Ende der Geschichte« nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Welt gesetzt wurde, zeichnete sich bereits ab, dass es sich dabei um einen fundamentalen Irrtum handelte. Nicht nur im Vorderen Orient – aber eben gerade dort mit besonderer Heftigkeit – kam es zum Ausbruch gewalthaften Handelns mit der Folge bisher nicht gekannter Erschütterungen. Der Terrorismus war die Spitze dieses Eisbergs. Die »Geschichte« ging also weiter, und so stellt sich die Frage nach ihrer Richtung. Darauf zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine konkrete Antwort zu geben, wäre ein verwegenes Unterfangen. Aber um in die Zukunft zu schauen, muss man die Geschichte und ihre Wirkkräfte kennen. Die Revolte, die ab 2011 auch den arabischen Raum zu verwandeln begonnen hat (drei Jahrzehnte nach der Revolution in Iran), lässt erste Eckpunkte des künftigen Geschehens erkennen: Ein enormer Druck wird von der Zivilgesellschaft ausgehen; von Männern und (vor allem) Frauen, die sich, was Bildung und Information betrifft, in globalisierten Räumen bewegen. Der Stellenwert der Religion, die zu politischem Missbrauch vielfältiger Art instrumentalisiert worden ist, innerhalb der politischen Systeme und gesellschaftlichen Ordnungen wird sich verändern. Verändern werden sich auch die Mechanismen wirtschaftlichen Handelns, die von Netzwerken sehr unterschiedlicher Natur, welche sich als überlebt und entwicklungshemmend erwiesen haben, zum eigenen Vorteil und zum Schaden der Gesellschaften bedient worden sind.

Über Jahrzehnte ist der Vordere Orient Gegenstand eines starken öffentlichen Interesses. An dieses richtet sich die hier vorgelegte Darstellung. Die geographische Ausdehnung des Raumes und die Vielfalt der Entwicklungen über ein Jahrhundert in ihm zwangen zu einer konzentrierten Darstellung. Deswegen wurde auf einen detaillierten Apparat von Anmerkungen und Erläuterungen verzichtet. Eine umfangreiche Online-Bibliographie (https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-031338-5) soll Hilfestellung bei weiterreichendem Interesse leisten. Mit Blick auf den breiten Kreis der Interessenten wurde auf Literatur in den orientalischen Sprachen (und im Russischen) verzichtet. Zahlreiche der in die Bibliographie aufgenommenen Titel enthalten ausführliche Überblicke über Quellen und originale Dokumente.

Wie stets bei Arbeiten über den Nahen Osten stellte die Umschrift von Orts- und Eigennamen, Begriffen, Parteien und Organisationen, Buchtiteln und Zitaten eine Herausforderung eigener Art dar. In Betracht kamen Arabisch, Persisch, Osmanisch-Türkisch, Aserbaidschanisch-Türkisch, Hebräisch, Kurdisch und Paschtu sowie Russisch. Ein erheblicher Grundbestand an Namen und Begriffen entstammen der arabischen Sprache. Nun ist aber der Lautstand der Aussprache arabischstämmiger Wörter im Persischen und Osmanischen sehr unterschiedlich. So klafft zwangsläufig beständig eine Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen Umschrift nach den Grundsätzen der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft und der tatsächlichen Aussprache im Persischen und Osmanischen. (Für das heutige Türkisch wurde die gängige türkische Orthographie verwendet.) Dies geht so weit, dass selbst bei der eigentlich korrekten Assimilierung des arabischen Artikels (al-) an bestimmte nachfolgende Konsonanten um der gesprochenen und gehörten Aussprache willen Unregelmäßigkeiten und Widersprüche in Kauf genommen wurden. Erwähnt werden muss schließlich auch, dass die Wiedergabe orientalischer Sprachen im Englischen und Französischen sehr unterschiedlich ausfällt. England und Frankreich aber waren über Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts die Mächte, an deren Lautstände die Eliten die Umschrift ihrer Sprachen ausgerichtet haben. Auch hier wurde der dem Leser (etwa aus den Medien) vertrauten Schreibweise Vorrang vor wissenschaftlichem Purismus eingeräumt. Akronyme in allen Sprachen wurden in der Mehrheit nach großem Anfangsbuchstaben klein geschrieben, um das Schriftbild einheitlich zu gestalten (also: Uno, Nato, Hamas, Palmach etc.).

Berlin, im April 2021Udo Steinbach
Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft

Подняться наверх