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Sarah – Mai 2007

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Als sie mit tränenüberströmtem Gesicht aufwachte, wusste sie nur noch, dass sie einen Albtraum gehabt hatte, in dem Liselotte ihr furchtbar wehgetan hatte, und dass dann etwas Merkwürdiges mit Heiner geschehen war.

Sie stand auf und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Als sie am Küchentisch saß, kamen weitere Erinnerungen hoch, die sie vehement verdrängt hatte. Sie fragte sich: »Warum haben Liselotte und Heiner Mager mich eigentlich adoptiert, wo sie mir doch so wenig Liebe zu bieten hatten?«

Die Ehe war lange kinderlos geblieben und Liselotte sah das wohl als Schande an. So waren sie und ihr Mann eines Tages zu dem Kinderheim in Berlin gefahren, in das man Sarah direkt nach ihrer Geburt gebracht hatte, und hatten sie mitgenommen.

Sarah wusste nur so viel über ihre leibliche Mutter, dass diese vor ihrer Geburt festgelegt hatte, dass sie sofort nach der Entbindung zur Adoption freigegeben werden sollte. Sie hatte sie noch nicht einmal sehen wollen. Sarah hatte in einer Therapiesitzung ihre Geburt nochmals erlebt. Sie hatte gespürt, wie verzweifelt ihre Mutter aus dem Krankenhaus und aus Berlin wegwollte und dass sie Sarah auf keinen Fall nach der Geburt sehen wollte, um keine Bindung an ihr Kind zu entwickeln.

Sarah konnte sich noch daran erinnern, wie sie in der Rückführung bittere Tränen geweint hatte, als sie sich damit konfrontieren musste, dass ihre Mutter sie nicht wollte. Gleichzeitig hatte sie es als heilsam empfunden, endlich einen Teil ihrer Herkunftsgeschichte auszugraben. Aber was sie wusste, war immer noch viel zu wenig.

Sie ging zurück ins Bett und dachte: »Es ist schon komisch, wie ähnlich das Verhalten meiner Adoptivmutter vor dreiunddreißig Jahren und das Verhalten meiner Anwältin vor fünf Wochen im Gerichtssaal sind. Genauso wie mich meine Mutter immer angegriffen hat, statt mich zu beschützen, hat Frau Gebert dasselbe getan.«

Neben ihr schlief ihr Mann Helmut. Sie hörte seine regelmäßigen Atemzüge. Schon allein dies beruhigte sie. Im Gegensatz zu anderen Männern, die vor ihm ihre Tür- und Bettschwelle überschritten hatten, fühlte sie sich bei Helmut vollkommen geborgen. Er vermittelte ihr das Gefühl von Sicherheit, Bestätigung und Unterstützung, nach dem sie so lange gesucht hatte, und er tat dies, ohne sie dabei einzuengen.

Wenn sie darüber nachdachte, warum er so anders war als die Männer, die es vor ihm in ihrem Leben gegeben hatte, vermutete sie stets, dass es damit zusammenhing, dass er eine glückliche Kindheit in der Schweiz gehabt hatte und zwei Elternteile, die ihn wirklich liebten.

Er war als einziger Sohn wohlhabender Bergbauern aufgewachsen. Seine Eltern hatten ihm nicht aufgezwungen, den Hof zu übernehmen, obwohl er der alleinige Erbe war. Als abzusehen war, dass er das Bergdorf, in dem er aufgewachsen war, verlassen würde, um in Deutschland zu studieren, hatten sie ihm keine Steine in den Weg gelegt, sondern ihn im Gegenteil unterstützt.

Als Sarah und Helmut sich kennenlernten, gab es von Anfang an eine starke Anziehung zwischen ihnen, aber es hatte lange gedauert, bis Sarah die Ängste überwunden hatte, die sie aus ihren alten Beziehungen mitgebracht hatte, vor allem aus ihrer Ehe mit Leonies Vater Armin, deren Ende für Sarah mit großen Schmerzen, tiefer Enttäuschung und viel Trauer verbunden gewesen war. Erst mit der Zeit entwickelten sich ihre Liebe und ihr Vertrauen zu Helmut.

