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Gandhi und das Motto der Theosophischen Gesellschaft

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Mit dem wohl aus dem »Mahabharata« stammenden Motto »Keine Religion höher als die Wahrheit«59 geben die Vertreter der 1875 begründeten Theosophischen Gesellschaft, an die Steiner anschließt, nicht nur ihrer kosmopolitischen Haltung Ausdruck. Sie formulieren zugleich einen Grundsatz, demgemäß jede Lehrmeinung einer bestimmten Konfession überschreitbar sei auf eine (?) Wahrheit hin, die allen Religionen zugrunde liege bzw. sich in ihnen finde. Damit wird Wahrheit zu einem Gegenbegriff von Dogma (als Lehrmeinung einer Konfession), allerdings nicht in der Form des Gegensatzes, 60 sondern im Sinn der überschreitenden Tendenz auf ein Höherstehendes hin, das auch wiederum ein Vermittelndes sein muss. Die Religionen in diesem Sinn enthalten zwar Wahrheit, aber sie verkörpern sie nicht in ausschließlicher Form; demnach ist Wahrheit immer mehr oder noch etwas anderes als sie. Wir finden uns in einer ähnlichen begrifflichen Konstellation wieder wie in dem Verhältnis von Bild und Sache, Hülle und Wesen, Exoterik und Esoterik, Dogma und eigener Erfahrung, die zwar wie Wahrheit und Wahrhaftigkeit61 unterschieden werden müssen, aber nicht ohne einander existieren.

Offensichtlich spielt dieses Motto im Denken des charismatischen indischen Aktivisten der Gewaltlosigkeit und Freiheitskämpfers Mohandas Karamchand Gandhi (1869–1948) eine initiale Rolle. Seine Lehre von (der) »Wahrheit« (sanskr. Satya) orientiert sich an dem genannten Motto und spiegelt dessen Formulierungen wieder.62 Gandhi selber war mit der Theosophie seit seiner Studienzeit in England wohl vertraut. Biographisch hatte ihm die Theosophie den Wert der eigenen hinduistischen Tradition erkennen lassen. Seine Einstellung zu den Religionen zeigt sich in der Folge in ausgesprochener Toleranz. »Für mich sind alle Hauptreligionen in dem Sinn einander gleich, dass sie alle wahr sind.«63 Ähnlich hieß es bereits bei Blavatsky: »Es … kann nur eine absolute Wahrheit im Kosmos geben … wir wissen: wenn sie absolut ist, so muss sie auch allgegenwärtig und universal sein; und in diesem Fall muss sie jeder Welt-Religion zugrunde liegen … «64 An den nachbarschaftlichen Formulierungen lässt sich freilich auch erkennen, dass zwischen Toleranz und dem Überlegenheitsanspruch auf »absolute Wahrheit« nur eine schmale Grenze gezogen ist. Absolute Ansprüche machen, insofern sie Wahrheit oder Wahrheiten verdinglichen (s.o. Fichte und Schelling), tendenziell intolerant. Mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit entsteht eine Dogmatisierungswirkung. Das gilt selbst, wenn nicht ein ›Besitz‹ dieser Wahrheit, nur deren ›Kenntnis‹ in Anspruch genommen wird. Vermieden wird diese Wirkung, wie wir schon seit Lessing wissen, wenn von einem dynamischen Bezug auf Wahrheit, konkret von Wahrhaftigkeit gesprochen und eine entsprechende Haltung kultiviert wird. Das scheint schon der alte Sanskrit-Satz, den das Motto aufgreift, gewusst zu haben: »Satyannasti paro dharmah«. Als beste Übersetzung des Satzes gilt dem Indologen Helmuth von Glasenapp zufolge: »Es gibt keine höhere Pflicht als die Wahrhaftigkeit.«65

Der Erzähler Rudolf Steiner

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