Читать книгу Der Erzähler Rudolf Steiner - Ulrich Kaiser - Страница 38

Zwischen Fantasy und Naturwissenschaft

Оглавление

Wie verhält es sich mit der Hypothesenhaftigkeit geisteswissenschaftlicher Aussagen? Ihr Erfahrungsfeld findet sie nicht in der Natur, sondern im Feld des Spirituellen. Es geht primär um Denkprozesse und »innere« Vollzüge. Das Bilden von Hypothesen selber ist so ein Vollzug. Es ist Denken. Mit dem Bilden von Hypothesen befinden wir uns bereits im Feld geisteswissenschaftlicher Erfahrungen. Und Hypothesen haben den Charakter von Begriffsbeziehungen und Ideen, sind in sich figurativ und prozessual und wollen innerlich tätig erprobt werden. Von daher ist eine nüchterne Gleichgültigkeit nicht selbstverständlich, wird doch immer schon ein Anteil Wille zum Aufbau einer hypothesenhaften Vorstellung benötigt. Umso nötiger also das lockere, sachliche, erlebende Gegenüberstellen.

Als ein Beispiel greife ich zunächst auf Steiners erste Schilderung von »Lemurien« zurück. Wenn ich mir die ab 1904 geschriebenen Texte durchsehe, dann fällt mir zunächst ihr erzählerischinnerlicher Stil auf, der sich teilweise auf das Niveau der Evolutionsbiologie begibt (GA 11, 49 f.), größtenteils seelische Vollzüge wie die keimhafte Entstehung von Phantasie, Gedächtnis, erster Moralbegriffe und Sprache zu schildern versucht und zeitgebundene Gender-Themen aufgreift bei einer klaren Dominanz der Rolle der Frau gegenüber dem Mann (mit schlichten Stereotypen, in denen sich die theosophische Szene der Jahrhundertwende abbildet). Die starke Willenskraft und -schulung, die den »lemurischen« Menschen zugeschrieben wird, erinnert in der Schilderung an eine gesteigerte Darstellung der spartanischen Kultur (ebd. 46 f.) und stößt mich in ihrer triefenden Sentimentalität und Drastik ab. Auch die narrative Schilderung von Priesterinnengesang (ebd. 55 f.) wirkt wie eine Erzählung aus keltischem Kontext und erinnert an Werke der Fantasy-Autorin Marion Zimmer Bradley (1930–1999). Der »Untergang Avalons« in dem Bestseller von Zimmer Bradley106 hat durchaus Ähnlichkeiten mit den theosophischen Narrativen von »Lemurien« und »Atlantis«. Immerhin verzichtet Zimmer Bradley konsequent auf naturwissenschaftliche Bezüge, hat aber für die Ausarbeitung ihrer fiktiven Erzählung intensive Studien der keltischen Kulturgeschichte und des Artus-Motivs betrieben.107

Indem ich diese Schilderungen so wiedergebe, erwähne ich also bereits die Grenzen der Plausibilität, die sie bei mir erzeugen. Unter dem Gesichtspunkt der Textsorten ist erneut darauf zurückzukommen. Aber ich habe immerhin, wie beim Lesen einer Partitur, einen inneren Prozess durchgemacht – insbesondere, wenn ich mich auf die Kerngedanken besinne. Er hinterlässt einen geschmeidigen, beweglichen Charakter. Hypothetisch – d.h. jetzt: ohne dem einen Wirklichkeitscharakter zuzuschreiben – habe ich versucht, mir ein Stück der Menschheitsgeschichte innerlich vorzustellen, wie Steiner es meint. Ich bin in einen Dialog eingetreten. Ich verstehe etwas von dem, was Steiner sagen möchte. Gleichwohl ist es eine Erzählung, die ich wieder ablege und die mir insbesondere auch dann wenig plausibel erscheint, wenn ich sie mit der naturwissenschaftlichen Narration der Menschheits- und Erdgeschichte in Übereinstimmung zu bringen versuche. Denn eine Übereinstimmung ergibt sich nicht.108 Es sind zwei heterogene Geschichten, über deren unterschiedliche Qualität und Genese ich mir im Klaren sein muss. Steiners Erzählung ist in diesem Kontext so etwas wie eine Serie von Behauptungen, die für eine andere Sichtweise sensibilisiert. Mehr nicht. Aber immerhin. Der Rest bleibt historische Kontextualisierung.

Der Erzähler Rudolf Steiner

Подняться наверх