Er warb mit Beständigkeit und Charme um sie. Das tat ihr gut und war Balsam für ihre verwundete weibliche Seele. Gleichzeitig hatte er ein feines Gespür für ihre Grenzen. Überhaupt war es diese Sensibilität – gepaart mit Ritterlichkeit, Charme und Männlichkeit –, die Sarah vollends für ihn einnahm.

Helmut hatte keine eigenen Kinder, kam jedoch mit Leonie, die mitten in der Pubertät steckte, gut zurecht. Ihre häufigen Stimmungsschwankungen nahm Helmut mit Gelassenheit und Souveränität. Leonie spürte, dass er sie respektierte, und sie gab ihm diesen Respekt zurück.

Als Helmut ihr einen Heiratsantrag machte, gab es für Sarah nur eine Antwort: »Ja.« Sie heirateten auf Hawaii und Sarah dachte, dass sie noch nie so glücklich gewesen war, außer bei Leonies Geburt.

Sie stand auf und schenkte sich noch ein Glas Wasser ein. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Einem Springbrunnen gleich sprudelten die Erinnerungen aus ihrer Seele empor – Erinnerungen, die ihrem Bewusstsein zugänglich waren, und solche, denen sie zum ersten Mal begegnete.

Manche Bilder wollte sie nicht sehen und plötzlich hörte sie in sich die Worte: »Das bildest du dir nur ein.« Wie oft hatte sie diesen Satz von ihrer Adoptivmutter gehört – eigentlich immer, wenn sie Gefühle oder Bedürfnisse äußerte, mit denen die Mutter nicht umgehen konnte.

Als sie drei Jahre alt war, hatten ihre Adoptiveltern ein Haus gekauft. Die ersten Nächte in dem neuen Haus waren furchtbar gewesen. Ihr neues Zimmer war kalt und hatte eine sonderbare Atmosphäre. In der Nacht sah Sarah ›Männchen‹. Das erzählte sie ihrer Adoptivmutter. Diese schaute sie völlig verständnislos an: »So ein Quatsch. Schlaf endlich. Das bildest du dir nur ein.«

Sarah erzählte es auch ihrem Adoptivvater. Dieser reagierte ein wenig verständnisvoller, aber auch er tat nicht das, was er hätte tun sollen, nämlich seiner Tochter ein anderes Zimmer zu geben. So hatte sie Nacht für Nacht Angst und wenn die Angst zu groß wurde, versuchte sie, sich mit den Worten ihrer Mutter einzulullen. »Ach, das bilde ich mir doch nur ein.« Allerdings funktionierte diese Taktik nicht wirklich gut. Die Angst verschwand nicht.

Und eines Nachts geschah es dann. Sarah war bei ihren Adoptiv-Großeltern zu Besuch und übernachtete auch dort. In dieser Nacht krachte in ihrem Elternhaus die Decke ihres Zimmers ein. Wäre sie in ihrem Zimmer gewesen, so wäre sie von der herunterfallenden Decke erschlagen worden. Nach diesem Ereignis bekam sie ein neues Zimmer, in dem sie wesentlich besser schlief und in dem es auch keine ›Männchen‹ mehr gab.

Sarah dachte: »Liselotte ist immer so oder ähnlich mit meinen Gefühlen umgegangen. Sie hat mich nie ernst genommen. War das der Grund dafür, dass ich den Versprechungen des Privatdetektivs so gutgläubig gegenüber war? Bin ich so anfällig für tröstende und liebevolle Worte von fremden Menschen, weil ich diese von meiner Mutter nie gehört habe?«

Als sie gerade mit der Frage beschäftigt war, wie viel Nachholbedarf an tröstenden Worten sie wohl noch hatte, betrat Helmut die Küche. Er sah schlaftrunken aus.

»Was ist los, mein Schatz? Warum bist du wach?« Er goss sich ein Glas Wasser ein und setzte sich zu ihr an den Küchentisch.

