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Tatjana – Februar 1918

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In Pokrowsk herrschte eisige Kälte an diesem Februartag des Jahres 1918.

Tatjana packte alles zusammen, was in den kleinen Leiterwagen passte. Ihr Mann Dimitrij war damit beschäftigt, die Papiere zu ordnen, die sie mitnehmen mussten. Die drei Töchter Anastasija, Irina und Jekaterina saßen aneinandergekauert in einer Ecke des kleinen Hauses. Anastasija und Irina waren Zwillingsschwestern. Sie waren fünf Jahre alt. Jekaterina war ein Jahr älter.

Die Mädchen hatten große Angst. Tatjana hatte ihnen nur gesagt, dass sie nach Amerika auswandern würden. Was das bedeutete, konnten die Mädchen in diesem Augenblick nicht im Entferntesten ermessen.

Dimitrij und Tatjana waren Wolgadeutsche und lebten auf einem Bauernhof in der Nähe von Pokrowsk. Ihre Vorfahren waren im Jahr 1764 auf den Ruf von Zarin Katharina II aus Deutschland nach Russland gekommen. Seit die Bolschewiken im Oktober 1917 die Macht ergriffen hatten, war die Familie immer größer werdenden Repressalien ausgesetzt, denn die neue Regierung betrachtete die Wolgadeutschen als Feinde.

Tatjanas Familie baute Getreide an und hielt Vieh. Mit ihren Nachbarn, die allesamt Wolgadeutsche waren, hatten sie ein gutes Auskommen. Mit Tränen in den Augen dachte Tatjana, dass es ihr niemals in den Sinn gekommen wäre, sie würden eines Tages einmal ihre Heimat verlassen. Aber nun war es so gekommen. Es hatte in den vergangenen Wochen immer wieder Überfälle auf benachbarte Höfe gegeben und es war zu gefährlich, in Pokrowsk zu bleiben. Sie wollte ihre Töchter in Sicherheit bringen.

Eine befreundete Familie war vor ein paar Wochen nach Amerika ausgewandert und Tatjana schien es in dem Moment das einzige sichere Land auf der Welt zu sein. Dimitrij hustete. Sie schaute zu ihm hinüber. Seine eingefallene Gestalt und das graue Gesicht gefielen ihr ganz und gar nicht und sie dachte: »Hoffentlich wird er nicht krank.«

Als sie fertig gepackt hatte, rief sie ihre Töchter. Dimitrij stand bereits vor dem Haus. Er weinte, versuchte dies aber zu verbergen. Sie nahmen den Zug nach Murmansk, von wo aus ihr Schiff nach Amerika gehen würde. Tatjana hatte all ihre Ersparnisse aufgebraucht, um eine Schiffspassage für die ganze Familie zu erstehen.

Als sie in Murmansk ankamen, sahen sie, dass die Hafenstadt voll war. Offensichtlich waren sie nicht die Einzigen, die die Idee hatten, nach Amerika auszuwandern. Als sie sich in die lange Schlange von Menschen einreihten, die auf das Schiff wollten, bemerkte Tatjana, dass ihr Mann noch schlechter aussah als bei ihrer Abreise. Es dauerte Stunden, bis sie endlich an die Reihe kamen. Ein unfreundlicher Uniformierter kontrollierte ihre Pässe und die Schiffspassagen. Er sah alle Familienmitglieder aufmerksam an.

Sein Blick blieb an Dimitrij haften. »Bist du krank, Mann?«, fragte er. Dieser verschluckte sich und hustete, statt zu antworten. Der Mann sagte: »Du musst erst vom Arzt untersucht werden, vorher lasse ich dich nicht auf das Schiff.«

Tatjana wollte protestieren, aber der Uniformierte schob sie mit einer heftigen Handbewegung zur Seite. Er war schon mit den nachfolgenden Passagieren beschäftigt. In der Nähe sahen sie einen kleinen Verschlag mit einem roten Kreuz. Eine Frau zeigte auf den Verschlag und sagte zu Tatjana: »Da müsst ihr hin. Da ist der Arzt.«

Sie drängten sich durch die Menschenmassen hindurch. Nachdem sie weitere zwanzig Minuten gewartet hatten, standen sie endlich vor dem Arzt. Auch dieser kontrollierte zunächst die Pässe und die Schiffspassagen, dann nahm er Dimitrij mit hinter einen Vorhang. Zu Tatjana sagte er, sie und die Kinder sollten in der Nähe warten.

Die drei Mädchen drängten sich an ihre Mutter. Sie legte beide Arme um ihre Töchter, um ihnen inmitten des ganzen Gewühls ein bisschen Schutz zu geben. Anastasija fragte: »Mama, was macht der Arzt mit Papa?«

Tatjana antwortete: »Er untersucht ihn, damit wir aufs Schiff können.« Als sie ihre Worte hörte, überkam sie plötzlich ein ganz komisches Gefühl. Sie wollte den Gedanken verdrängen, aber es gelang ihr nicht und sie dachte: »Wenn wir überhaupt aufs Schiff kommen.«

Irina sagte: »Mama, ich habe Hunger.«

»Ja, mein Schatz, du bekommst gleich etwas zu essen. Wir müssen jetzt erst noch ein bisschen warten.«

Es dauerte. Sie hörte, wie der Arzt mit ihrem Mann sprach, und obwohl sie die Worte nicht verstehen konnte, gab es etwas an seinem Ton, das ihr nicht gefiel. Nach weiteren fünf Minuten trat Dimitrij aus der Kabine. Sein Gesicht war noch um eine Spur grauer.

