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Sarah – Mai 1973

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Es war ein ungewöhnlich heißer Pfingstsonntag. Sarahs Cousin Stefan war bei ihnen zu Besuch. Er war zwei Jahre jünger als sie. Liselotte, ihre Adoptivmutter, mochte ihn, da er der Sohn ihrer Schwester war und ein bisschen wie ein Ersatzsohn für sie. Sie schenkte ihm viel Aufmerksamkeit.

Heiner, ihr Adoptivvater, mochte ihn nicht, fügte sich aber wie immer den Wünschen seiner Frau. An diesem Tag wollten sie in ein Restaurant zum Spargelessen gehen. Als sie dort ankamen, sahen sie, dass es sehr voll war, und die Kellnerin teilte ihnen mit, dass sie entweder nur Spargelsuppe essen könnten oder ungefähr eine Stunde lang warten müssten, bis es wieder gekochten Spargel geben würde. Schließlich einigten sie sich darauf, noch eine Stunde spazieren zu gehen. Alle hatten Hunger.

Stefan wurde langsam missmutig. Liselotte sagte zu Sarah: »Kümmere dich um deinen Cousin.« Selbst Heiner verbarg seinen Unmut angesichts des Wartens nicht und als sie schließlich an einem Tisch im Lokal saßen, war die Stimmung gespannt.

Sie bestellten das Essen und die Getränke. Liselottes Gesicht war leicht gerötet und ihr Hals fleckig. Als Sarah diese Warnzeichen sah, bemühte sie sich noch mehr, ganz ruhig und brav zu sein. Plötzlich machte Stefan eine unglückliche Bewegung und schüttete dabei seine Limonade um. Ein Teil der Limonade ergoss sich auf Heiners Sonntagshose.

Er, der normalerweise friedlich war, begann zu brüllen. »Du blöder Hund!«, schrie er das Kind an. »Du ungezogener Bengel, du hast meine Hose versaut!« Stefan begann zu weinen. Liselottes Gesicht wurde noch röter. Sie sagte in scharfem Ton: »Halt den Mund, Heiner. Er hat es doch nicht absichtlich getan.«

Sarah merkte, dass die Gäste von den anderen Tischen zu ihnen herüberschauten, und sie fing an, sich schrecklich zu schämen. Indes eskalierte die Situation völlig. Stefan stand heulend vom Tisch auf und Liselotte fuhr sie an: »Lauf deinem Cousin hinterher und tröste ihn.« Sie stand auf und hörte gerade noch, wie ihre Mutter zu ihrem Vater sagte: »Diese Ehe mit dir ist nicht zum Aushalten. Ich werde mich scheiden lassen.«

Sarahs Bauch krampfte sich zusammen, als sie das hörte. Dann rannte sie Stefan hinterher. Er lief immer weiter vor ihr weg, bis er an einen kleinen Fluss kam. Dort machte er Halt, zog sich die Schuhe aus und wollte mit den Füßen ins Wasser. Sie hielt ihn zurück und sagte: »Das dürfen wir nicht. Wir haben doch unsere Sonntagsschuhe an. Und die dürfen wir nicht ausziehen.«

Er lachte sie aus und sagte in aufsässigem Ton: »Ist mir doch egal, was du darfst oder nicht darfst. Ich mache, was ich will. Deine Eltern haben mir gar nichts zu sagen.« Sie wurde langsam wütend auf ihn und dachte: »Meine Mutter wird mich beschuldigen, wenn er etwas Verbotenes tut.« Sie forderte Stefan auf: »Komm jetzt, zieh die Schuhe wieder an. Wir müssen ins Restaurant und essen.«

Er tat so, als ob er sie nicht gehört hatte, und watete mit bloßen Füßen im Wasser umher. Es gefiel ihm sichtlich. Kurz entschlossen zog Sarah auch die Schuhe aus, ging ins Wasser und packte ihren Cousin am Ärmel. »Komm jetzt, wir gehen.«

Aber sie hatte nicht mit seinem Widerstand gerechnet. Er zog seinen Arm so heftig weg, dass er ins Schwanken geriet und dann der Länge nach ins Wasser fiel. Geschockt, aber gleichzeitig unfähig, sein Fallen zu verhindern, dachte sie: »Oh Gott, das wird Schläge geben.«

Sie half ihm, wieder aufzustehen. Er weinte und schlug nach ihr. »Du bist schuld, dass ich ins Wasser gefallen bin!«, schrie er. »Jetzt bin ich nass und kann nicht mehr ins Restaurant.« Er schluchzte, dann schrie er noch mal: »Du bist schuld!«

Sarah schwankte zwischen Wut, Angst und Verzweiflung. Sie hätte ihn am liebsten noch mal ins Wasser geschubst und wäre dann einfach weggelaufen. Aber das konnte sie nicht. Denn ihre Eltern warteten ja in dem Restaurant. Ihre Mutter war bestimmt schon sehr wütend und es war nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sie noch länger auf sich warten lassen würden.

So packte sie Stefan am Arm. »Wir gehen jetzt.« Und tatsächlich ließ er sich widerstrebend von ihr zum Restaurant ziehen. Als sie dieses betraten, war es leerer als zuvor. Es war inzwischen auch schon halb drei. Die meisten Gäste hatten das Mittagessen bereits beendet oder setzten ihren sonntäglichen Schmaus mit Kaffee und Kuchen in einem der zahlreichen Gartenlokale fort. Heiner und Liselotte saßen noch an ihrem Tisch und hatten bereits zu essen begonnen. Zwei unberührte Teller standen daneben. Der Spargel sah bereits recht kalt aus.