Sie sagte schuldbewusst: »Ich wollte dich nicht wecken. Ich muss an Liselotte denken. Ich will zwar nicht, aber die Bilder drängen sich unaufhörlich in meinen Kopf und in mein Bewusstsein.«

Helmut nickte. Sarah fuhr fort: »Ich glaube, dass durch diese ganze Geschichte mit dem Privatdetektiv viele alte Gefühle wieder an die Oberfläche gespült werden, die irgendwie mit Geld, Betrug und Angriff zu tun haben.«

»Willst du die Geschichte mit dem Hundertmarkschein hören?« Er machte eine zustimmende Geste und sie begann zu erzählen.

»Du weißt ja, dass Geld immer ein Reizthema für meine Adoptivmutter war, und du weißt auch, dass mein Adoptivvater mit seinem kleinen Lebensmittelladen nicht gerade fürstlich verdiente. Lilo sagte immer, dass zu wenig Geld hereinkäme, und sie maß ihn an Vorstellungen, die er nie hätte erfüllen können. Einer ihrer beliebtesten Aussprüche war: ›Wenn mein Vater mitbekommen würde, dass ich mit einem Mann verheiratet bin, der mir nichts bieten kann, würde er sich im Grab umdrehen.‹ Solche Sätze gab sie bevorzugt am Essenstisch von sich, bei den seltenen Gelegenheiten, als wir zu dritt waren und es eigentlich harmonisch hätte sein können.«

Sarah seufzte. »Mein Vater setzte meiner Mutter nie wirklich etwas entgegen und ich schämte mich für ihn, wenn er schwieg.« Sie überlegte kurz. »Ach, eigentlich habe ich mich für beide Eltern geschämt – für meine Mutter wegen der unpassenden und peinlichen Äußerungen und für meinen Vater wegen seines Schweigens, seiner Wehrlosigkeit und seiner Resignation.«

Helmut blickte sie mitfühlend an.

»Sie ließ keine Gelegenheit aus, um den Lebensstandard unserer kleinen Familie mit dem der Nachbarn und Bekannten zu vergleichen. Immer schnitt unsere Familie dabei schlechter ab als die anderen und immer gab sie meinem Vater die Schuld daran. Als ich in die Pubertät kam, traute ich mich kaum, meine Mutter um Geld für Kleidung oder für die Schule zu bitten.«

Sarah nahm einen Schluck Wasser. »Einmal hatte ich sie um Geld für einen Zeichenblock für die Schule gebeten. Sie war in dem Moment in keiner guten Stimmung, ohrfeigte mich und schrie mich an. ›Wir haben kein Geld, weil dein Vater kein Geld verdient!‹ Ich ging weg und fühlte mich schlecht.«

Sie seufzte. »Und du weißt ja, wie schlecht ich mich sowieso schon auf dem Elitegymnasium gefühlt habe, auf das meine Mutter mich geschickt hat.«

In ihrer Klasse hatten sich hauptsächlich Töchter von Ärzten, Rechtsanwälten und Industriellen befunden und als Adoptivtochter eines Lebensmittelhändlers war Sarah hier ohnehin schon die Außenseiterin. Sie musste sich immer wieder Hänseleien wegen ihrer Kleidung anhören. Die anderen Mädchen trugen Markenkleidung, während Sarah maximal C&A-Kleidung von ihrer Mutter bekam, obwohl diese für sich selbst immer mal wieder Pelzmäntel kaufte.

Sarahs Adoptivvater sah dem allem zu, ohne einzugreifen, und es gab auch sonst niemanden aus der Verwandtschaft, der sich für Sarah eingesetzt hätte. So lernte sie schon früh, mit zweierlei Maß zu messen, was ihren Wert und den Wert ihrer Bezugspersonen anbetraf.

Sie fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Du weißt, dass ich oft im Laden meines Vaters mithelfen und auch Kunden beliefern musste. Eines Tages sollte ich ein paar Flaschen Sherry an einen reichen Kunden meines Vaters liefern. Ich bin mit meinem Fahrrad in den Laden gefahren, habe die Sherryflaschen genommen und das Wechselgeld, das mein Vater mir mitgab. Dann fuhr ich zu dem Kunden.

