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Ludmila – Februar-März 1945

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Die nächsten dreieinhalb Jahre vergingen mit der Pflege und Betreuung der verwundeten Soldaten. Ab und zu hörte Ludmila Neuigkeiten von der Front und es wurde immer wieder gemunkelt, dass Deutschland auf dem Rückzug sei und das Ende des Krieges bevorstünde.

Im Februar 1945 erfuhr sie schließlich, dass das Lazarett aufgelöst werden sollte. Es war inzwischen allen klar, dass Deutschland den Krieg verloren hatte, auch wenn der Führer immer noch seine wahnsinnigen Parolen ausgab, unterstützt von seinem Propagandaminister, der nur heimlich in sein Tagebuch schrieb, dass er den Krieg für verloren hielt.

An einem kalten, aber sonnigen Tag Anfang März 1945 nahm Dr. Schmidt sie beiseite mit den Worten: »Ludmila, Sie sind mir ans Herz gewachsen wegen Ihres unermüdlichen Einsatzes für die Kranken, die wir hier in den letzten Jahren gemeinsam gepflegt haben. Das Lazarett wird nun aufgelöst. Alle gehen nach Deutschland zurück. Wo gehen Sie hin? Wo kommen Sie her? Wo ist Ihre Familie?«

Ludmila spürte, wie die Angst wieder begann, in ihr hochzukriechen, und sie dachte: »Oh nein, bitte jetzt nicht.« Sie wünschte sich, unsichtbar zu sein, doch die bekannten Symptome hatten schon von ihrem Körper Besitz ergriffen. Ihr Herz raste, der Schweiß brach ihr aus, Hitze stieg in ihren Kopf und ihr Bauch fing an sich zusammenzukrampfen. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und fing an zu weinen.

Sie war hin- und hergerissen. Sollte sie dem Arzt die Wahrheit sagen? Oder irgendeine Geschichte auftischen? Sie schätzte ihn sehr, sowohl fachlich als auch menschlich. Ihn zu belügen, wäre ihr wie Verrat vorgekommen. Er verhielt sich ruhig, während er sie weinen ließ, denn er hatte genügend Menschenkenntnis, um zu vermuten, dass sich hinter ihrer Verzweiflung eine lange, traurige Geschichte verbarg.

Und dann brach es plötzlich aus ihr heraus, all das, was sie die ganzen Jahre in ihrem Herzen verborgen hatte. Es war so, als ob sie es nicht mehr länger zurückhalten könne. Sie putzte sich die Nase, sah Dr. Schmidt direkt in die Augen und begann zu sprechen: »Ich stamme aus einer Familie von russischen Deutschen. Ich und meine Geschwister wurden in Russland geboren. Aber meine Vorfahren stammen aus Deutschland.«

Sie machte eine kurze Pause, um die Wirkung ihrer Worte auf den Arzt zu überprüfen.

Er fragte: »Sind Sie Wolgadeutsche?« Sie nickte.

»Wann ist Ihre Familie nach Russland gekommen?«

»Meine Vorfahren sind 1764 aus Deutschland nach Russland übergesiedelt.« Sie hielt kurz inne und fragte dann: »Kennen Sie die Hintergründe der deutschen Auswanderung nach Russland?« Der Arzt schüttelte den Kopf »Nicht genau.«

»Hier herrschte damals Katharina die Zweite. Sie war eine deutsche Prinzessin, die aus einem verarmten Adelsgeschlecht stammte. Deshalb wurde entschieden, sie mit einem reichen russischen Thronfolger zu verheiraten.«

Ludmila machte eine kurze Pause und der Arzt forderte sie auf: »Sprechen Sie weiter.«

»Jahre später wurde ihr Mann, der bereits den Thron bestiegen hatte, ermordet. Damit wurde sie Zarin von Russland, das zur damaligen Zeit ein von patriarchalen Strukturen geprägtes, rückständiges Land war. Sie wollte aus ihrem Land ein großes und mächtiges Reich machen. Um diesen Plan umsetzen zu können, brauchte sie kluge, zuverlässige Menschen mit fleißigen Händen, die die Arbeit nicht scheuten. Als geborene Deutsche wusste sie, wo sie diese finden konnte – in ihrer Heimat, in Deutschland. Die Deutschen waren seit jeher bekannt für ihre Klugheit, ihren Fleiß, ihre Sorgfalt und ihre Verlässlichkeit.«

Dr. Schmidt nickte. Er hörte ihr sehr aufmerksam zu.

