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Sarah – Mai 1974

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Wie so oft hatte es heftigen Streit zwischen Liselotte und Heiner gegeben. Lilo hatte getrunken und sicher auch schon ein paar Beruhigungspillen geschluckt. Sarah saß am Küchentisch und sollte essen. Sie hatte zwar Hunger, aber die angespannte Stimmung in der Küche nahm ihr den Appetit. Jeder Bissen, den sie in ihren Magen brachte, fühlte sich an wie ein Stein. Schließlich schob sie ihren Teller weg. Dann wollte sie aufstehen und in ihr Zimmer gehen, aber Liselotte hielt sie fest. Sie schrie: »Du gehst jetzt nicht, du hörst mir jetzt zu!«

Sie versuchte, sich loszureißen, aber ihre Adoptivmutter war stärker als sie. Auf dem Herd stand ein Kessel, in dem das Wasser gerade eben zum Kochen kam. Als Sarah nicht nachgab, nahm ihre Mutter mit einem irren Blick den Kessel vom Herd und brüllte: »Dir werde ich's zeigen«, und schüttete dabei das heiße Wasser über Sarahs Arm.

Das Mädchen schrie vor Schmerz und begann zu weinen. Heiner erwachte aus seinem gelähmten Zustand und packte seine Frau am Arm. Schwer atmend nahm er ihr den Kessel aus der Hand. Liselotte riss sich von ihm los und rannte schreiend aus der Küche. »Ich verlasse euch sowieso. Das Leben hier mit euch gefällt mir nicht. Ich gehe nach Südamerika.«

Dann war sie verschwunden und ließ ihr schluchzendes Kind und ihren geschockten Mann in der Küche zurück. Gott sei Dank trug Sarah an diesem Tag einen langärmeligen Pullover und darunter ein ebenfalls langärmeliges Unterhemd. Aber ihre rechte Hand und das Handgelenk waren rot und schmerzten sehr.

Heiner nahm sie in den Arm. Er versuchte, sie zu trösten. »Es ist doch nicht so schlimm.« Die Worte erreichten Sarah nicht, denn es war schlimm.

Gleichzeitig spürte sie Heiners Hilflosigkeit. Wie immer in solchen Situationen versank er in seiner eigenen Lethargie, statt dafür zu sorgen, dass die Misshandlungen aufhörten. Trotzdem war es besser, von ihm im Arm gehalten und auf seine Art und Weise getröstet zu werden, als die Lieblosigkeit ihrer Mutter zu erleiden.

Als sie sich langsam wieder beruhigte, holte er ein Taschentuch und wischte Sarah die Tränen ab. Dann nahm er sie auf den Schoß. »Meine Kleine, ich hab dich doch so lieb. Wir beide könnten doch ein neues Leben anfangen. Was hältst du davon? Ich schließe den Lebensmittelladen und wir beide machen dann eine richtig schicke Parfümerie in der Innenstadt auf, im besten Geschäftsviertel. Du bist so hübsch und so talentiert. Du kannst die Kunden bedienen und ich mache den Rest.«

Sarah hörte ihm zu und es war ein irreales Gefühl. Ihr Arm schmerzte und wahrscheinlich wäre es gut gewesen, wenn ein Arzt einen Blick darauf geworfen hätte, aber ihr Vater erzählte ihr von seinen Träumen, in die er sie mit einbaute, als wäre sie schon erwachsen und als würden sie gerade gemütlich Kaffee trinken.

Merkwürdig war allerdings, dass seine Worte in ihr nicht nur das irreale Gefühl auslösten, sondern auch etwas anderes. Nachdem sie seinen einlullenden Worten eine Weile zugehört hatte, fühlte sie plötzlich eine Art von Freude über ihre Wichtigkeit. Er fand sie hübsch und talentiert und er hielt sie für fähig, ein Geschäft zu führen. Er gab ihr mit seinen Worten eine Bedeutung, auch wenn ihr Arm noch immer vor Schmerz brannte.