Er war ein gediegener Herr im besten Alter und er begrüßte mich mit den wohlwollenden Worten: ›Na, kleine Sarah, hilfst du deinem Papa wieder fleißig?‹ Ich spürte in jenem Moment einen Anflug von Scham, obwohl es nichts gab, wofür ich mich hätte schämen müssen. Vielleicht bezog sich das Gefühl auf meinen Vater, dem nichts Besseres einfiel, als seine kleine Tochter mit Alkohol und auf dem Fahrrad zu einem Kunden zu schicken, anstatt diese Arbeit selbst auszuführen oder von jemand anderem ausführen zu lassen.«

Helmut schaute Sarah mit Betroffenheit an. »Erzähl weiter«, sagte er mit seiner ruhigen, klaren Stimme.

»Der Kunde bezahlte mit einem Hundertmarkschein und ich gab ihm das Wechselgeld, das Papa mir mitgegeben hatte. Ich steckte den Hundertmarkschein in das kleine Papiertütchen, in dem sich das Wechselgeld befunden hatte, und verstaute es in meiner Jackentasche. Dann stieg ich wieder auf mein Fahrrad und fuhr durch die herbstliche Landschaft mit vielen bunten Laubhaufen zurück zum Laden.«

»Als ich dort ankam, verlangte mein Vater das Geld. Ich wollte das Tütchen aus meiner Jackentasche ziehen und stellte mit einem Riesenschreck fest, dass es nicht mehr da war. Ich hatte große Angst, denn ich hatte schon mehrmals erlebt, dass mein Vater sehr cholerisch reagieren konnte, wenn er über etwas wütend wurde. Und so geschah es auch in dem Moment. Als er mein erschrockenes Gesicht sah, brüllt er los: ›Wo ist das Geld? Du wirst doch nicht etwa das Geld verloren haben?‹

Ich fing an zu weinen. Mein Vater lief im Laden umher und schimpfte und schrie laut vor sich hin. Dann grifft er zum Telefon und rief Mama an.«

Sie hielt inne. Helmut konnte sehen, wie sie völlig in die Erinnerung eintauchte. Er füllte ihr Wasserglas nach.

»Ich hörte, wie Papa ins Telefon brüllte, dass ich zu dumm sei, um auf das Geld aufzupassen. Dann knallte er den Hörer auf die Gabel und schrie mich an: ›Fahr nach Hause zu deiner Mutter. Und dann such das Geld und bring es mir.‹

Ich stieg schluchzend auf mein Fahrrad und radelte nach Hause. Meine Mutter empfing mich mit einem strengen Blick. ›Was ist passiert?‹, wollte sie wissen. ›Wo ist das Geld?‹ Ich schluchzte und sagte: ›Ich weiß es nicht. Ich glaub, ich hab's verloren.‹ Mama erwiderte: ›Du musst es finden. Dein Vater braucht das Geld. Er wird sehr wütend auf dich sein, wenn du es ihm nicht bringen kannst.‹

Ich war verzweifelt. Wie sollte ich das Geld finden? Es gab so viele Laubhaufen in dem Park und inzwischen hatte es auch angefangen zu regnen. Das interessierte Mama aber nicht und sie kam auch nicht auf die Idee mitzukommen. Ich stieg wieder auf mein Fahrrad. Einerseits glaubte ich nicht, dass es möglich sei, das Geld in den vielen Laubhaufen zu finden, andererseits hatte ich schreckliche Angst, wenn ich mir vorstellte, ohne das Geld zu meinem Vater zu kommen.«

Helmut schüttelte den Kopf. Sarah konnte Empörung in seinem Gesicht sehen. Er sagte: »Ich verstehe einfach nicht, wie eine Mutter so kalt sein kann.«

»Der Regen tröpfelte auf mich herab und langsam wurde es auch noch dämmrig. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, und betete: ›Bitte, bitte, lieber Gott, hilf mir, das Geld zu finden. Ich muss es finden.‹