»Deshalb schloss sie mit deutschen Landesherren Verträge und erkaufte Tausende kluge und arbeitsame Menschen. Darunter waren auch meine Vorfahren. Die Zarin siedelte sie in den wilden, unbewohnten Weiten des Wolgagebietes an – entlang des breiten ungezähmten Stromes.«

Ludmila hielt kurz inne, um durchzuatmen und die Reaktion von Dr. Schmidt auf ihre Worte sehen zu können. Der Arzt blickte sie ruhig an und seine Augen sagten: »Du kannst mir alles erzählen, was auf deiner Seele lastet.«

So sprach sie weiter: »Meine Vorfahren hatten die neuesten Werkzeuge nach Russland mitgebracht, mit denen sie begannen, die wilden Böden des Wolgagebietes urbar zu machen und zu bearbeiten. Sie brauchten nicht lange, um die bis dahin unbewohnte Steppe in einen blühenden Garten zu verwandeln. Mit der Zeit wurde diese Gegend per Gesetz zur Deutschen Autonomen Republik erklärt. Es gab deutsche Schulen, Gymnasien, Universitäten, Theater und Museen. Die Deutsche Autonome Republik wurde ein fester Bestandteil des Wolgagebietes, ein Quell des Reichtums, der Kultur und hoch qualifizierter Arbeitskräfte für Russland.«

Sie machte eine kurze Pause, um den in ihr aufsteigenden Gefühlen von Schmerz, Wut und Trauer Raum zu geben. Dann fuhr sie fort: »Als Hitler im Jahr 1941 Russland den Krieg erklärte, liquidierten Stalin und seine Gefolgsleute unsere Republik und ihre Bewohner. Alle Deutschstämmigen wurden zu Feinden des russischen Volkes erklärt. In Listen des NKWD, des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, wurden wir erfasst und über jeden von uns wurde ein Dossier eröffnet.«

Ludmila spürte, wie die Erinnerung an die Repressalien ihr die Kehle zuschnürte und sich ihr Bauch wieder schmerzlich zusammenzog, aber die lange zurückgehaltenen Worte flossen nur so aus ihr heraus.

»Die Alten und die Kinder wurden in die verschiedensten Gegenden des riesigen Russlands zwangsumgesiedelt – nach Sibirien, Kasachstan, in den Norden des Ural und in andere Republiken. Mein Vater wurde erschossen, meine Mutter in ein Lager gebracht und ich bin bei der Deportation geflohen.«

Nach einer kurzen Pause fuhr sie mit leiser Stimme fort: »Und von meinen drei Schwestern weiß ich nichts.«

»Viele junge Frauen und Männer wurden in Stalins Konzentrationslager gebracht, wo sie hinter Stacheldraht eingesperrt wurden, von Hunden und Aufsehern bewacht. Sie müssen die schwierigsten Arbeiten machen. In Sibirien arbeiten die Deutschen beim Holzeinschlag, im Norden in Bergwerken, im Ural in den Aluminiumwerken und Förderstätten von Erdgas. Dort sterben sie wie die Fliegen vor Hunger, Kälte und durch die Folgen von Schlägen und Grausamkeiten der Aufseher. Viele werden einfach erschossen. Millionen Russlanddeutsche wurden und werden in diesen Lagern zu Tode gequält.«

Sie brach ab, weil sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Dr. Schmidt nahm ihre Hand. Sein Gesicht zeigte tiefste Betroffenheit. Ludmila spürte, dass ihm die Worte fehlten.