Sarah merkte, wie sie zwischen drei Gefühlen hin- und herschwankte – das eine war Freude darüber, von ihrem Vater soviel Beachtung zu bekommen, das zweite war Verstörtheit über die Geschichte, die er ihr erzählte und in der sie eine Rolle hatte, die sie im wahren Leben nicht hatte, und das dritte war der brennende Schmerz im Arm, der nicht aufhörte.

Die Situation war irgendwie falsch. Aber gleichzeitig war diese falsche Situation um so vieles besser als die Schläge, die Grausamkeiten und die Unberechenbarkeit ihrer Mutter. Sarah hatte den Impuls, sich zu entziehen, aber sie konnte es nicht. Zu groß war ihr Bedürfnis nach Wärme und tröstenden Worten. Die Sätze ihres Vaters, so befremdlich sie auch waren, taten ihr trotzdem gut, einfach, weil es menschliche Worte waren, die in einem warmherzigen Ton gesprochen wurden und nicht mit der schneidenden Kälte, Ironie oder Verrücktheit ihrer Mutter.

Sie begann, sich zu entspannen. Ihr Vater redete weiter. Ab und zu streichelte er ihr über den Kopf. Kurz darauf merkte sie, dass seine Umarmung irgendwie anfing sich zu verändern. Auch die Art und Weise, wie er ihr übers Haar strich, war nicht mehr so wie vorher. Und sein Atem ging schneller.

Ihr Körper fing wieder an zu verkrampfen. Als Erstes spürte sie es im Bauch, dann in den Schultern. Heiner redete jetzt nicht mehr, sondern küsste ihre Wange auf eine merkwürdige Art und Weise. Im nächsten Moment begann er, ihren Körper zu streicheln – erst den Rücken, dann die Beine, die Arme und schließlich ihren Bauch. Sie erstarrte immer mehr und dachte: »Ich muss weg«, aber ihr Körper war wie gelähmt. Sie konnte ihre Arme und Beine nicht im Geringsten bewegen, so als würden die Impulse im Gehirn nicht weitergeleitet.

Eine Minute später wurde es noch unbehaglicher. Da, wo sie auf dem Schoß ihres Vaters saß, wurde es plötzlich hart und gleichzeitig ging Heiners Atem noch schwerer.

In diesem Moment geschah etwas. Ein Sog zog sie aus ihrem Körper heraus und im nächsten Augenblick sah sie die Szene von oben. Sie schwebte über ihrem Kinderkörper. Das Gute war, dass sie nichts mehr von diesen unangenehmen Körpergefühlen spürte – keine Hitze, keine Bauchkrämpfe, keine Enge im Brustkorb und keine Atemnot mehr. Da oben war sie sicher. Dann aber blickte sie auf den Körper herab und fragte sich: »Wem gehört dieser Körper?« Unbehagen stieg in ihr auf. Sie dachte: »Das ist ja mein Körper. Aber was macht er da unten? Warum ist er dort und ich bin hier? Und was passiert da gerade?«

Einerseits hatte sie das Bestreben, wieder nach unten in ihren Körper hineinzugehen, andererseits dachte sie: »Nein, niemals, ich will nicht wieder da unten hin.« Also blieb sie oben, unter der Zimmerdecke, wo sie in Sicherheit war. Aber es gefiel ihr nicht, was sie da unten sah. Ihr Körper wirkte verkrampft und schutzlos und das Gesicht ihres Adoptivvaters war gerötet. Sie sah, dass seine Hände nun überall auf ihrem Körper waren und dass er angefangen hatte, ihr den Pullover über den Kopf zu ziehen.

Es war ein groteskes Bild von der Zimmerdecke aus. Sarah sah ihr gerötetes Handgelenk und die rote Hand und sie erinnerte sich an das, was Minuten vorher passiert war. Inzwischen war ihr Körper da unten halbnackt und ihr Adoptivvater atmete immer heftiger. Gleichzeitig hörte sie seine Worte. »Du bist doch meine Süße. Du bist meine Beste. Meine kleine Sarah. Deine Haut ist so weich. Das tut mir so gut.« Die Worte hörten sich an wie süßes Gift. Sie waren falsch und es waren nicht die Worte, die zwischen einem Vater und seiner Tochter gesprochen werden sollten.

