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Sarah – April 2007

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Es war stickig in dem nüchternen, neonbeleuchteten Gerichtssaal an diesem sonnigen Apriltag. Sarah hatte soeben Platz genommen und beobachtete die Menschen um sich herum. Da war ihre Anwältin – blond und mondän. Sie war Mitarbeiterin einer renommierten Stuttgarter Rechtsanwaltskanzlei. Als Sarah sie in diesem Moment sah, mit Sonnenbrille, Kostüm und einer Attitüde, die besser in ein Luxusrestaurant als in einen Gerichtssaal hineingepasst hätte, fragte sie sich, ob sie nicht doch besser einen anderen Anwalt gewählt hätte. Aber in Stuttgart war die Kanzlei Hartmann & Gebert die beste Adresse für Prozesse gegen Geldinstitute und außerdem wäre ein Wechsel zum jetzigen Zeitpunkt schwierig gewesen, zumal sie dann zu einer Kanzlei nach München hätte wechseln müssen, was mit noch mehr Aufwand verbunden gewesen wäre.

Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Frauen hatte sich schon seit dem ersten Treffen im Oktober 2005 schwierig gestaltet. Sarah hatte immer das Gefühl, dass die Anwältin sie nicht wirklich verstand. Wenn sie versuchte, Frau Gebert die Motive darzulegen, aus denen heraus sie ihre Bank verklagt hatte, konnte sie sich nie ganz des Eindrucks erwehren, dass diese ihre Absichten nicht ganz begriff. Es war, als ob sie sich auf einer anderen Wellenlänge befand.

Die Anwältin hatte zwar keine gute Meinung von dem Geldinstitut, gegen das Sarah klagen wollte, aber sie war von Anfang an distanziert ihr gegenüber und sie zweifelte am Erfolg eines etwaigen Vorgehens gegen die Bank. »Vielleicht hätte ich nach diesem ersten Gespräch einen anderen Anwalt kontaktieren sollen«, dachte Sarah, als sie sich jetzt in dem grell beleuchteten Gerichtssaal wiederfand. Aber sie hatte entschieden, es mit dieser Anwältin zu versuchen.

Nun saß sie an diesem frühlingshaften Montag hier, atmete die muffige Atmosphäre ein und merkte, wie ihre eigentlich optimistische Grundstimmung ins Wanken zu geraten drohte. Der Richter, der vor ihr saß, war ein junger, gutaussehender Mann, der sich nonchalant gab. Sarah fragte sich, ob er genügend Erfahrung besaß, um ihre Geschichte richtig beurteilen und ein gerechtes Urteil fällen zu können.

Gerade betrat der Anwalt der Bank, begleitet von deren Assessorin, den Gerichtssaal. Er hatte ein rotes Gesicht und war übergewichtig – er sah aus wie jemand, der zu viel aß und trank und sich damit einen Ausgleich zu seinem Beruf schuf. Er bedachte Sarah mit einem Blick, als hätte sie ihn tätlich angegriffen. Es war ihr sofort klar, dass dieser Mann alles versuchen würde, um die Bank aus dem Schlamassel herauszuholen und Sarah und ihre Geschichte zu diskreditieren. Die Assessorin machte einen eher schuldbewussten Eindruck und versuchte, dies hinter einem möglichst neutralen Gesichtsausdruck zu verbergen. Außerdem waren noch Sarahs Ehemann und ihre beste Freundin im Saal.

Die Verhandlung begann. Der junge Richter räusperte sich. Er blickte Sarah mit einer Mischung aus Neugier und kaum spürbarer Missbilligung an. »Dann fangen Sie mal an zu erzählen, Frau Breuner. Und bitte, möglichst lückenlos.«

Sie holte tief Luft. Zwei Tage vorher hatte sie die letzte Besprechung mit Frau Gebert gehabt, die ihr erzählt hatte, der gegnerische Anwalt sei ein ›netter Mensch‹ und vor Gericht gehe es ›gesittet‹ und ›normal‹ zu. Nun, als sie die extrem angespannte und feindselige Atmosphäre im Raum spürte, fragte sie sich, ob die Anwältin ihr die Wahrheit gesagt hatte. Sie hatte Frau Gebert gefragt, ob sie noch etwas tun könne, um sich gut vorzubereiten, aber diese hatte lässig abgewinkt. Sarah solle einfach die Wahrheit erzählen.

