Читать книгу Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft - Udo Steinbach - Страница 19
2.3 Von Reformen zu Abhängigkeit und Einmischung 2.3.1 Der Weg in die Falle
ОглавлениеNach der Vertreibung der Franzosen aus Ägypten (1801) durch osmanische Truppen mit britischer Unterstützung war in Kairo ein Machtkampf ausgebrochen. Während die alten turko-tscherkessischen Seilschaften darum rangen, wieder die Macht zu übernehmen, suchte der Sultan in Konstantinopel genau das zu verhindern. Nach langem Ringen erkannte er Mehmet Ali als osmanischen Statthalter in Kairo an. Um 1770 in Kavala geboren und selbst von nicht eindeutig bestimmbarer ethnischer Zuordnung, war er Mehmet Ali der Führer des lokalen militärischen Kontingents gewesen, das dem Aufruf des Sultans zur Expedition nach Ägypten gegen die Franzosen gefolgt war. Dabei hatte es sich um etwa 300 Soldaten vornehmlich albanischer Herkunft gehandelt.
Mehmet Ali sollte zum ersten und zugleich umfassendsten Reformer auf dem Boden des Osmanischen Reichs und darüber hinaus im Vorderen Orient werden, der radikale Lehren sowohl aus der Schwäche des Reichs und seiner Provinzen als auch aus der Überlegenheit Europas zog, von welcher Ägypten soeben einen Vorgeschmack erhalten hatte. In seiner langen Regierungszeit (1805–1848) legte er die Grundlagen eines modernen, nach europäischem Vorbild aufgebauten Staates. Dennoch wurde Ägypten 1876 mit der Schaffung der Caisse de la Dette Publique unter europäische Finanzverwaltung gestellt: der erste Schritt in Richtung auf die vollständige Kontrolle des Landes, die mit der britischen Besatzung 1882 eingeleitet wurde. Wie konnte das geschehen?
Die Aufmerksamkeit Mehmet Alis galt in allererster Linie der Armee. Ohne grundsätzlich und formell die Oberhoheit des Sultans in Frage zu stellen, sollte sie die Sicherheit und außenpolitische Handlungsfähigkeit des jungen Staates, die durch eigene Interessen Ägyptens bestimmt sein würde, gewährleisten. Vor allem war sie das Instrument des Herrschers, ehrgeizige Pläne territorialer Expansion zu verwirklichen. Voraussetzungen dafür aber waren vom Staat forcierte wirtschaftliche, namentlich auch industrielle Entwicklung und technische Erneuerung. Zugleich übernahm der Staat die Kontrolle über die landwirtschaftliche Produktion und die daraus erzielten Einnahmen. Dafür freilich mussten die institutionellen Voraussetzungen geschaffen werden. Nach der Entmachtung der einheimischen Notabeln begann Mehmet Ali, eine auf Aushebung beruhende Armee nach europäischem Vorbild aufzustellen.
Wirtschaftliche Modernisierung und die Verwirklichung weitreichender politischer und militärischer Ziele waren nicht voneinander zu trennen. Der Aufbau von Fabriken vonseiten des Staates war zum einen an den militärischen Bedürfnissen orientiert. Darüber hinaus sollte sich die ägyptische Wirtschaft gegen wachsenden Druck insbesondere englischer Importe behaupten können. Um eine exportfähige Textilindustrie aufzubauen, bedurfte es der Zentralisierung der finanziellen Ressourcen des Staates. Sie wurde mit der Ausschaltung der mamlukischen Machtstrukturen, die wesentlich auf der Steuerpacht beruht hatten, erreicht.
Zur Durchsetzung seiner Ziele bedurfte Mehmet Ali europäischer Erkenntnisse und Produktionsmethoden. Unter den Experten, die er ins Land holte, dominierten die Franzosen. Sie standen an der Spitze der Ausbilder der Armee; man fand sie in den entstehenden Industriebetrieben und in der Verwaltung. In den Bereichen wie Technik, Medizin, Pharmazie, Veterinärmedizin, Landwirtschaft und Verwaltung entstanden Fachschulen, die von Ausländern geleitet wurden. Das Erlernen von Fremdsprachen, namentlich des Französischen, wurde besonders gefördert.