Dann sah sie, wie Heiner sein Geschlechtsteil entblößte. Es war erigiert und es sah irgendwie dick und bedrohlich aus. »Wie hässlich«, dachte sie. Dann rieb er dieses Teil an ihrem entblößten Hinterteil. Dabei wurde sein Gesicht immer röter und sein Atem ging immer schneller. Ihr Körper da unten sah aus wie der Körper einer Puppe. Er bewegte sich hin und her, im selben Rhythmus, wie der Mann sich bewegte. Es war so, als ob alles Lebendige aus dem Körper gewichen wäre.

Wieder spürte Sarah da oben den Impuls, in ihren Körper hineinzugehen, um ihm zu helfen, und wieder merkte sie, dass die Angst zu groß war. Dann fühlte sie plötzlich ein überwältigendes Schuldgefühl darüber, dass sie ihren Körper verlassen und da unten schutzlos zurückgelassen hatte.

Das Gefühl verstärkte zunehmend – es war wie eine graue Wolke, die sich ausbreitete. Sie wusste nicht mehr, ob es ihr Schuldgefühl war oder das des Mannes, der dort unten mit ihrem Körper etwas tat, was er niemals hätte tun sollen. Die graue Wolke breitete sich immer mehr über das Geschehen aus, so als ob sie es ganz erfasste. Dann fiel der Mann mit einem Aufstöhnen in sich zusammen. Sarah sah von oben die klebrige Flüssigkeit, die an dem Mädchenkörper haftete und ein paar Sekunden später war sie wieder in ihrem Körper.

Als Erstes spürte sie Ekel, verursacht durch die Flüssigkeit, die ihre Beine herunterkann, als Nächstes ihren Bauch, der sich wie ein Klumpen anfühlte, so als hätte sie einen großen, schweren Stein verschluckt. Dazu kamen Atemnot und Beklemmung. Am liebsten wäre sie sofort wieder aus ihrem Körper herausgegangen, aber es ging nicht mehr.

Heiner zog ein Taschentuch hervor und entfernte sich damit den Schweiß von der Stirn. Dann wischte er Sarah die Beine ab. Er zog seine Hose hoch und streifte ihr den Pullover und den Rock wieder über. Plötzlich spürte sie erneut die Schmerzen am Handgelenk und sie sah ihre gerötete Hand. Da erinnerte sie sich, wie die ganze Situation angefangen hatte, und sie wollte weinen. Aber auch das ging nicht. Die Tränen blieben ihr im Hals stecken. Sie nahm einen tiefen Atemzug, stand auf, rannte aus der Küche und in ihr Zimmer. Als sie die Türe hinter sich abgeschlossen hatte, warf sie sich aufs Bett und endlich kamen die erlösenden Tränen.

Sie weinte und weinte und es war so, als könne sie nicht mehr aufhören. Sie fühlte sich so unendlich verlassen wie noch niemals zuvor. Selbst nach den brutalen Prügelattacken ihrer Mutter hatte sie sich nicht so einsam gefühlt wie in diesem Moment. Auf Lilo konnte sie wenigstens wütend sein und denken: »Ich gehe hier weg, sobald ich alt genug bin.« Dann spürte sie ihre Kraft wieder und eine Zukunftsperspektive für ihr Leben, die jenseits dieses Elternhauses lag.

Jetzt aber war es anders. Ihre Welt oder das, was sie für ihre Welt gehalten hatte, war zusammengebrochen. Da, wo eigentlich ihr Herz war, war Leere. Die restlichen Teile ihres Körpers waren von Trauer und Schmerz überflutet. Sie fühlte sich wie in den Weltraum geworfen, nach Luft schnappend und nicht wissend, ob sie diesen Tag überleben würde und ob es danach noch einen anderen Tag gäbe.

Karmische Rose

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