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Wilhelm Wollenberg – August 1961

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Er bekam kaum mehr Luft und wünschte sich nur noch zu sterben. Seit er vor 5 Monaten die Diagnose ›Kehlkopfkrebs‹ bekommen hatte, war es Tag für Tag bergab gegangen. Er spürte, dass es langsam zu Ende ging. In seinem Krankenhausbett liegend und mit Morphium vollgepumpt, ließ er sein Leben Revue passieren.

Er sah die Metzgerei seines Vaters, viele Kunden, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, und sich selbst als zwanzigjährigen Mann, der alle Hände voll zu tun hatte. Zwei Verkäuferinnen halfen ihm. Das Geschäft lief sehr gut und es gab Tage, an denen sein Vater unterwegs war und ihm alleine die Führung des Ladens überließ. Wilhelm machte die Arbeit Spaß, aber sie war nicht seine Erfüllung. Sein heimlicher Traum war es, Lehrer zu werden.

Sein Vater war ein verschlossener Mann und er konnte mit ihm nicht über seine Pläne sprechen. Nach dem frühen Tod seiner ersten Ehefrau, Wilhelms Mutter, hatte er bald darauf wieder geheiratet. Aus der zweiten Ehe gab es eine Stiefschwester, Magdalena, die von beiden Eltern sehr verwöhnt wurde. Ernst Wollenberg hatte sich in den letzten Jahren immer mehr seiner Tochter zugewandt und seinen Erstgeborenen darüber vernachlässigt. Wilhelm fühlte sich oft zurückgesetzt, aber er war zu stolz, um es sich anmerken zu lassen.

Er hätte sich gewünscht, ein besseres Verhältnis zu seinem Vater zu haben, aber er wusste nicht, wie er dies bewerkstelligen sollte. Immer war die kleine Magdalena dazwischen. Wilhelm war sehr eifersüchtig auf seine Stiefschwester, aber auch diese Gefühle musste er unterdrücken, denn es gab in seiner Umgebung niemanden, der damit hätte umgehen können oder wollen. Tief im Inneren fühlte er eine große Enttäuschung über seinen Vater.

Warum verhielt sich dieser immer so distanziert ihm gegenüber, während er Magdalena mit Geschenken überhäufte? Erna, Wilhelms Stiefmutter, ignorierte ihn quasi völlig. Sein Vater sah dies, schritt jedoch nicht ein. Das schmerzte Wilhelm sehr. Vor allem verstand er nicht, was er getan hatte, um dieses Verhalten seines Vaters zu ›verdienen‹.

Der junge Wilhelm träumte von einem eigenen Leben, weit weg von dem bedrückenden Elternhaus in der niederrheinischen Kleinstadt. Wenn er sich in diesen Tagträumen als Lehrer großer Schulklassen sah, war er glücklich. Doch die Realität holte ihn immer wieder ein, und zwar spätestens, wenn die Stimme seines Vaters durchs Haus schallte: »Wilhelm, du wirst in der Metzgerei gebraucht!«

Wenn er dann in der Wurstküche stand und arbeitete, sah er manchmal von Weitem die kleine Schwester, die mit ihrer Mutter bepackt wie ein Maultier von einem Einkaufsbummel in der Stadt zurückkam. In solchen Momenten dachte er, dass das Leben ungerecht sei, und fühlte Sehnsucht nach seiner eigenen Mutter, an die es zwar keine bewusste Erinnerung mehr in ihm gab, von der er aber genau wusste, dass sie ihn geliebt hatte. Sie war nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben, als er erst drei Jahre alt gewesen war.

So wuchs Wilhelm in materiellem Wohlstand gepaart mit emotionaler Kälte auf. Er entwickelte sich zu einem verschlossenen jungen Mann, der zahlreiche Talente hatte, die von seinem Vater jedoch nicht gefördert wurden.

Als er fünfzehn Jahre alt war und in der Metzgerei angelernt werden sollte, hatte er es gewagt, seinem Vater von seinem Wunsch zu berichten, Lehrer zu werden. Dieser hatte ihn kurz angeschaut und dann kalt zu ihm gesagt: »Niemand aus unserer Familie ist Lehrer und du wirst auch keiner. Du wirst Metzger wie ich auch.« Damit war für ihn das Thema erledigt gewesen.

Es war hart gewesen, von seinem Vater so abgespeist zu werden, aber er hätte es nie gewagt, ihm offen zu widersprechen. Er dachte an seine Mutter und dass diese, wenn sie noch gelebt hätte, ihn unterstützt und seinen Vater dazu bewogen hätte, seinen Berufswunsch zu akzeptieren.