So begann sie: »Im Mai 2004 beauftragte ich einen Privatdetektiv, nach meinen leiblichen Eltern zu forschen, nachdem ich einige Gespräche mit dem Jugendamt in Stuttgart und Berlin geführt hatte, in deren Verlauf mir mitgeteilt wurde, dass mir leider keine Auskünfte erteilt werden könnten.«

Sie hielt kurz inne und ließ die unangenehmen Gespräche Revue passieren, bei denen sie wie eine lästige Fliege abgewimmelt worden war mit den lapidaren Worten: »Mit Ihren Adoptiveltern wurde vereinbart, dass keinerlei Auskünfte über Ihre leibliche Familie erteilt werden dürfen.«

Weder Tränen noch Wut noch die Intervention ihres damaligen Anwaltes hatte etwas genutzt. Schließlich hatte sie in ihrer Verzweiflung einen Privatdetektiv beauftragt, der angeblich auf solche Fälle spezialisiert war.

Sie räusperte sich und fuhr fort: »Der Detektiv fing an, für mich zu arbeiten. Ich musste recht hohe Vorschüsse an ihn bezahlen. Nach einiger Zeit teilte er mir mit, dass er fündig geworden sei. Meine leibliche Mutter lebe wahrscheinlich in Argentinien. Wir vereinbarten, dass er in das Land reisen würde, um weitere Nachforschungen anzustellen.«

»Es wurden weitere Gebühren fällig, die ich alle von meinem Konto überwies. Eines Tages sah ich auf meinem Kontoauszug, dass ein Betrag von 45.000 € per Lastschrift von einem mir unbekannten Anwalt aus Argentinien eingezogen worden war, ohne dass ich eine Autorisierung dazu gegeben hätte. Ich ging sofort zu meiner Bank, um die Rückbuchung des Betrags zu veranlassen, aber ein paar Tage später teilte man mir lapidar mit, das sei leider nicht möglich.«

Sie schluckte trocken und merkte, wie die Gefühle von damals wieder in ihr hochstiegen – Ungläubigkeit, Entsetzen, Wut und Hilflosigkeit.

»Von dem Privatdetektiv habe ich nie wieder etwas gehört«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu.

Der Richter schaute sie zweifelnd an und fragte: »Frau Breuner, an welchem Tag hatten Sie denn das Gespräch in Ihrer Bank, um das Geld zurückbuchen zu lassen?«

»Am 3. Juni 2005.«

Sie hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da sprang der gegnerische Anwalt auf und rief in feindseligem Ton: »Nein, das stimmt nicht. Es war der 30. Mai 2005.« Der Richter schaute Sarah an und als sie nichts sagte, diktierte er in sein Diktiergerät: »Die Zeugin hat sich im Datum geirrt.«

Sie fühlte sich verunsichert, denn sie war davon ausgegangen, dass die Geschichte als solche und nicht die genauen Termine und Uhrzeiten wichtig seien. Jedenfalls hatte ihre Anwältin ihr das so vermittelt. Wenn sie gewusst hätte, dass die Zeiten so wichtig waren, hätte sie sich eine Liste erstellt. »Vielleicht wäre das aber auch die Aufgabe von Frau Gebert gewesen«, dachte sie in diesem Moment.

Sie fuhr fort: »Ich hatte, nachdem der Detektiv in Buenos Aires angekommen war, telefonisch und per E-Mail mit ihm korrespondiert und die Gebühren überwiesen, die er von mir verlangt hatte. Zu dem Zeitpunkt war ich mir sicher, dass er vertrauenswürdig war.«

Dann machte sie eine kurze Pause, die der gegnerische Anwalt wiederum nutzte. »Wie konnten Sie nur so naiv sein«, stieß er in aggressivem Ton hervor.

