Читать книгу Karmische Rose - Ulrike Vinmann - Страница 8

Ludmila – 1939-1945

Оглавление

Tatjanas Familie lebte relativ gut bis zum Jahr 1939. Als sie im Radio hörte, dass England nach dem Einmarsch der Nazis in Polen und dem abgelaufenen Ultimatum Hitlerdeutschland den Krieg erklärt hatte, begriff sie intuitiv, dass dieser Krieg nicht nur England und Deutschland, sondern alle europäischen Länder erfassen würde.

Wenn sie mit Ivan darüber sprach, beruhigte er sie. »Du weißt doch, dass es den Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin gibt – und Hitler wird es nicht wagen, diesen zu brechen.«

Tatjana dachte anders. Der deutsche Tyrann, von dem sie nur die Stimme kannte, wirkte ganz und gar nicht vertrauenswürdig auf sie und sie konnte sich gut vorstellen, dass er seine Meinung von einem Tag auf den anderen ändern würde, wenn es in seine Machtpläne hineinpasste.

1941 war es dann so weit. Das Unfassbare – das, was viele Menschen nicht hatten glauben wollen –, geschah. Hitler erklärte Russland den Krieg. Die wolgadeutsche Republik, die 1918 gegründet worden war und etwa 600.000 Einwohner hatte, wovon etwa zwei Drittel deutscher Abstammung waren, wurde aufgelöst. Am 18. August 1941 wurden die im Wolgagebiet lebenden Deutschen zu Staatsfeinden erklärt. In den Monaten danach wurden die etwa 400.000 verbliebenen Wolgadeutschen der kollektiven Kollaboration beschuldigt und nach Sibirien und Zentralasien deportiert und dort in Arbeitslager gezwungen. Tausende von Menschen starben.

Auch Tatjana blieb dieses Schicksal nicht erspart. Sie wurde in ein Arbeitslager deportiert, Ivan wurde als Kulak erschossen, ihre Kinder – die drei erwachsenen Mädchen und die knapp fünfzehnjährige Ludmila – blieben sich selbst überlassen. Ihr Haus wurde kurz darauf beschlagnahmt, die vier Schwestern in den Wald gejagt. Dort bauten sie sich eine Erdhütte, in der sie notdürftig hausten. Es gab nichts zu essen. Aber für sie war all das besser, als nach Kasachstan oder Sibirien vertrieben zu werden. Stets lebten die Schwestern in der Angst, dass dieses Schicksal sie doch noch ereilen würde.

Es vergingen Monate, ohne von den Behörden behelligt zu werden. Sie waren den ganzen Tag damit beschäftigt, irgendwo Lebensmittel zu ergattern, obwohl dies unter strengster Strafandrohung verboten war. Und eines Tages passierte es dann. Ludmila war am Markttag im Dorf und kam an einem Obststand vorbei. Sie wollte unauffällig zwei Äpfel mitnehmen, aber die Besitzerin des Standes hatte sie gesehen und schrie: »Polizei, Diebstahl!«

Ludmila versuchte zu entkommen, aber es gelang ihr nicht. Zwei bis an die Zähne bewaffnete Soldaten ergriffen sie und steckten sie ins Gefängnis. Verzweifelt versuchte sie sich loszureißen, doch ihr entkräfteter, halb verhungerter Körper hatte nicht mehr genug Energie.

Als sie mit anderen Gefangenen zusammen in der dunklen, feuchten Zelle saß, dachte sie, dass ihr Leben nun zu Ende sei. Es war schrecklich, dort zu sein, aber dennoch war es wärmer als in dem Erdloch, in dem sie mit ihren Schwestern wohnte. Sie wusste nicht, wo ihre Mutter war, sie wusste nicht, welches Schicksal ihre Schwestern ereilt hatte und ob sie überhaupt noch lebten, sie wusste nur, dass sie diesen Tag überleben wollte und dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als lebend aus dem Gefängnis herauszukommen.

Nach ein paar Tagen ließ der Gefängniswärter alle deutschen Gefängnisinsassen aus ihren Zellen holen. Sie wurden auf einen Transporter verladen. Als Ludmila sich, eingezwängt zwischen zitternden und weinenden Menschen, auf dem Laster wiederfand, wusste sie genau, was das bedeutete: die Zwangsdeportation nach Sibirien oder Kasachstan – dorthin, wo sich wahrscheinlich auch ihre Mutter befand. Aber sie war noch nicht bereit aufzugeben. Sie dachte: »Wenn sich eine Gelegenheit bietet, verschwinde ich.«

Ein paar Minuten später setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Am ersten Tag waren sie stundenlang unterwegs. Es gab nur wenige und kurze Pausen, in denen sie von russischen Soldaten mit Maschinengewehren bewacht wurden. Ein Entkommen war unmöglich.

Nach ein paar Tagen Fahrt änderten sich Landschaft und Temperatur zusehends. Es wurde viel kälter, obwohl es erst September war, und es sah immer eintöniger aus. Die Menschen wurden stiller und stiller. Drei hatten sie bereits verloren. Schwerkranke und Sterbende wurden einfach aus dem Laster geworfen, am Straßenrand liegen gelassen und ihrem Schicksal überlassen.

