Читать книгу Fiskalstrafrecht - Udo Wackernagel, Axel Nordemann, Jurgen Brauer - Страница 74

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2. Kapitel Europäisierung des StrafrechtsVI. Unionsgrundsätze und Unionsgrundrechte im Strafrecht und Strafverfahrensrecht › 3. Europäische Grundrechte im Strafverfahren

3. Europäische Grundrechte im Strafverfahren

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Der EuGH hat in einer Reihe von Entscheidungen deutlich gemacht, dass sich aus dem Unionsrechts auch wichtige Garantien für das nationale Strafverfahren ergeben. Hier sollen die wichtigsten Verfahrensgrundrechte genannt werden:

a) Recht auf faires Verfahren (Art. 47, 48 GRCh)

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In einem nationalen Strafverfahren in den Mitgliedstaaten gilt der europäische Grundsatz des fairen Verfahrens, wie er vom europäischen Gericht für Menschenrechte aus Art. 6 EMRK entwickelt wurde, nun auch nach Art. 47, 48 GRCh. Insofern hat der EuGH betont, die Auslegung des fairen Verfahrens durch den EGMR stelle auch die Basis des Rechts aus der Grundrechtecharta dar. Die Prüfung einer Verletzung der Verfahrensfairness beruht nach dieser EGMR-Rechtsprechung, die auch der EuGH bislang als Interpretation der EMRK verbindlich angewendet hat, auf einer Gesamtbewertung. Hier ist die Frage zu beantworten, ob die „Parteien“ des Strafverfahrens trotz des Verfahrensverstoßes noch gleichberechtigt und angemessen am Verfahren einschließlich der Beweiserhebung teilhaben konnten. Zu dieser Teilhabe gehört insb. die Möglichkeit, sich vor Gericht zu Beweismitteln zu äußern,[1] einen Gegenbeweis anzutreten[2] und sich einer angemessenen und kompetenten Verteidigung zu bedienen. Der Rechtsanwender muss bei der Prüfung, ob der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt worden ist, letztlich die gesamte Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu diesem Themenkomplex berücksichtigen.

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Für das faire Haftbefehlsverfahren hat der EuGH in der Melloni-Entscheidung[3] ausgeführt, Art. 53 GRCh gestatte es den Mitgliedstaaten nicht, die Übergabe einer zu verhaftenden Person von der Bedingung abhängig zu machen, dass eine erneute Überprüfung des Urteils im Ausstellungsmitgliedstaat erfolgt, bei der das Recht auf ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte so zu gewährleisten sind, wie sie in der Verfassung des Vollstreckungsstaates garantiert sind.

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Kurz zuvor hatte der EuGH in der Radu-Entscheidung[4] ausgeführt, der Vollstreckungsstaat dürfe die Vollstreckung nicht mit der Begründung verweigern, ein Verhafteter sei vor Erlass des europäischen Haftbefehls nicht angehört worden. Eine solche Verpflichtung würde den notwendigen Überraschungseffekt beseitigen und damit das im Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl vorgesehene Übergabesystem unweigerlich zum Scheitern bringen. Ein solcher Einwand übersteigere daher die Verfahrensrechte des Betroffenen so stark, dass die Durchführung des Verfahrens nicht mehr möglich sei. Damit hat der EuGH deutlich gemacht, dass nicht jeder der Mitgliedstaaten bei der Entscheidung über die Vollstreckung eines Haftbefehls das Urteil im Ausstellungsstaat am Maßstab der eigenen nationalen Grundrechte überprüfen darf.

b) Ne bis in idem (Art. 50 GRCh, Art. 54 SDÜ)