Tatjana brach trotz der Kälte der Schweiß aus und ihr Herz fing an zu rasen. Sie schaute ihn an und fragte: »Und, ist alles in Ordnung mit dir?« Er schüttelte langsam den Kopf. Es fiel ihm sichtlich schwer zu reden.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu und packte ihn an den Schultern. »Dimitrij, was ist los? Antworte mir!«

Ihr Mann senkte langsam den Kopf. Diese Geste sagte mehr als tausend Worte. Sie begriff in diesem Moment, dass das Schiff ohne sie nach Amerika fahren würde. Als er nach ein paar Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, den Kopf wieder hob, sagte er tonlos: »Sie lassen mich nicht auf das Schiff. Ich habe Typhus.«

Es kam ihr vor, als habe sie soeben ihr eigenes und das Todesurteil für ihre ganze Familie gehört. Sie ließ ihren Mann wieder los und schüttelte den Kopf, denn sie war nicht bereit, die eben gehörten Worte in ihren Kopf aufzunehmen. Irina näherte sich ihr und sagte: »Mama, fahren wir jetzt doch nicht nach Amerika?«

Am Klang ihrer Stimme hörte Tatjana, dass sie voller Hoffnung war, wieder nach Hause zurückkehren zu können, und dachte: »Wenn sie wüsste, was uns zu Hause erwartet, würde sie aufs Schiff rennen.«

Aber wie sollten ihre Töchter die politische Situation des Landes erfassen können? Es war ein solches Durcheinander von Machtinteressen, Repressalien und düsteren Zukunftsaussichten, dass es auch für sie schwierig war, das alles zu durchschauen.

Sie merkte, dass sie erst einmal aus dem Gewühl herausmusste, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Als sie etwas abseits standen, sagte Dimitrij mühsam gefasst: »Lass uns nach Hause zurückfahren.« Dann hielt er kurz inne, als käme ihm dieser Gedanke gerade in diesem Moment: »Tatjana, wenn du mit den Kindern ausreisen willst, dann geh.«

Als die Töchter seine Worte hörten, schrien sie auf. Jekaterina begann zu weinen. »Nein, ich will nicht nach Amerika, ich will nach Hause zurück!« Auch Irina und Anastasija hatten angefangen zu weinen. Tatjana begriff, dass sie auf dem schnellsten Wege nach Hause zurück mussten. Sie gab sich einen Ruck und dachte: »Es wird sich alles finden. Vielleicht können wir auswandern, wenn Dimitrij wieder gesund ist, und vielleicht lassen uns die Bolschewiki bis dahin in Ruhe.« Aber noch während sie das dachte, merkte sie, dass sie ihre eigenen Gedanken nicht glauben konnte.

Die Familie packte ihre Habseligkeiten wieder zusammen. Glücklicherweise schafften sie es, die Schiffspassagen zu einem guten Preis an eine Familie zu verkaufen, die ebenfalls nach Amerika wollte. Als Tatjana das Geld in den Händen hielt, dachte sie, dass sie davon auf jeden Fall eine Weile leben könnten.

Sie mussten ein paar Stunden am Bahnhof warten, konnten dann aber einen Zug nehmen, der sie noch am gleichen Tag wieder in ihre Heimat bringen würde. Der Zug war fast leer.

»Kein Wunder«, dachte Tatjana, »wir sind in der falschen Richtung unterwegs.«

In der Nacht kamen sie in ihrem Haus an. Die Kinder stürmten sofort hinein. Tatjana konnte ihre Freude und Erleichterung spüren. Sie selbst hatte ganz andere Gefühle – Angst, Schwere und noch etwas, das sie nicht benennen konnte.

In den nächsten Wochen war sie damit beschäftigt, Dimitrij zu pflegen und die Kinder von ihm fernzuhalten, um die Ansteckungsgefahr zu vermindern. Trotz ihrer Bemühungen konnte sie nicht verhindern, dass die Krankheit in seinem Körper immer mehr wütete. Drei Wochen nach ihrer Rückkehr starb er.

Die Mädchen waren untröstlich. Sie hatten ihren Vater sehr geliebt. Er war ein guter, treuer und fleißiger Mann gewesen. Tatjana verdrängte ihre Trauer. Sie hatte genug damit zu tun, das Überleben ihrer kleinen Familie zu sichern. Sie musste nun noch mehr als bisher arbeiten, um den Hof zu erhalten und ihre Töchter vor Hunger zu bewahren.

Fünf Jahre später heiratete sie Ivan, der ihr Nachbar war und seine Frau und seine Kinder in der Hungersnot des Jahres 1920 verloren hatte. Im Jahr 1927 gebar sie ihm eine Tochter, Ludmila. Die Familie lebte relativ gut, verglichen mit anderen Wolgadeutschen, die von der Roten Armee mit starken Repressalien belegt wurden und große Teile ihrer Ernte an diese abgeben mussten. Wie durch ein Wunder blieb Tatjanas Familie davon verschont.

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