Es gab einige unter den Deportierten, die husteten oder völlig in sich zusammengefallen waren. Ludmila hatte zwar großes Mitgefühl mit den Erkrankten, die ohne Medikamente, Nahrung und Zuwendung auskommen mussten, gleichzeitig hoffte sie aber inständig, dass sie sich nicht anstecken würde. Angesichts der herrschenden Temperaturen, die sich immer mehr in Richtung Null-Grad-Marke bewegten, war sie nur spärlich bekleidet.

Einige Tage später machten sie wieder Pause. Die russischen Soldaten, die sie bewachten, waren in ein nahegelegenes Wirtshaus eingekehrt, aus dem Ludmila lautes Lachen und Zuprosten hörte. Sie wusste, dass der Wodka in Strömen floss. Nahe dem Tross stand zwar noch ein Wächter, aber dieser war in eine Unterhaltung mit einem Kollegen aus dem Ort vertieft und sie dachte: »Jetzt oder nie.«

Die Dämmerung nutzend, entfernte sie sich langsam vom Tross. Vorsichtig tat sie einen Schritt nach dem anderen, immer in der Erwartung, im nächsten Moment den Lauf eines Maschinengewehrs auf sich gerichtet zu sehen, aber nichts geschah. Mit laut klopfendem Herzen schaffte sie es bis in das nahe gelegene Wäldchen. Dann begann sie zu rennen, bis sie nicht mehr konnte. Sie lehnte sich an einen Baum und hielt sich die Seite. In ihrem Inneren wechselten sich Angst und Hoffnung in schneller Reihenfolge ab. Als sie nichts hörte außer dem kalten Wind, der ihr um die Ohren pfiff, begann sie langsam zu begreifen, dass sie entkommen war.

Sie hoffte, ihr Verschwinden würde erst am nächsten Morgen bemerkt werden oder vielleicht sogar erst am darauffolgenden Tag, und sie dachte bei sich, dass es am besten wäre, unsichtbar zu sein. Gleichzeitig wusste sie, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte. Es war eisig, aber sie spürte die Kälte nicht. Sie war ganz von dem Gedanken beherrscht: »Ich muss überleben.«

Sie wusste nicht genau, wo sie sich befand, aber der Winter stand kurz bevor und sie musste wieder zurück in südliche Richtung. Als sie so schnell es ihr ausgezehrter Körper zuließ in Richtung Wald rannte, schwankte sie wieder zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Sie lief etwa zwei Stunden, dann war es völlig dunkel. Sie suchte sich einen Platz zum Schlafen im Schutz eines großen Baumes. Trotz der Kälte schaffte sie es einzuschlafen. Erst am nächsten Morgen wachte sie mit steif gefrorenen Knochen wieder auf.

Sie setzte ihre Wanderung fort und nach weiteren zwei Stunden sah sie aus der Ferne Männer, die aussahen wie deutsche Soldaten. Sie hielt sich versteckt und beobachtete, was vor sich ging. Die Männer brachten verletzte Kameraden zu einem Zelt mit einem großen roten Kreuz. Es musste sich wohl um ein deutsches Lazarett handeln. Sie blieb noch eine Weile auf ihrem Beobachtungsposten und plötzlich wusste sie: »Das ist meine Chance.«

Ihre Mutter hatte Nachbarn und Verwandten oft mit krankenschwesterlicher Hilfe zur Seite gestanden und Ludmila hatte immer zugeschaut. Außerdem sprach sie akzentfreies Deutsch. Wenn sie es schaffte, den Leiter des Lazaretts davon zu überzeugen, dass sie Deutsche war, die sich auf der Flucht vor der russischen Miliz befand, und dass ihre Dienste in dem Lazarett gebraucht werden könnten, war ihr Überleben für die nächsten Wochen gesichert.

Sie hatte allerdings keine Papiere dabei. Diese waren ihr von den russischen Soldaten, die sie auf den Transporter verladen hatten, abgenommen worden. Ludmila straffte sich und dachte: »Ich muss es einfach versuchen.«

Vorsichtig näherte sie sich dem Lazarett. Dort herrschte reges Treiben. Gerade trat ein Offizier in Naziuniform aus dem Zelt. Ludmila stellte sich vor ihn hin. Sie zitterte, denn sie wusste, sie wäre verloren, wenn etwas schiefginge.

Der Mann blickte die abgemagerte Gestalt überrascht an. Bevor er auch nur einen Ton sagen oder sie wegschicken konnte, stieß sie mit gepresster Stimme hervor: »Sie müssen mir helfen. Bitte schicken Sie mich nicht weg. Ich bin Wolgadeutsche. Ich sollte nach Sibirien deportiert werden, aber ich bin unterwegs geflohen. Ich bin Krankenschwester und kann Ihnen im Lazarett helfen.«

Sie hatte schnell und abgehackt gesprochen. Ihr Herz pochte wild, als sie auf die Antwort des Offiziers wartete.