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Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden (Art. 50 GRCh). Das europäische Verbot der Doppelverfolgung und Doppelbestrafung wurde durch den EuGH in einer mittlerweile großen Zahl von Urteilen ausgelegt und konkretisiert.[5] Grundsätzlich ergibt sich aus der Garantie ne bis in idem der Schutz des Bürgers davor, wegen einer Tat mehrfach strafrechtlich verfolgt oder sogar verurteilt zu werden. Nach dem deutschen Verfassungsrecht gilt Art. 103 Abs. 3 GG nur national; das Verbot, eine bereits im Ausland abgeurteilte Tat im Inland noch einmal anzuklagen, um gegebenenfalls einen „Strafnachschlag“ zu verhängen, ergab sich zunächst aus Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens, hat aber auch seinen Weg in die Grundrechte Charta der Europäischen Union gefunden.[6]

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Die Rechtsprechung des EuGH hat sich intensiv mit den einzelnen Elementen des Doppelbestrafungsverbots auseinandergesetzt und dabei zunächst einen sehr weiten Tatbegriff entwickelt. In der Entscheidung Kretzinger[7] hat der EuGH ausgeführt, der Tatbegriff sei unabhängig von seiner rechtlichen Qualifizierung tatsächlich zu verstehen. Maßgebendes Kriterium für die Anwendung von Art. 54 SDÜ sei die Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse.[8] Dieser materielle, tatsächliche Begriff der einheitlichen Tat (idem) führt dazu, dass die Garantie des Doppelbestrafungsverbots im europäischen Kontext deutlich weiter greifen kann als das nationale Verbot.[9] Mit Blick auf das Doppelbestrafungsverbot im Haftbefehlsverfahren hat der EuGH die unionsautonome Auslegung des Begriffs dieselbe Tat in der Mantello-Entscheidung[10] bekräftigt.

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Eine Doppelbestrafung liegt aber auch nach unionsrechtlichem Verständnis nur dann vor, wenn nach einer rechtskräftigen Aburteilung und damit dem Eintritt von Strafklageverbrauch eine weitere Strafe verhängt wird. Er soll sich nach der Rechtsprechung des EuGH die Beurteilung, ob es sich um eine rechtskräftige Verurteilung handelt, grundsätzlich nach dem nationalen Recht richten, unter dessen Geltung die erste Entscheidung ergangen ist.[11] Hierzu heißt es in der Mantello-Entscheidung:[12] Eine Entscheidung, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, der die Strafverfolgung gegen eine Person einleitet, die Strafklage auf nationaler Ebene für eine bestimmte Handlung nicht endgültig verbraucht, kann grundsätzlich nicht als ein Verfahrenshindernis hinsichtlich der etwaigen Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung wegen derselben Handlung gegen den Betroffenen in einem anderen Mitgliedstaat der Union angesehen werden.

In der neueren Judikatur des Gerichtshofs heißt es allerdings, dass bereits eine Einstellung des Strafverfahrens als rechtskräftige Verurteilung angesehen werden kann, wenn das Verfahren nur bei Auftreten neuer Tatsachen fortgesetzt werden kann.[13]

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Voraussetzung dafür, dass die Aburteilung einer erneuten Verfolgung als Verfahrenshindernis entgegensteht, ist, dass die ausgesprochene Strafe auch tatsächlich vollstreckt wird. Aber auch der Begriff der Strafvollstreckung wird vom europäischen Gerichtshof sehr weit verstanden, so dass auch die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung als Strafvollstreckung angesehen wird.[14]

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Auch der Begriff der Strafe und der Verurteilung wird in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich verstanden.[15] Eine Unterscheidung zwischen Strafen und Bußen, wie im deutschen Strafrecht, kennen andere Mitgliedstaaten nicht. Um eine einheitliche Auslegung der europäischen Grundrechte zu sichern, musste auch ein unionsrechtlicher Begriff der Strafe entwickelt werden. Diese Frage war insb. Gegenstand der Fransson-Entscheidung des EuGH.[16] Hier machte der Gerichtshof deutlich, dass steuerliche Verwaltungssanktionen, die keinen strafrechtlichen Charakter haben, auch neben einer Kriminalstrafe wegen Steuerhinterziehung verhängt werden dürfen.[17] Für die Beurteilung, ob es sich um eine Strafe handelt, dürfte es insb. darauf ankommen, ob es sich bei der Rechtsfolge um eine Sanktion handelt, die wegen eines schuldhaften Fehlverhaltens verhängt wird und unter anderem abschreckenden Charakter haben soll. Hierbei soll es insb. auf drei Faktoren ankommen: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion.[18] Daher könnte je nach konkretem Einzelfall die Versagung einer Steuerbefreiung oder des Vorsteuerabzugs[19] ebenso eine Strafe darstellen, wie ein Aufschlag auf eine Rückzahlung von Subventionen[20] oder ein Zuschlag bei der Steuerzahlung nach § 398a AO.[21]