So ließ er sie einfach weinen. Von Zeit zu Zeit reichte er ihr ein frisches Taschentuch. Nach einigen Minuten räusperte er sich. »Ludmila, ich bin zutiefst erschüttert über das, was ich gerade von Ihnen gehört habe. Es gibt keine Worte, mit denen ich meine Betroffenheit und mein Mitgefühl ausdrücken kann.«

Er atmete tief durch und fuhr dann fort: »Ich kenne Sie seit dreieinhalb Jahren. Sie haben hier hervorragende Dienste geleistet. Ich werde Ihnen helfen. Wenn Sie nach Deutschland wollen, werde ich Ihnen falsche Papiere besorgen.«

Ludmila schniefte nochmals und sah ihn ungläubig an, bevor sie antwortete: »Das würden Sie für mich tun?« Sie sprang auf, umarmte ihn und rief: »Damit retten Sie mir das Leben. Denn hier in Russland bin ich verloren. Wenn ich in die Hände der Behörden komme, werde ich wegen Hochverrats zum Tode verurteilt.«

Dr. Schmidt nickte. »Ich weiß. Aber das wird nicht geschehen. Geben Sie mir ein paar Tage Zeit.« Ludmila nickte. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Der Arzt lächelte und erwiderte dann: »Danken Sie sich selbst, für Ihre Kraft, Ihren Mut und Ihren Überlebenswillen.«

Nach fünf Tagen rief er sie zu sich. Er gab ihr einen deutschen Pass, ausgestellt auf den Namen María Gundula Steiner, dazu eine Geburtsurkunde, aus der hervorging, dass sie am 17.11.1927 in Bayreuth als Tochter der Eheleute Rolf und Magda Steiner das Licht der Welt erblickt hatte. Außerdem erhielt sie eine Bescheinigung, die besagte, dass Gundula Steiner in den Jahren 1941 bis 1945 hervorragende Dienste für ihr Vaterland im Lazarett in Astrakhan geleistet hatte und dass man sie als Krankenschwester wärmstens empfehlen konnte.

Sie drückte die Papiere an ihr Herz und sagte: »Dr. Schmidt, ich werde Ihnen das nie zurückzahlen können, was Sie für mich getan haben.« Der Arzt lächelte warm und erwiderte: »Ludmila, das haben Sie schon längst getan.«

Ein paar Tage später reiste sie mit ihren neuen Papieren in einem Zug, der vollgestopft war mit verwundeten Soldaten und Frontpersonal, das den Dienst quittiert hatte, nach Deutschland. Dr. Schmidt musste noch ein paar Tage bleiben, um die Schließung des Lazaretts bis zum letzten Moment zu überwachen, aber ihre Dienste wurden nicht mehr gebraucht. Der Abschied war herzlich, aber auch traurig.

Das Lazarett war in den letzten dreieinhalb Jahren für Ludmila so etwas wie ihre Heimat geworden. Sie identifizierte sich mit ihrer Arbeit, sie wusste, dass sie gut war, und der Umstand, gebraucht zu werden, hatte viele andere Gefühle in ihr wie Heimatlosigkeit und die Erniedrigungen, die sie erlebt hatte, kompensiert.

Jetzt war sie wieder unterwegs und sie war wieder ein unbeschriebenes Blatt, das ein neues Zuhause suchen musste. Als sie die russische Landschaft am Zugfenster vorbeigleiten sah, dachte sie an ihre Familie. Sie wusste nichts von ihnen, nichts von ihrer Mutter und nichts von ihren drei Schwestern. Wehmut stieg in ihr auf. Dann dachte sie: »Jetzt schaue ich, dass ich die Verwandten meines Vaters in Deutschland finde, dann warte ich ab, bis der Krieg zu Ende ist, und dann mache ich mich auf die Suche nach meiner Familie.«

Nachdem sie das entschieden hatte, fühlte sie sich ruhiger.

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