Der Mann musterte sie kalt. »Papiere?«, fragte er knapp. Ludmila schüttelte den Kopf. »Unsere Papiere haben die russischen Soldaten konfisziert, die uns abtransportiert haben.«

Sie konnte sehen, wie der Uniformierte abwog, ob Ludmila ihnen nützlich sein könnte oder Ärger bringen würde. Er stand wohl sehr unter Druck und sie sah, wie gerade wieder einige Schwerverletzte in das Zelt gebracht wurden. Hier konnte jede helfende Hand gebraucht werden. Er zögerte noch eine Minute, dann sagte er: »Gehen Sie zu Dr. Schmidt und teilen Sie ihm mit, dass sie ab sofort als Krankenschwester hier arbeiten. Wenn er Fragen hat, soll er zu mir kommen.«

Ludmila schlug das Herz vor Aufregung und vor Freude bis zum Hals. »Danke«, erwiderte sie leise, »Sie sollen Ihre Entscheidung nicht bereuen.«

Dann betrat sie das Zelt. Als sie im Innenraum war, konnte sie das Ausmaß des Schreckens erst richtig sehen. Es roch nach Blut, Eiter und Krankheit und überall war das leise Stöhnen der Verwundeten und Schwerverwundeten zu hören. Sie hatte zwar schon einige kranke Menschen in ihrem Leben gesehen, aber das überwältigende Leid dieser Männer ließ sie fast erstarren.

Es gab nur zwei Krankenschwestern und einen Arzt für etwa dreißig Verwundete. Sie sah sich um. Am anderen Ende des Raumes erblickte sie einen erschöpft aussehenden Mann, der wohl Dr. Schmidt sein musste. Sie näherte sich ihm mit vorsichtigen Schritten. Je näher sie kam, desto mehr nahm sie wahr, wie müde der Mann war. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen und sie dachte, dass er wahrscheinlich schon mehr Leid gesehen hatte, als ein Mensch ertragen konnte.

Sie trat zu ihm und sagte: »Ich bin Deutsche und heiße Ludmila Wagner. Ich werde ab sofort als Krankenschwester für Sie arbeiten.«

Sie sah, wie ihm Fragen durch den Kopf schossen, die in dieser Situation aber einfach keinerlei Relevanz mehr hatten. Er nickte und sagte: »Gehen Sie zu Schwester Hildegard, sie soll Ihnen die wichtigsten Dinge zeigen.« Mit diesen Worten wies er auf eine robust und energisch wirkende Schwester, die gerade dabei war, sich um einen Mann mit einer Kopfverletzung zu kümmern, der leise vor sich hin wimmerte.

Die Schwester zeigte ihr, wo die Medikamente und das Verbandsmaterial waren, erklärte ihr in wenigen Worten die Verletzungen der einzelnen Männer und wie sie versorgt werden mussten. Ludmila hörte aufmerksam zu und dachte: »Ich muss mir alles merken und ich darf keinen Fehler machen. Sie dürfen auf keinen Fall merken, dass ich gar keine ausgebildete Krankenschwester bin.«

Sie versuchte sich alle Kenntnisse und Handgriffe, die sie von ihrer Mutter abgeschaut hatte, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, während sie sich die Uniform, die Schwester Hildegard ihr gegeben hatte, anzog.

Dann begann sie langsam mit der Versorgung der Kranken, so wie die Schwester es ihr gesagt hatte. Es ging alles gut und stündlich kamen neue Verwundete im Lazarett an. Am Abend sagte Dr. Schmidt zu ihr: »Gute Arbeit, Schwester Ludmila. Essen Sie etwas und ruhen Sie sich aus.«

Erst in dem Moment bemerkte Ludmila den quälenden Hunger, den sie den ganzen Tag nicht gespürt hatte. Sie zog sich um, wusch sich und ließ sich dann an dem Tisch nieder, an dem bereits der Arzt, die zwei Schwestern und zwei Soldaten Platz genommen hatten.

Der Offizier, der ihr das Leben gerettet hatte, betrat soeben das Zelt und nahm ebenfalls am Tisch Platz. Ludmilas Herz klopfte und sie hoffte, er würde ihr keine Fragen stellen. Aber er schien andere Sorgen zu haben. Schweigend aß er die Suppe und das Brot. Dann stand er wieder auf und verließ mit einem Gute-Nacht-Gruß das Zelt. Sie atmete erleichtert auf.

Auch am nächsten Tag kamen noch mehr Verwundete in das Lazarett. Sie hatten alle Hände voll zu tun. Ludmila tat, was sie konnte, und Dr. Schmidts Blicke verrieten ihr, dass er mit ihrer Arbeit zufrieden war.

In den nächsten Wochen wurde sie zu einer unentbehrlichen Stütze für den Arzt. Manchmal, wenn sie abends nach dem Essen noch ein wenig zusammensaßen, war sie versucht, ihm ihre Geschichte zu erzählen, aber irgendetwas hielt sie immer davon ab. Sie war froh, dass sie überlebt hatte, und sie fühlte eine solch tiefe Dankbarkeit dem Offizier und dem Arzt gegenüber, dass sie über sich selbst hinauswuchs.

Karmische Rose

Подняться наверх