Im Park angekommen, stieg ich vom Fahrrad ab und suchte angestrengt den feuchten, mit Laub bedeckten Boden ab. Eine Frau beobachtete mich und fragte, was ich da tue. Ich antwortete: ›Ich habe einen Hundertmarkschein in einem Tütchen verloren. Das Geld ist für meinen Vater. Ich muss das Tütchen wiederfinden, sonst ist mein Vater ganz böse.‹ Die Frau reagierte betroffen und sagte mir, dass sie mir helfen würde. Sie fragte mich, ob ich mich erinnern könne, wo ich das Tütchen verloren hatte, aber ich konnte mich nicht erinnern. Ich bemerkte aber an dem Verhalten der Frau, dass sie nicht daran glaubte, dass wir das Geld wiederfinden würden.«

Sarahs Augen füllten sich mit Tränen und Helmut strich ihr zärtlich übers Haar.

»Wir durchwühlten eine Zeit lang die feuchten Laubhaufen im Park. Es war klar, dass die Chance, das Tütchen mit dem Geld in einem der Haufen zu finden, gegen null ging. Nach einer halben Stunde Suchens und zunehmender Dunkelheit sagte die Frau vorsichtig zu mir, dass es vielleicht besser wäre, jetzt aufzuhören. ›Du solltest langsam nach Hause fahren. Es wird schon dunkel.‹ Ich war verzweifelt. Meine Gedanken überschlugen sich. Was sollte ich der Frau sagen? Dass ich panische Angst davor hatte, nach Hause zurückzukehren? Dass ich Angst hatte, dass mein Vater schreien und meine Mutter mich womöglich schlagen würde? Ich wusste, dass ich der Frau das unmöglich erzählen konnte. Ich schämte mich viel zu sehr dafür.«

Sie blickte Helmut in die Augen. »Weißt du, ich hatte oft das Gefühl, keine ›normalen‹ Eltern zu haben, und ich schämte mich, weil alles so unnormal war.«

Ihr Ehemann nickte. »Das ist verständlich, Sarah. Irgendwie musstest du mit der Situation umgehen. Du konntest ja als Kind nicht deine Koffer packen und ausziehen.«

Sarah erwiderte traurig: »Nein. Das konnte ich nicht.« Sie seufzte. »Ich bedankte mich bei der Frau für ihre Hilfe und stieg wieder auf mein Fahrrad. Dann radelte ich langsam aus dem Park hinaus und die Straße entlang. Ich war so verzweifelt und hoffnungslos. Am liebsten wäre ich einfach verschwunden. Ohne das Tütchen nach Hause zurückzukehren, erschien mir schrecklich, aber was sollte ich sonst tun?

Ich fuhr langsam den Weg entlang, schwankend zwischen Resignation und der Hoffnung auf ein Wunder. Mir war kalt und ich wünschte mir voller Inbrunst, dass irgendein Zauberer mich einfach aus der Situation erlösen würde. Je näher ich meinem Elternhaus kam, desto weiter wünschte ich mich weg. Aber wohin sollte ich gehen? Ich hatte ja nur diese Eltern.

Und plötzlich, du wirst es nicht glauben, entdeckte ich etwas Weißes auf dem Boden, schon halb durchnässt vom Regen. Ich stieg vom Fahrrad ab und hob es vom Boden auf. Ich traute meinen Augen nicht – es war das Tütchen, MEIN Tütchen. Ich machte das nasse Tütchen vorsichtig auf, und sah, dass der Hundertmarkschein noch darin war. Mein Herz hüpfte vor Aufregung.

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass ich tatsächlich die Stecknadel im Heuhaufen gefunden hatte. Dann dachte ich: ›Jetzt kann ich endlich wieder nach Hause fahren.‹

Ich hatte das Unmögliche geschafft – ich hatte das Tütchen wiedergefunden. Mein Vater würde nicht schreien und meine Mutter würde mich nicht schlagen. Heute Abend zumindest wäre der Familienfrieden gesichert. Voller Schwung stieg ich wieder auf mein Fahrrad und fuhr heim.

