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2 Zwischen Diktat und Erneuerung – die europäische Herausforderung

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Vorstehende Ausführungen haben den Nahen Osten geographisch und historisch abgesteckt, wie er sich an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert darstellte und Gegenstand dieses Buches ist. (Die Gebiete Nordafrikas waren zu dieser Zeit bis auf Marokko Teil des Osmanischen Reichs.) Mit der Herausforderung durch den europäischen Imperialismus konfrontiert, begann für den Raum zwischen dem Atlantischen Ozean und dem Hindukusch, dem Kaukasus/Zentralasien und dem Sudan ein neuer historischer Abschnitt. Die überkommenen politischen Ordnungen sollten ebenso unter den Druck des Wandels geraten wie die gesellschaftlichen Strukturen, die Lebensstile und kulturellen Identitäten der Menschen.

Im weitesten und allgemeinsten Sinn war die »orientalische Frage« gestellt. Diese aber war eine Frage aufseiten der europäischen Mächte – und darin sollte bis weit ins 20. Jahrhundert das Problem liegen: Wer würde vom Zerfall des Osmanischen Reichs und der Schwäche der übrigen politischen Ordnungen profitieren? Die Entwicklungen im Vorderen Orient würden weithin durch Konstellationen von Machtinteressen bestimmt werden, die außerhalb desselben lagen. Über die Jahrhunderte hatten zahllose Kontakte friedlicher und kriegerischer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Natur zwischen »Europa« und seiner islamisch geprägten engeren und weiteren Nachbarschaft bestanden. Reisende hatten die Kunde von Mächten, Menschen, Sitten und Gebräuchen mitgeteilt, die in Europa mit Staunen aufgenommen worden waren. Entdecker hatten bislang unbekannte Räume in den Orbit europäischer wirtschaftlicher und politischer Interessen gebracht. Im Raum zwischen Ostasien und dem Mittelmeer waren die Handelsverbindungen, die von Portugiesen, Spaniern, Holländern, Franzosen und Engländern geknüpft worden waren, durch Niederlassungen und Stützpunkte gefestigt worden. Aber im Verlauf des 18. Jahrhunderts hatte sich die Qualität der Kontakte und Beziehungen zwischen Asien und Europa zu verändern begonnen. Mehr und mehr wurden aus Kontakten auf Augenhöhe politische Überwältigung und wirtschaftliche Ausbeutung. Einem imperialistischen Design folgend, wurden Handels- und Wirtschaftsinteressen zunehmend militärisch abgestützt, drangen europäische Armeen ins Innere asiatischer Länder vor und richteten eigenständige Verwaltungen ein. Mit dem nüchternen, von Interessen geleiteten Kalkül ging – ein Nebenschauplatz der Aufklärung in Europa – die »Entzauberung Asiens«8 einher.

Das Vordringen der britischen Ostindien Kompanie (British East India Company) auf dem indischen Subkontinent in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sollte für den Nahen und Mittleren Osten unmittelbare Bedeutung haben. Bereits im 17. Jahrhundert hatte sie im Südosten und in Bengalen Handelsniederlassungen errichtet. Der Zerfall des Mogulreichs und das Entstehen zahlreicher kleinerer und größerer unabhängiger Herrschaften im 18. Jahrhundert erleichterten es, die lokalen Machthaber gegeneinander auszuspielen und britischem Einfluss zu unterwerfen. Das bedeutete nicht zuletzt die Einführung eines eigenen Steuer- und die Durchsetzung des britischen Rechtssystems. Auch griff die Company militärisch in die bewaffneten Konflikte ein. 1803 kam Delhi unter britische Oberhoheit und bis zum Ausbruch des »großen Aufstands« (great mutiny) gegen die britische Herrschaft, der 1857/58 weite Teile des Nordens Indiens erfasste, waren die Briten bis an jene natürlichen Grenzen des Subkontinents vorgestoßen, die seit 1947 Pakistan von Afghanistan trennen sollten. Nach der Niederschlagung des Aufstands wurde Indien der britischen Krone unterstellt. Damit erlosch das Mogulreich auch formal und Großbritannien übte nunmehr über große Teile des Subkontinents eine direkte Herrschaft aus; 1876 wurde Königin Victoria (1819–1901) zur »Kaiserin von Indien« ausgerufen. Viceroy war nunmehr der offizielle Titel des Generalgouverneurs mit Sitz in Kalkutta. Die britische Expansion in Südasien und das Vorstoßen Russlands in Zentralasien mündete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das great game, in das Iran verstrickt und das bestimmend für die Entstehung Afghanistans werden sollte. Auf britischer Seite ging es in dem »Spiel« wesentlich darum, eine geopolitische Barriere gegen einen Vorstoß Russlands auf den indischen Subkontinent zu errichten.

Im geopolitischen Denken und Handeln der europäischen Mächte hatten das Mittelmeer und der Raum des Osmanischen Reichs, Persiens, des Kaukasus, Zentralasiens und Afghanistans einen hohen Stellenwert. Besondere strategische Brennpunkte waren die Meerengen von Bosporus und Dardanellen sowie der Suezkanal, der 1869 eröffnet wurde. Die Kontrolle Russlands über die türkischen Meerengen und dessen ungehinderter Zugang vom Schwarzen ins Mittelmeer würden die Machtverhältnisse im Mittelmeerraum zu Lasten Englands und Frankreichs, aber auch – mit Blick auf den Balkan – Österreichs verändern. Des Weiteren war die Kontrolle des Suezkanals für England mit Blick auf seine südasiatischen Besitzungen und fernöstlichen Handelsbeziehungen von essentieller Bedeutung. Der Erwerb Zyperns durch England im Jahr 1878 machte die Insel zu dessen militärischem Vorposten am Rande des Osmanischen Reichs. Eine von England dominierte Landbrücke zwischen dem Mittelmeer und dem indischen Subkontinent beflügelte die Phantasie der Politiker in London. Zugleich waren Persien und Afghanistan die Fortsetzung der geopolitischen Räume Zentralasiens und Nordwestindiens, in denen Russland und England im great game um Machtstellung und Territorien rivalisierten. Eifersüchtig wachten die beiden Mächte darüber, dass politischer und wirtschaftlicher Einfluss zwischen dem Mittelmeer und dem Indus-Tal nicht einseitig zum Vorteil des jeweils anderen gereichten.

