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Zwischen Landbrückenhypothese und theosophischem Narrativ: »Lemurien«
ОглавлениеDoch gehen wir nochmals einen Schritt zurück. Das Beispiel einer konventionellen Hypothese aus Steiners Zeit sei die wissenschaftshistorisch längst überholte, zu Steiners Zeiten aber noch weitgehend anerkannte Landbrückenhypothese des Biologen Philip Lutley Sclater (1829–1913), mit der dieser in einem Aufsatz aus 1864 das eigentümliche Vorkommen der »Lemuren« genannten Säugetiere auf Madagaskar zu erklären versucht hatte.95 Die Verwandtschaft der Pflanzen- und Tierpopulationen Ostafrikas, Madagaskars und Südindiens sei nur dann nachvollziehbar, wenn man eine ehemals bestehende Landverbindung annehme, die heute versunken sei. Der Evolutionsbiologe Ernst Haeckel (1834–1919) griff die Idee auf und setzte an diese hypothetische – also im Sinne einer Vermutung spekulativ angenommene – geografische Stelle einer Landbrücke zwischen Ostafrika, Indien und dem Malayischen Archipel den mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte, das »Paradies« (siehe weiter unten Abbildung I). Über die mit Haeckel zeitgleiche theosophische Literatur96 findet die Idee eines versunkenen Kontinentes »Lemuria« (anglophone Schreibweise) oder »Lemurien« (eingedeutschte Schreibweise) Eingang in das Werk Steiners und wird zu einer vorgeschichtlichen Entwicklungsphase der Erde und der Menschheit. In einer seiner ersten theosophischen Texte beschreibt Steiner diese Entwicklungsphase in narrativer, stimmungsvoller Weise (GA 11, 55 f.), bezieht sich pauschal auf die esoterische Literatur, übernimmt den theosophischen Begriff der (lemurischen) »Rasse«97 und nennt auch den geografischen Ort, an dem »dieser Kontinent« gelegen habe.
Interessant dabei ist, dass sich Steiner auf diesen – wie man heute weiß – fiktiven geografischen Ort in seinen späteren mündlichen Darstellungen im Vortragswerk wie auf ein konstantes Narrativ bezieht, das er nicht selber befragt, sondern lediglich referiert und voraussetzt.98 Steiner, so scheint es, hat das Thema nicht eigens erforscht, bleibt beim unscharfen Referat. Meist ist dann von einem »Kontinent«99 die Rede, einmal auch von einer »Insel Lemuria« (GA 88, 56) oder von »Inselgebieten« (GA 103, 106), dann wieder finden wir die Darstellungstendenz, wonach »Lemurien« eine erdgeschichtliche Zeitphase ohne Lokalisierung sei.100 Die entsprechenden Ungenauigkeiten und Abweichungen werden auf Variablen der mündlichen Sprechweise oder auf die Nachschriftvarianten und die nicht besonders zuverlässige Verarbeitung der Texte zurückgehen. Aber auch auf eine unpräzise Vorstellung von Steiner selbst.