Zu Hause angekommen, zeigte ich meiner Mutter das Tütchen. Ich weiß noch genau, wie sie reagierte. Sie sagte, sie müsse sofort den Vater anrufen, um ihn zu beruhigen. Nachdem sie das getan hatte, war normales Abendprogramm angesagt. Hände und Gesicht waschen, Abendbrot, Zähneputzen und ins Bett gehen – ohne ein anerkennendes Wort. Aber ich erwartete auch kein Lob. Ich war schon froh, wenn die Katastrophe vorbeizog und meine Eltern in einem normalen Zustand blieben.«

»Aber das war nicht an der Tagesordnung, oder?«

»Nein, war es nicht. Von sieben Wochentagen gab es an mindestens vier Tagen irgendwelche Probleme und familiären Verstimmungen. Es war sehr schwierig für mich, die Auslöser zu erkennen, aber ich bemühte mich sehr, Anzeichen vorherzusehen und mich dann ganz brav und ruhig zu verhalten – in der Hoffnung, das drohende Gewitter möge vorbeiziehen.«

Sie nahm noch einen Schluck Wasser und fuhr fort: »Weißt du, Lilo war einfach unberechenbar für mich. An guten Tagen machte sie Scherze und sagte mir, dass ich ein hübsches, begabtes Kind sei und alles, was sie habe. An schlechten Tagen sagte sie, dass ich an ihrem Unglück schuld sei und dass sie Papa schon lange verlassen hätte, wenn es mich nicht gäbe. Ich hörte ihr jedes Mal aufmerksam zu, bemüht, den Sinn in ihren Worten zu verstehen. In meinem Inneren regte sich in solchen Momenten die Frage: ›Ja, aber warum hast du mich denn dann adoptiert?‹ Ich hätte jedoch niemals gewagt, diese Frage offen zu stellen, aus Angst die Mutter zu verärgern oder womöglich einen Wutanfall mit Schlägen zu provozieren.«

Helmut nickte nachdenklich.

»Wenn sie schlug, war sie völlig außer sich. Sie benutzte irgendwelche Küchengegenstände und ich war nur damit beschäftigt, meinen Kopf zu schützen, um Verletzungen zu verhindern. Nach den Anfällen ging sie türeschlagend in den Keller, in dem sie sich dann erst einmal eine Weile aufhielt, um sich wieder zu beruhigen. Dort gab es ein ganzes Arsenal von Süßigkeiten, Alkohol und Tabletten, die sie reichlich konsumierte. Wenn sie sich da unten aufhielt, war es ratsam, sie auf keinen Fall zu stören, denn sonst konnte ein weiterer Wutanfall die Folge sein.«

»Und hat denn niemand von den Nachbarn jemals etwas bemerkt? Oder von deinen Verwandten? Haben die alle weggeschaut?«

Sarah nickte traurig. »Ja, ich glaube, niemand wollte es wahrhaben.« Sie schluckte und fuhr fort: »Ich hätte es ja auch niemandem erzählt. Es war zu schlimm. Ich bemühte mich in solchen Situationen, mich alleine in meinem Zimmer zu beschäftigen und den Gefühlsaufruhr in meinem Inneren irgendwie selbst wieder zur Ruhe zu bringen. Ich bastelte, malte, häkelte oder spielte mit meinen Puppen. Es herrschte dann eine unheimliche Ruhe im Haus, eine Grabesstille, die mir Angst machte. Es gab jedoch niemanden, dem ich meine Angst hätte mitteilen können. Manchmal erzählte ich meinen Puppen davon oder betete, dann fühlte ich mich getröstet.«

Helmut nahm sie in den Arm und sagte mit fester Stimme: »Mein Gott, wie verlassen du warst! Du musstest mit deinen Ängsten ganz alleine zurechtkommen. Ich bin so froh, dass du mir jetzt all das erzählen kannst und dass ich für dich da sein kann.«

Sarah schmiegte sich an ihn und fühlte sich vollkommen geborgen.

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