Читать книгу Tradition und Erneuerung im Ringen um die Zukunft - Udo Steinbach - Страница 17
2.1 Fürsorgliche Vereinnahmung
ОглавлениеEin Graben war aufgerissen: zwischen der als überlegen propagierten europäischen Kultur, die durchaus auch nicht selten als »christlich« konnotiert wurde, auf der einen und der als rückständig herabgestuften Zivilisation, deren Unterlegenheit angeblich in einem als »mittelalterlich« abgewerteten Islam gründete, auf der anderen Seite. Europas Verantwortung würde es sein, Licht in den dunklen Teil der Menschheit zu bringen, die Last der Zivilisierung auf sich zu nehmen. »Take up the White Man’s burden …«, wie es in einem 1899 verfassten berühmten Gedicht von Rudyard Kipling (1865–1936) heißt. Und sein Zeitgenosse Evelyn Baring (1841–1917), der erste Generalkonsul in Kairo nach der Besetzung Ägyptens durch britische Truppen im Jahr 1882, verwehrte sich in seinem zweibändigen Bericht9 gegen den Vorwurf, der »Englishman« sei als Eroberer gekommen: »He came not as a conqueror, but in the familiar garb of a saviour of society.« Das Werk Lord Cromers ist der Bericht einer »Rettungsaktion«. Und so bilanziert er nach einem Vierteljahrhundert seines Wirkens in Ägypten im letzten Absatz seiner Ausführungen:
»Where once the seeds of true Western civilisation have taken root so deeply as is now the case in Egypt, no retrograde forces, however malignant they may be, will in the end be able to check germination and ultimate growth. The seeds which Ismail Pasha and his predecessors planted produced little but rank weeds. The seeds which have now been planted are those of true civilisation. They will assuredly bring forth fruit in due season. Interested antagonism, ignorance, religious prejudice, and all the forces which cluster round an archaic and corrupt social system, may do their worst. They will not succeed. We have dealt a blow to the forces of reaction in Egypt from which they can never recover, and from which, if England does her duty towards herself, towards the Egyptian people, and towards the civilised world, they will never have a chance of recovering.«
Ein Jahrhundert später liest der Leser diese Zeilen mit Fassungslosigkeit; ihm stellt sich eine ganz andere Wirklichkeit dar. Ja, die britische Verwaltung hatte Ägypten Fortschritte gebracht: auf dem Gebiet der Wirtschaft, aber auch der Entfaltung eines pluralistischen Spektrums von politischen und gesellschaftlichen Ideen sowie neuen Impulsen kultureller Kreativität. Welche Wege aber haben das Land und mit ihm weite Teile des Nahen Ostens in die Wirrnisse, ja das Chaos seit Beginn des 21. Jahrhunderts geführt? Vieleicht ging es den Briten und den anderen europäischen Kolonialmächten gar nicht um eine »zivilisatorische Mission«; vielleicht war die »true Western civilisation« nur ein Feigenblatt, das die Blöße der machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen bedecken sollte. Dieser Verdacht erscheint nach der Lektüre der Widmung Lord George N. Curzons, die er seinem 1892 erschienenen Buch über Persien und die persische Frage voranstellt, nicht unbegründet:
»To / The Officials, Civil and Military in India / Whose hands uphold / The noblest fabric yet heard / by the genius of a conquering nation / I dedicate this work / The unworthy tribute of the pen to a cause / which by justice or with the sword / it is their high mission to defend / But whose ultimate safegard is the spirit / of the British people«.10
Lord Curzon war u. a. als Vizekönig von Indien (1899–1905) und britischer Außenminister (1919–1924, d. h. in den für die Weichenstellungen im Nahen Osten entscheidenden Jahren) eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in London, welche die britische koloniale und imperiale Politik der Zeit bestimmten.
Auch Deutschland kann von der Attitude dieses »fürsorglichen« Kolonialismus nicht freigesprochen werden. Carl Heinrich Becker (1876–1933) gilt als der Begründer der Islamwissenschaft in Deutschland. Mit der Gründung des Hamburger Kolonialinstituts im Jahre 1908 wurde er auf einen Lehrstuhl für das Studium des modernen Islams berufen. In den folgenden Jahren entstanden die meisten seiner – insbesondere auf Afrika als Schwerpunkt kolonialistischer Politik des Deutschen Reichs nach 1871 bezogenen – kolonialpolitischen Beiträge. Nach dem Krieg wurde er unter verschiedenen Reichskanzlern Kultusminister. Die »Zivilisierung« der kolonisierten Völker könne den Kolonialismus rechtfertigen und sei »Auftrag« der weißen Kolonialherren. Hauptsache sei, dass »die Zivilisation vordringt, und das ist doch schließlich die moralische Rechtfertigung der Kolonisation«.11 Diese gebe schließlich »in kulturellen und materiellen Werten, die sie den Einheimischen bringt, einen moralischen Ersatz für das, was sie ihnen nimmt«. Und endlich sei die Kolonisation geradezu eine moralische Verpflichtung der Europäer, die sich »nach manchen Irrgängen des Idealismus ohne Selbstüberhebung ihrer Überlegenheit bewusst geworden [sind], die sie zu Vormündern und Erziehern der niederen Rassen prädestiniert«. Die »Islampolitik« sei für das Deutsche Reich das geeignete Mittel, seine Interessen in seinen von Muslimen bewohnten Kolonialgebieten durchzusetzen.