Sarah fühlte sich in ihrer Glaubwürdigkeit angegriffen und blickte hilfesuchend zu ihrer Anwältin. Diese verfolgte das Ganze mit neutralem Gesichtsausdruck. Sarah fragte sich, warum sie nicht eingriff, denn sie fühlte sich zusehends unter Druck.

Der Höhepunkt der Befragung war erreicht, als der Richter wissen wollte, mit welchem Mitarbeiter der Bank sie das erste Gespräch über die Rückbuchung geführt hatte. »Mit meinem Kundenberater, Herrn Manfred Müller.« Der gegnerische Anwalt brüllte los: »Ich habe hier eine Erklärung von Herrn Müller, dass er zum fraglichen Zeitpunkt in Urlaub war. Ich werde Sie wegen Prozessbetrugs verklagen!«

Sarah war schockiert. Die Gespräche mit der Bank waren zwei Jahre her und sie hatte mit mehreren Mitarbeitern des Geldinstituts über die Rückbuchung gesprochen, nicht nur mit einem, war sich aber relativ sicher, dass sie das erste Gespräch mit Herrn Müller geführt hatte.

Sie fühlte sich immer unwohler und fragte sich, was in diesem Gerichtssaal für ein Spiel gespielt wurde. Immer noch griff ihre Anwältin nicht ein. Sarah spürte das Mitgefühl ihrer Freundin, die ihr schräg gegenüber saß, aber auch deren Verunsicherung, und gleichzeitig die Bestürzung ihres Ehemannes, der hinter ihr saß.

Nach zwei Stunden war die Befragung abgeschlossen und der Richter schickte Sarah nach draußen. Er würde als Nächstes den Hauptzeugen der Bank, Sarahs Kundenberater Manfred Müller, befragen. Als sie sich ermattet auf der Holzbank niederließ, fühlte sich ihr Kopf an, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Nach etwa zehn Minuten trat ihre Anwältin aufgebracht auf den Gang. Sie kam mit energischen Schritten auf sie zu und sagte: »Frau Breuner, ich muss Sie darauf hinweisen, dass die gegnerische Seite Sie wegen Prozessbetrugs verklagen kann, falls sich herausstellen sollte, dass das erste Gespräch in der Bank nicht mit Herrn Müller, sondern mit einem anderen Mitarbeiter geführt wurde.«

Sarah verstand weder den feindseligen Ton ihrer Anwältin noch wusste sie, was sie falsch gemacht hatte.

Sie wandte sich an Frau Gebert. »Man kann die Sache doch nicht einfach herumdrehen und die Anklägerin zur Beklagten machen.«

Die Anwältin verzog das Gesicht zu einer missbilligenden Grimasse. »Frau Breuner, Sie müssen sich jetzt sofort entscheiden, ob Sie den Prozess weiterführen oder aufhören wollen. Wenn Sie weitermachen, kann es sein, dass man Sie wegen Prozessbetrugs belangt.«

Sarah straffte sich, atmete durch und erwiderte mit fester Stimme: »Ich werde weitermachen.« Die Anwältin verschwand ohne ein weiteres Wort im Gerichtsaal.

Sarah setzte sich wieder auf die Holzbank. Ihr war schwindelig und sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. Ihr Kopf war wie in Watte gehüllt. Sie schloss einen Moment die Augen und wünschte sich, einfach unsichtbar zu sein.

Das Öffnen der Türe zum Gerichtssaal riss sie aus ihren Gedanken. Die Anwältin bat sie in kühlem Ton, in den Gerichtssaal zurückzukehren. Sarah ging zu ihrem Platz. Der Richter verkündete, dass an diesem Tag noch kein Urteil ergehen werde, weil noch weitere Zeugen von der Bank vernommen werden sollten. Der neue Termin wurde auf November 2007 festgelegt. Die Verhandlung war beendet. Sarahs Anwältin verabschiedete sich knapp und ohne weitere Erklärungen oder gar aufbauende Worte für ihre Mandantin.