Zugleich wurden junge Ägypter zum Studium ins Ausland geschickt. Der ersten Studentenmission, die zum Studium technischer Fertigkeiten und Fachgebiete sowie der Sprache nach Frankreich geschickt wurde, war ein junger Mann beigeordnet, der in den kommenden Jahrzehnten in vielen Bereichen des Erziehungswesens und der Verwaltung eine nachhaltige Rolle spielen sollte: Rifa’a at-Tahtawi (1801–1873). Von ihm wird unten noch zu sprechen sein.
Parallel zu der Modernisierung im Inneren verfolgte der Herrscher in Kairo eine Außenpolitik, die imperialistische Züge trug. Sie hatte drei Stoßrichtungen: die Erschließung von Märkten, von Rohstoffquellen sowie die Kontrolle von Handelswegen. Mit dem Sieg über die Wahhabiten auf der Arabischen Halbinsel, der in der Zerstörung von Dir’iyya, dem Stammsitz der Familie Sa’ud gipfelte (1818), sicherte sich Mehmet Ali die Kontrolle über den Transithandel auf dem Roten Meer und dessen östliche Küste. Zwischen 1820 und 1823 wurde der Sudan erobert; damit kontrollierte er Teile des Afrikahandels. Einem Ersuchen des Sultans in Konstantinopel folgend (der de iure noch immer sein Oberherr war), entsandte er 1825 seine Armee nach Griechenland, um die osmanische Armee dort im Kampf gegen die aufständischen Griechen zu unterstützen. Auch dabei verfolgte er eigenständige Interessen: Bei einem Sieg würde er den Handel im östlichen Mittelmeer kontrollieren. Jetzt aber zogen europäische Mächte der ägyptischen Expansion eine rote Linie. Besonders in London wurden die wirtschafts- und handelspolitischen Ziele Kairos als Bedrohung eigener Wirtschaftsinteressen empfunden. Vor Navarino vernichtete im Oktober 1827 ein britisch-französisch-russischer Flottenverband die ägyptisch-türkische Flotte. Sie wurde von Ibrahim Pascha (1789–1848), einem Sohn Mehmets, kommandiert.
Damit aber war der Ehrgeiz des ägyptischen Herrschers nicht gebrochen. Seit langem hatte er ein Auge auf (Groß-)Syrien geworfen. Für seine Industrieprojekte benötigte er syrische Rohstoffe, namentlich Holz für den Schiffbau, darüber hinaus Seide und Öl für den Export. Unter einem letztlich belanglosen Vorwand ließ Mehmet Ali 1831 seine Truppen – wiederum unter dem Oberbefehl von Ibrahim Pascha – in Syrien einmarschieren. Die Truppen überschritten das Taurusgebirge und drangen tief nach Anatolien ein. Bei Konya fügten sie Ende 1832 der im Neuaufbau befindlichen Armee des Sultans eine schwere Niederlage zu. Noch nachhaltiger als im Falle Griechenlands sahen jetzt europäische Mächte ihre eigenen politischen, aber zunehmend auch wirtschaftlichen Interessen gefährdet. Mit einem geschwächten Osmanischen Reich ließ sich gut leben; eine neue starke Macht Ägypten im Vorderen Orient war in europäischen Hauptstädten nicht hinnehmbar. Über den Vorderen Orient hinaus hatte London auch seine Stellung auf dem indischen Subkontinent im Blick.
Ibrahim Pascha war gekommen, um zu bleiben. Das ließen die nach ägyptischem Vorbild in die Wege geleiteten drakonischen Maßnahmen forcierter wirtschaftlicher Entwicklung (aber auch die gesellschaftlichen Reformen – u. a. die Gleichstellung von Muslimen und Christen) erkennen. Die Aussicht, dass sich Ägypten dauerhaft in der Levante festsetzen würde, führte für einen Augenblick zu einem Schulterschluss zwischen Konstantinopel und London. Unter dem Druck beider Regierungen musste Mehmet Ali die eroberten Gebiete aufgeben, seine Armee wurde drastisch verkleinert und die Flotte aufgelöst. Politisch und militärisch geschwächt, musste er sich darüber hinaus einem Handelsabkommen unterwerfen (1841), das europäischen Mächten entschiedene Vorteile gegenüber den ägyptischen Konkurrenten einräumte. Seine wichtigsten Bestimmungen betrafen die Aufhebung der Monopole, das Verbot protektionistischer Maßnahmen und die Festlegung von Zollsätzen zugunsten europäischer Waren.