Noch das Mandatssystem, in dessen Rahmen die europäischen Mächte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die nationalistischen Bestrebungen der arabischen Völker ins Leere laufen ließen, war durch das Argument gerechtfertigt, diese gleichsam an die Hand nehmen und sie zu politischer Mündigkeit führen zu müssen ( S. 166). Ja, noch im Februar 2005 verabschiedete die französische Nationalversammlung ein Gesetz, in dem in Artikel vier festgehalten wurde, dass die Schulbücher künftig die positive Rolle Frankreichs in den Kolonien erwähnen müssen. Erst nach massiven Protesten in Frankreich selbst sowie aus den nordafrikanischen Ländern wurde dieser Artikel 2007 aus dem Gesetz gestrichen.
Neben der politischen hatte die Wahrnehmung des islamischen Orients in Europa auch eine kulturelle Dimension. Sie wird heute weithin als »Orientalismus« bezeichnet. Der »Orient« wird zum Raum einer gleichsam alternativen Lebensform; zum Raum einer Zuflucht für Menschen, die eine Auszeit aus der politischen, geistig-kulturellen, wissenschaftlich-technischen Wirklichkeit ihrer europäischen Gesellschaften suchen. Sie verschreiben sich einer »orientalischen« Lebensweise, die als antirationalistisch emotional und dumpf geheimnisvoll wahrgenommen wird. Gefühle, nicht zuletzt erotischer Natur werden ausgelebt. Der Europäer gibt sich Empfindungen, ja Ausschweifungen hin, die zu hegen, ja öffentlich zu machen in seinem heimischen Ambiente nicht mehr statthaft ist. Schon Goethe hatte sich – freilich noch auf seine klassisch-luzide Art – in seinem 1819 erschienenen »West-Östlicher Diwan« auf eine »Hegire« begeben. Im ersten Gedicht dieser Sammlung spielt er damit auf die Auswanderung des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina im Jahr 622 (arab. hidschra) an. »Nord und West und Süd zersplittern, / Throne bersten, Reiche zittern, / Flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten«. Die folgenden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts sehen einen Strom von Malern und Fotographen, Dichtern und Literaten (namentlich Reiseschriftstellern), Intellektuellen und Forschern, die sich als Reisende in den »Orient« begeben. Sie haben auf ihren jeweiligen Gebieten zahllose Zeugnisse davon abgelegt. Die Welt des Orients fasziniert durch die Spuren des Zerfalls und zivilisatorische Rückständigkeit. Insbesondere die Malerei schwelgt in immer neuen Variationen der Schwüle des Harems.
In einem Buch, das bei seinem Erscheinen 1978 hohe Wellen nicht nur in der Fachwelt der Nahostexperten schlug, hat Edward Said (1935–2003) den kulturellen »Orientalismus« in die politische Dimension der europäischen Kolonisierung des islamischen Raumes gerückt.12 Die zentrale These des Buches: »Orientalism. Western Conceptions of the Orient«, besagt, der »Westen« habe den »Orient« mithilfe seiner wissenschaftlichen, künstlerischen und theologischen »Orientalisten« vereinnahmt und erfunden, um vor dieser Folie die eigene Überlegenheit und Rationalität sowie den Anspruch auf weltweite kulturelle und politische Dominanz zu untermauern. »Orientalismus« versteht Said als ein kulturspezifisches System der Machtausübung. Der so geschaffene europäische Orient sei durch westliche Wissenschaft und Kunst in einer Weise bewahrheitet worden, dass er zwanghaft den »Orientalen« habe auferlegt werden können. So sei der Orient orientalisiert worden.