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Jedoch hat der EuGH in der Entscheidung Menci[22] und bereits zuvor in der Sache Spasic[23] eine Relativierung des Grundsatzes der Freiheit vor Doppelbestrafung vorgenommen, die deutlich macht, dass es sich bei dem Ne-bis-in-idem-Grundsatz – anders als im deutschen Verfassungsrecht – nicht um eine unabwägbare Schranken-Schranke handelt, sondern ausschließlich um ein abwägbares Prozessgrundrecht. Art. 50 GRCh müsse daher im Lichte von Art. 52 GRCh betrachtet werden. Das bedeutet, dass eine Einschränkung des Grundsatzes und damit eine doppelte Verhängung einer als Strafe anzusehenden Sanktion nach Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh gerechtfertigt sein könnte.

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Voraussetzung sei jedoch, dass die Einschränkung „der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen ist“ und „den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten“ achtet. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.[24]

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Die Bekämpfung der Hinterziehung und die vollständige Erhebung der Mehrwertsteuer, der die fragliche nationale Vorschrift dienen sollte, hat der EuGH als eine solche, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung angesehen. Aufgrund dieser besonderen Bedeutung könne eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Art gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung eines solchen Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen.[25] Daher hat es der Gerichtshof bei Zuwiderhandlungen im Bereich der Mehrwertsteuer als legitim angesehen neben einer pauschal festgesetzten Verwaltungssanktion, die bei jedem Verstoß verhängt werden kann, eine zusätzliche schwerer strafrechtliche Sanktion in besonders schweren Fällen des Mehrwertsteuerbetrugs zu verhängen.

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Diese doppelte Bestrafung sei jedoch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur dann vereinbar, wenn die vorgesehene Kumulierung der Sanktionen nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der mit der nationalen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, unter mehreren gleich wirksamen Mitteln ist das mildeste Mittel zu wählen.[26] Bei der Bewertung der Erforderlichkeit ist nach der Rechtsprechung des EuGH ferner zu berücksichtigen, ob die Regelung, die eine solche Kumulierung vorsieht, klare und präzise Regeln aufstellt, die es dem Bürger ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt.[27] Der EuGH[28] hatte das im Vorlagefall bejaht, obwohl die kriminalstrafrechtliche Verfolgung auch nach Abschluss des Verwaltungssanktionsverfahrens noch möglich war und die beiden Verfahren unabhängig voneinander durchgeführt werden, jedoch ist die strafrechtliche Sonderverfolgung auf schwere Fälle beschränkt, in denen der Hinterziehungsbetrag 50.000 € überschreitet. Hier sei die Durchführung des nachträglichen Strafverfahrens geboten, weil ansonsten die Sanktion nicht dem Unrecht der Tat entspreche (vgl. auch Art. 49 Abs. 2 GRCh).

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An die Vorschriften des nationalen Rechts sei zudem die Anforderung zu stellen, dass die Verhängung einer kumulierten Strafe verhindert werden muss, die in der Gesamtbetrachtung tat- und schuldunangemessen erscheint. Schließlich sei mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR[29] darauf hinzuweisen, dass eine doppelte Sanktion nur zulässig ist, wenn ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen dem Steuerstraf- und dem Steuerverfahren bestehe.

Fiskalstrafrecht

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