Damit war ein Experiment zum Scheitern gebracht, das dem einsetzenden europäischen Imperialismus im Vorderen Orient ein Gegengewicht hatte in die Waagschale werfen sollen. Für einen kurzen Zeitraum war »Arabien«, d. h. der Vordere Orient, als ein eigenständiger geopolitischer Raum in Erscheinung getreten. Und mit Blick auf Ägypten sollte sich eine dauerhafte Verschiebung der machtpolitischen Großwetterlage im Osmanischen Reich ergeben: Für die verbleibende Zeit des Fortbestehens des Osmanischen Reichs wurde Ägypten zunehmend zum Fokus bei der Durchsetzung vor allem britischer Interessen zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean – ein Umstand, der mit der Eröffnung des Suezkanals (1869) an Bedeutung gewann. Zugleich bot Kairo eine alternative Bühne für die Entfaltung kultureller und intellektueller Erneuerung im Osmanischen Reich; dies namentlich während der Jahrzehnte der repressiven Herrschaft Abdülhamits II. (1876–1909). Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde das Land am Nil zum Dreh- und Angelpunkt der militärischen Operationen gemacht, die darauf gerichtet waren, das Osmanische Reich zu Fall zu bringen.
Trotz des imperialistischen Diktats, das Mehmet Ali und Ibrahim Pascha hinzunehmen gezwungen waren, setzten die Nachfolger, Sa’id (reg. 1854–1863) und Isma’il (reg. 1863–1879) die Modernisierung Ägyptens fort. Unter den wachsamen Blicken aus Paris und London aber war das Land zugleich gezwungen, sich weiter den Einflüssen und Interessen europäischer Wirtschafts- und Finanzkreise zu öffnen. Der aufwendige Lebensstil der Herrscher sowie kostspielige Bauprojekte – nicht zuletzt der Suezkanal – führten zu einer wachsenden Verschuldung der Regierung; in den siebziger Jahren nahm sie dramatische Formen an. Immer tiefer geriet der Herrscher in Kairo in die Abhängigkeit von ausländischen Finanzinteressen. Das änderte sich auch nicht grundsätzlich, als England 1875 die Aktienanteile Ägyptens an der Suezkanalgesellschaft kaufte. 1876 gründeten die – privaten und staatlichen – Gläubiger die Caisse de la Dette Publique;Ägypten wurde unter Finanzverwaltung gestellt. Als Isma’il aufbegehrte – 1867 war ihm vom Sultan der Titel eines Khediven (Vizekönig) verliehen worden – setzten London und Paris in Konstantinopel 1879 seine Absetzung durch; er ging ins Exil.
Die verbreitete Proteststimmung fand insbesondere unter den mittleren Rängen des Offizierskorps Gehör. Oberst Ahmad Orabi (1839–1911) war der Wortführer derer, die die Losung »Ägypten den Ägyptern« verbreiteten, einer Allianz von Offizieren, politisch liberalen Kräften sowie religiösen und intellektuellen Persönlichkeiten. Ihre Forderung richtete sich auf die Einführung einer Verfassung. Die Aussicht aber auf eine Regierung, die auf Eigenständigkeit pochen und sich ausländischen Interessen weniger gefügig zeigen würde, ließ in Europa die Entscheidung reifen, sich militärisch einzumischen. Im Juli 1882 besetzten britische Soldaten Alexandria, im September rückten sie in Kairo und in die Suezkanalzone ein. Orabi wurde verhaftet und in die Verbannung nach Ceylon (heute: Sri Lanka) geschickt. Bis zur Entlassung des Landes in die – völkerrechtliche – Unabhängigkeit 1922 wurde Ägypten in einer Art der indirect rule von einem britischen Generalkonsul regiert. Erst 1956 sollten sich die britischen Soldaten – auf Druck wiederum eines ägyptischen Offiziers, Gamal Abd an-Nasirs (Nasser) – aus der Suezkanalzone endgültig zurückziehen.