Die Dichotomie von Orient und Okzident sieht er tief in der Geschichte Europas verankert. Dementsprechend öffnet Said einen langen Rückblick, der ihn bis zu den Griechen des 5. Jahrhunderts vor Christus zurückführt: Die Vernichtung der Perser durch die Griechen wird bei dem Dramatiker Aischylos (525–456 v. Chr.) und dem Historiker Herodot (etwa 490–420 v. Chr.) als Strafe für die Überschreitung des Bosporus, der gottgesetzten Grenze zwischen Europa und Asien, verstanden. Im Zeitalter des Kolonialismus wird das unüberbrückbare Nebeneinander von Orient und Okzident von dem englischen Dichter Rudyard Kipling (1865–1936) bestätigt: »Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet«, heißt es in seinem 1889 erschienenen Gedicht »The Ballad of East and West«. Die Orientalisierung des Orients aber ist nicht nur ein Produkt der Imagination; vielmehr ist die Beziehung zwischen Okzident und Orient auf Macht, Herrschaft und Hegemonie gegründet. Essentialistische Vorstellungen über den Orient gerinnen zu Sinnlichkeit, despotischer Machtausübung, abartiger geistiger Verfasstheit, Realitätsverweigerung und zivilisatorischer Rückständigkeit. So bereitet »Orientalismus« als Gemisch von Ideen, Vorstellungen, Klischees und Lerninhalten gleichsam den Boden und die Rechtfertigung für imperialistische Machtausübung. In dem Maße, in dem sich handfeste politische sowie handels- und finanzpolitische Interessen auf den Orient richteten, deckten sich die Erkenntnisse der Wissenschaft bzw. die Beschreibungen der Reisenden mit dem, was die Politiker für ratsam und angemessen hielten. Auf dem Höhepunkt des britischen Zugriffs auf den Orient, d. h. während des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach, wurde solche Expertise mit Blick auf imperialistische Interessen im Nahen Osten geradezu zielgerichtet abgefragt und die Experten wurden zeitweise unmittelbar in den Machtapparat integriert. Ihre persönliche Sympathie mit, ja ihr Enthusiasmus für den Orient verband sich auf diese Weise mit einem Sendungsbewusstsein bei der Neugestaltung des Nahen Ostens nach dem Ende des Osmanischen Reichs. In diesem Sinn widmet Said im letzten Teil seines Buches neben anderen T. E. Lawrence, Gertrude Bell und St. John Philby ( S. 168) breitere Aufmerksamkeit.
Edward Saids Buch hat viel Kritik nicht zuletzt vonseiten der Nahostwissenschaftler in England und den USA erfahren. Die Wissenschaftler sahen sich unterschätzt und in der Integrität ihres wissenschaftlichen Ansatzes missverstanden. Daran ist aus deren Sicht natürlich viel Richtiges. Gleichwohl spiegelt sich in der Radikalität der Thesen Edward Saids jene Dynamik wider, die die imperialistische Attitüde der europäischen Mächte gegenüber dem Osmanischen Reich und der Nachfolgeordnung des Nahen und Mittleren Ostens nun einmal aufweisen sollte. Als Palästinenser, der von einer der Folgen dieser Ordnung, der Entstehung des Staates Israel und dem damit geschaffenen »Nahostkonflikt«, unmittelbar betroffen war, musste er diesbezüglich besonders sensibilisiert sein. Nach seinem eigenen Bekenntnis fühlte er sich in seinem amerikanischen Umfeld zeitlebens als Außenseiter (»out of place«). Diese Erfahrung verschärfte sich nach dem Sechs-Tage-Krieg (Juni 1967), der in den USA auch als Sieg des Westens über den arabischen Nationalismus gefeiert wurde. Als politischer Intellektueller trat Said für einen binationalen palästinensisch-jüdischen Staat ein. So war sein wissenschaftliches Denken in ähnlicher Weise politisiert, wie er es den »Orientalisten« unterstellte. Tatsächlich aber sollte die Niederlage von 1967 einen nachhaltigen Einfluss auf das geistige Klima in weiten Teilen der islamischen Welt ausüben ( S. 396).
Die von Said aufgerissene Dichotomie von Orient und Okzident, Morgenland und Abendland, islamische Welt und Westen sollte eine politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Dimension haben. Die Art der Begegnung würde nicht dialogisch auf Augenhöhe erfolgen, sie würde konflikthaft ausgetragen werden: zwischen einem Akteur, der sich selbst als stark und überlegen sah, und einem Gegenüber, das als schwach und überlebt wahrgenommen wurde. Im Spannungsfeld zwischen Kompromiss, Synthese und Reform auf der einen und Konflikt auf der anderen Seite sollten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts viele Varianten möglich sein. Der Auseinandersetzung um die und mit der Religion und deren Stellung in der politischen und gesellschaftlichen Ordnung würde ein besonderer Stellenwert zukommen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts löste die These vom clash of civilizations des amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel Huntington eine weltweite Debatte aus ( S. 537). Unter den civilizations war insbesondere die islamische angesprochen. Zwischen ihr und Europa sah Huntington eine »blutige Grenze«. Die – nicht selten emotional eingefärbte – Intensität, mit der die Debatte geführt wurde, ließ erkennen, dass auch am Ende des 20. Jahrhunderts die Frage nach der Qualität der Beziehungen zwischen dem Westen und der islamischen Welt offen war – und damit auch die Antwort auf die Frage nach dem Ergebnis des Prozesses der »Modernisierung« unter den vom Westen vorgegebenen Parametern.