Als sie mit Helmut und Annelie auf der Straße stand, hielt ihr unwirkliches Gefühl an. Sie fühlte sich wie in einem Traum, aus dem sie gerne aufgewacht wäre, aber das war in diesem Augenblick anscheinend nicht möglich. Helmut musste zur Arbeit. Annelie versuchte, sie zu trösten, war aber selbst so betroffen, dass ihr dies nur begrenzt gelang. Nachdem die beiden Frauen zu Mittag gegessen hatten, brachte Sarah ihre Freundin zum Bahnhof und fuhr dann nach Hause. Sie fühlte sich so erschlagen, dass sie nicht fähig war, auch nur einen Handschlag zu tun.

Den Nachmittag verbrachte sie mit Kopfschmerzen auf dem Sofa. Als sie mit Helmut und ihrer Tochter Leonie beim Abendessen saß, brachte sie kein Wort heraus. Sie ging früh ins Bett, denn am nächsten Tag hatte sie einen vollen Terminkalender und wollte ausgeruht sein.

Sarah hatte seit etlichen Jahren eine gut gehende psychotherapeutische Praxis in Stuttgart. Sie liebte ihre Arbeit und nahm diese sehr ernst. Dazu gehörte für sie auch, dass sie ihren Klienten immer in einem souveränen und ausgeruhten Zustand begegnete. Klarheit, Präzision und Tiefgang machten die Qualität ihrer Arbeit aus und waren die Schlüssel ihres Erfolges.

Als sie am nächsten Tag erwachte, hatten sich die Kopfschmerzen noch verstärkt und sie dachte: »Irgendwie muss ich diesen Tag hinter mich bringen und dann brauche ich einen Termin bei meiner Supervisorin.«

Sie schaffte es, mithilfe von zwei Aspirin und großer Willensanstrengung ihre Aufgaben zu erfüllen. Als der letzte Klient ihre Praxis verlassen hatte, nahm sie ihre Autoschlüssel und machte sich auf den Weg zur Praxis von Geneviève, bei der sie glücklicherweise noch am gleichen Abend einen Termin bekommen hatte.

Sie schilderte die Erlebnisse vor Gericht, ihre Kopfschmerzen, das Gefühl, von ihrer Anwältin völlig im Stich gelassen zu werden, die Angriffe des gegnerischen Anwaltes und die undefinierbare Haltung des Richters.

Als Geneviève sie fragte, was das Schlimmste an dem Tag gewesen sei, brach Sarah in Tränen aus. »Die Kälte meiner Anwältin zu sehen und zu spüren, war das Allerschlimmste.«

»Und was hast du in dem Moment gedacht?«

»Ich habe mir gewünscht, unsichtbar zu sein.«

»Und an was erinnert dich das?«

Unter Tränen entgegnete Sarah: »An meine Adoptivmutter. Sie war auch so kalt zu mir. Und ich hatte immer Angst, dass sie mich angreifen würde.«

»Wenn das eine solch große Wunde ist, dann wäre es vielleicht gut, wenn wir eine Rückführung in deine Kindheit machen und schauen, wo und unter welchen Umständen diese Wunde entstanden ist. Was hältst du davon?«

Sarah nickte. Minuten später lag sie auf der bequemen Couch. Geneviève leitete sie an: »Atme tief durch, vergegenwärtige dir nochmals die Situation vor Gericht, und dann geh zurück in der Zeit, in deine Kindheit hinein und in die Situation, wo es die gleichen Gefühle gab.«

Schon als die Supervisorin angefangen hatte zu sprechen, war ein Bild aufgetaucht. Sarah sah sich als etwa zehnjähriges Mädchen neben ihrer Adoptivmutter auf einer Bank sitzend. Liselotte weinte und Sarah dachte: »Am besten wäre es, unsichtbar zu sein.«

Und dann war sie auch schon mittendrin in der Geschichte.

Karmische Rose

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