Er hatte nur wenige soziale Kontakte, denn seine Stiefmutter sah es nicht gerne, wenn Freunde von ihm im Haus waren. Ein paar Mal hatte sie sich sehr unfreundlich verhalten. Es war Wilhelm peinlich gewesen und er hatte die Freunde nicht mehr eingeladen. Mit seinem Vater traute er sich nicht darüber zu reden, aus Angst vor einer abweisenden Reaktion. So blieb er stumm und litt.

In diesem Moment betrat die Krankenschwester das Zimmer. Sie fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, und er nickte mit dem Kopf, denn er konnte kaum mehr sprechen.

Als sie wieder gegangen war, sah er den Tag, an dem er mit zweiundzwanzig Jahren Helena Schubert kennengelernt hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Selbst jetzt noch breitete sich Wärme in seinem sterbenskranken Körper aus, wenn er daran dachte.

Helena stammte aus einer begüterten Bauernfamilie. Sie war bodenständig, konnte gut arbeiten und hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Ernst Wollenberg war mit der Heirat einverstanden. So mieteten Wilhelm und Helena Anfang der Dreißiger Jahre eine Metzgerei in einem anderen Stadtteil und bauten sich in vielen Jahren fleißiger Arbeit ein gut gehendes Geschäft auf.

Neun Monate nach der Hochzeit wurde der erste Sohn, Alexander, geboren. Helena war im achten Monat der Schwangerschaft eine steile Kellertreppe hinuntergestürzt und das Kind hatte einen kürzeren Arm und ein schielendes Auge. Man führte diese leichte Behinderung auf den Sturz zurück. Zwei Jahre nach Alexander wurde sein Bruder Andreas geboren. Wilhelm war glücklich – er hatte eine hübsche Frau, die er liebte, zwei kleine Söhne und ein gut gehendes Geschäft.

Aber es gab auch Tage, an denen ihn die Vergangenheit einholte. Dann dachte er daran, dass er jetzt vor seinen Schülern stehen könnte und dass er sich seinem Vater gegenüber hätte durchsetzen müssen.

Als dieser 1934 starb, war Wilhelm sehr traurig, zum einen darüber, dass er seinen Vater verloren hatte, und zum anderen darüber, dass er eigentlich nicht wirklich einen Vater gehabt hatte. Kurze Zeit später erfuhr er, dass seine Stiefmutter eine Änderung des Testamentes bewirkt hatte, sodass sie nun die alleinige Erbin des Hauses, der Metzgerei und aller sonstigen Vermögenswerte war. Wilhelm war schockiert, denn trotz allem war er doch das erste Kind seines Vaters und konnte nicht begreifen, dass dieser einer solchen Maßnahme zugestimmt hatte.

Magdalena hatte sich inzwischen mit einem sehr dominanten jungen Mann verlobt. Robert Schmitz besaß ein Waffengeschäft. Er und Wilhelm hatten von Anfang an eine intensive Abneigung gegeneinander verspürt.

Als er seine Stiefmutter nach seinem Pflichtteil fragte, sagte sie ihm, dass sie ihm dieses momentan nicht auszahlen könne, da ihr als Witwe dazu die Mittel fehlten. Und sie wolle das Haus nicht verkaufen, in dem sie mit Magdalena lebte.

Wilhelm wusste, dass es nur eine Möglichkeit gegeben hätte, an sein Erbe zu kommen. Er hätte seine Stiefmutter verklagen müssen, aber das war nicht seine Art. Und so viel Distanz es auch zwischen ihm und Magdalena gab, letztlich war sie seine Schwester. So verzichtete er zu diesem Zeitpunkt auf seinen Anteil. Helene erkannte, dass grobe Ungerechtigkeit im Spiel war, und drängte ihren Mann zu handeln. Aber als ihr bewusst wurde, dass juristische Schritte unabdingbar sein würden, war auch sie ratlos. Die Angelegenheit wurde vorerst fallen gelassen.

In den nachfolgenden Jahren wurde der Kontakt zwischen Wilhelm und Magdalena immer spärlicher. Als die Schmitz-Familie 1942 ausgebombt wurde, ersuchten sie um Asyl bei ihm und er gewährte es ihnen. Wilhelms Elternhaus war völlig zerstört. Robert Schmitz baute es nach dem Krieg wieder auf.

Als diese Szenen jetzt vor seinem inneren Auge vorbeizogen, verstärkte sich der Schmerz in seinem Hals. Plötzlich dachte er: »Vielleicht hätte ich reden müssen – mit meinem Vater, mit meiner Stiefmutter und mit Magdalena. Ich hätte mich nicht abspeisen lassen dürfen, sondern viel mehr für mich einstehen müssen, vielleicht wäre mir dann diese Krankheit erspart geblieben.«

Karmische Rose

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