Als ihre Mutter die beiden erblickte, fragte sie mit schriller Stimme: »Sarah, was ist mit Stefan passiert?« Bevor diese auch nur ihren Mund öffnen konnte, antwortete ihr Cousin bereits: »Tante Lilo, Sarah hat mich ins Wasser gestoßen.« Liselotte stand auf, kam auf ihre Tochter zu und ohrfeigte sie vor aller Augen. Sarah schlug beschämt die Augen nieder.

Heiner bat: »Lass doch das Kind in Ruhe. Wir wissen doch gar nicht, was wirklich passiert ist.« Liselotte antwortete mit schriller Stimme: »Halt du den Mund, du hast hier gar nichts zu sagen.« Ihr Vater verstummte, Sarah rang mit den Tränen und Liselotte wandte sich liebevoll Stefan zu. »Komm, mein Schatz, setz dich hin und fang an zu essen. Ich habe Gott sei Dank noch trockene Kleidung im Auto. Die hole ich jetzt für dich.«

Sie würdigte Sarah keines Blickes mehr. Heiner sagte: »Komm, setz dich und fang an zu essen. Sonst wird es kalt.« Sarah fuhr sich mit der Hand über die feuchten Augen. Dann setzte sie sich. Liselotte und Stefan waren hinausgegangen. Heiner seufzte und strich seiner Tochter über die Wange. »Mach dir nichts draus, mein Schatz. Du weißt ja, wie deine Mutter ist.«

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Am liebsten würde ich mit dir weggehen, meine Süße. Wie wäre das, nur du und ich? Wir würden ein schönes Geschäft aufmachen und wären einfach glücklich?« Dann aß er weiter.

Sarah fühlte sich unbehaglich. So sehr sie sich auch bemühte, seinen Worten irgendetwas Tröstliches abzugewinnen, es gelang ihr nicht. Dann versuchte sie zu essen, aber sie bekam kaum einen Bissen herunter. Das nagende Hungergefühl kollidierte auf seltsame Art und Weise mit ihrer Angst, ihrer Wut und ihrer Verzweiflung. Ein Teil von ihr wollte essen, der andere Teil hätte sich am liebsten übergeben.

Sie kaute minutenlang an jedem Bissen des kalt gewordenen Spargels. Nach zehn Minuten kamen Liselotte und Stefan wieder zurück. Stefan hatte trockene Kleidung an. Er begann zu essen und sagte nach zwei Bissen jammernd: »Der Spargel ist kalt. Ich mag ihn nicht.« Mit diesen Worten schob er seinen Teller zurück. Sarah hielt die Luft an. Wie würde ihre Mutter reagieren?

Liselotte lächelte ihren Neffen süß an. »Das ist doch kein Problem, Stefan. Wir rufen einfach die Kellnerin und sagen ihr, dass sie den Spargel noch mal aufwärmen soll.« Sarah verspürte einen Stich. Für einen Moment traf sich ihr Blick mit dem ihres Vaters. Sie konnte in seinen Augen lesen, dass er dasselbe dachte wie sie.

Dann wandte er sich an Stefan. »Stell dich nicht so an. Sarah isst ihren Spargel doch auch.« Das hätte er besser nicht gesagt. Sofort veränderte sich Liselottes Gesichtsfarbe. »Heiner, es ist nicht zum Aushalten mit dir. Warum musst du mir immer in den Rücken fallen? Wenn du nicht so schwierig wärst, wären wir glücklich.« Mit diesen Worten warf sie ihre Serviette auf den Tisch, nahm Sarah bei der Hand und sagte: »Sarah, wir gehen.«

Sarah war völlig überrumpelt. Sie hatte gerade drei Bissen Spargel gegessen, ihr war übel, sie fühlte sich beschämt durch die öffentliche Ohrfeige, aber trotzdem war es ausgeschlossen, ihrer Mutter zu widersprechen. Als sie draußen waren, brach Liselotte in Tränen aus.

»Ich halte dieses Leben und diesen Mann nicht mehr aus«, schluchzte sie. »Wir gehen weg – du und ich. Du bist doch mein einziger Schatz.« Mit diesen Worten nahm sie das Mädchen in den Arm.

Sarah fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen. Gerade war sie noch von ihrer Mutter beschimpft und geohrfeigt worden und jetzt war sie ›der einzige Schatz‹. Ihre Angst und Wut wichen einer großen Verwirrung, die in der Frage gipfelte: »Wer bin ich eigentlich?«

Liselotte hatte sich auf eine Bank gesetzt und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sarah setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. Sie überlegte angestrengt, was sie sagen könnte, um ihre Mutter zu trösten. Oder sagte sie besser nichts? Man konnte nie wissen, in welchen Hals sie bestimmte Äußerungen bekam. So beschränkte sie sich darauf, die Hand der Mutter zu halten und sich zu bemühen, das Rumoren in ihrem Bauch zu ignorieren. Sie dachte angestrengt: »Am besten wäre es, unsichtbar zu sein.«

Karmische Rose

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