Mit der Industrialisierung in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts stieg die Dringlichkeit der Suche sowohl nach Rohstoffen als auch nach Absatzmärkten für europäische industrielle Produkte. Baumwolle, Rohseide sowie andere agrarische Erzeugnisse ließen die begehrlichen Blicke vor allem Englands, Frankreichs und Italiens auf Ägypten, die Levante und Nordafrika fallen. Vor diesem Hintergrund galt es, politische Rahmenbedingungen zu schaffen, die europäischen Produkten einen privilegierten Zugang zu den Märkten in der nah- und mittelöstlichen Nachbarschaft gewährleisten würden. Neben direkter und indirekter politischer und militärischer Einmischung war die wachsende Präsenz von Beratern in Verwaltung, Militärwesen und Wirtschaft ein Instrument, den Vorrang europäischer Interessen sicherzustellen. Außer Industrieprodukten und Handelswaren boten sich die Herrscher im Raum des Osmanischen Reichs auch als »Partner« für lukrative Banken- und Kapitalgeschäfte an. Damit aber war diesen eine Falle gestellt: Denn zunehmend gerieten sie in wirtschaftliche und politische Abhängigkeit, mit der eine wachsende finanzielle Verschuldung einherging. Ein Weg war beschritten, an dessen Ende die Kontrolle des gesamten Finanzwesens der Regierungen durch europäische Hauptstädte stehen sollte. Im Falle Algeriens im 19. und im 20. Jahrhundert sowie Libyens nach dem Ersten Weltkrieg wurden ganze Staaten siedlerkolonialistisch vereinnahmt. Algerien, dessen militärische Unterwerfung 1830 begonnen hatte, wurde 1848 zum französischen Staatsgebiet und die Provinzen Oran, Algier und Constantine zu Départements erklärt. Italien ging nicht ganz so weit; 1934 aber erklärte die faschistische Regierung in Rom Libyen zur Kolonie und zur »vierten Küste« (quarta sponda)Italiens. Auch der Unterstützung der zionistischen Bewegung durch England nach dem Ersten Weltkrieg lag – neben anderen – das geopolitische Interesse zugrunde, die Landbrücke zwischen dem Mittelmeer und dem indischen Subkontinent durch einen von Großbritannien abhängigen Stützpunkt abzusichern.

Die kolonialistischen Eliten Europas haben nicht versäumt, die zunehmende Einflussnahme zwischen Atlantik und Hindukusch (um nur bei dem hier zur Diskussion stehenden Raum zu bleiben) propagandistisch zu verbrämen. Es handle sich um eine »Mission«, eine selbstauferlegte Verpflichtung, so lautete der kolonialistische Diskurs weithin unter den europäischen Kolonialmächten. Diese mission civilisatrice würde unterentwickelten, politisch und kulturell zurückgebliebenen Völkern die Errungenschaften von – europäischem – Fortschritt und Aufklärung bringen. Im Extrem müssten überkommene, diesem »Fortschritt« entgegenstehende Traditionen abgeschafft, zumindest aber »modernisiert« werden. Wenn der Aktionismus der »Mission« auch nicht ausschließlich auf den von der islamischen Kultur geprägten Raum beschränkt war, so stand dieser doch ganz besonders im Fokus. Es entstand ein politischer und kultureller Anpassungsdruck, der das Verhalten der islamischen Gesellschaften und ihrer Eliten bis in die Gegenwart bestimmt.

Das Ende des Ersten Weltkriegs schien die Chance eines Neubeginns unter dem Banner der Selbstbestimmung der Völker zu eröffnen. Aber noch immer waren die europäischen Mächte vom Dünkel ihrer Überlegenheit verblendet und nicht bereit, ihre Beziehungen zu den Völkern im Nahen und Mittleren Osten auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Wahnvorstellung von ihrer »Mission«, geleitet von ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen, ließ sie ein System von »Mandaten« errichten, über das sie die Völker in die Zivilisation zu führen vorgaben. Das hat deren Entwicklung über die folgenden Jahrzehnte blockiert. Die neuen Eliten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Führung der Staaten und Gesellschaften in den ehemaligen Mandaten und Protektoraten in Nordafrika und im Vorderen Orient übernahmen, haben deshalb Wege beschritten, die auf die Loslösung von den, ja auf die Herausforderung der Paradigmen westlicher politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung gerichtet waren. Dabei verloren sie freilich bald das Ziel der Wohlfahrt der Bürger ihrer Gesellschaften aus den Augen; sie verfingen sich in machtpolitischem Ehrgeiz sowie dem Streben nach persönlichem wirtschaftlichem Gewinn. So geriet der ganze Raum zwischen Nordafrika und Afghanistan in eine umfassende, von politischen Konflikten, weltanschaulicher Radikalität, sozialer und wirtschaftlicher Verelendung und schließlich von Flüchtlingsströmen gekennzeichnete Krise.

Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft

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